Читать книгу Im Bann der Mondpilger - A.B. Söhn - Страница 10
ОглавлениеUnerwarteter Besuch
Über Nora tanzten tausende kleiner Farbsprenkel. Sie wollte sich aufrichten, aber eine bleierne Schwere hielt sie zurück. In ihrem Kopf pochte es. Sie ächzte gequält. Nur zu gut kannte sie dieses Gefühl und dachte direkt an ihre Migräne Tabletten, die in der obersten Schublade des Nachtschränkchens lagen.
Wo bin ich überhaupt?!, fragte sie sich in einem kurzen Moment der Orientierungslosigkeit, als Fragmente des gestrigen Abends vor ihrem geistigen Auge aufblitzten. Sie blinzelte in das grelle Tageslicht und stellte erleichtert fest, dass sie zu Hause in ihrem Bett war. Sie wälzte sich zur Seite, zog die Schublade heraus und griff routiniert nach der innen liegenden Schachtel. Schnell spülte sie die Tablette mit dem Wasser runter, das neben ihr in einem Glas stand. Sie fühlte sich zwar wie gerädert, doch in der vertrauten Umgebung in dem alten Fachwerkhaus mit seinen kleinen Zimmern und verwinkelten Fluren aufzuwachen, gab ihr etwas der verlorenen Sicherheit zurück. Sie dachte an Esther und wie dankbar sie ihrer Freundin war, als diese sie ohne zu zögern nach Hause gefahren hatte. So war es zwar das kürzeste Dorffest aller Zeiten, aber es war auch das erste ohne ihre Oma gewesen.
Nora war schwindelig. Der Kreislauf spielte an diesem Morgen nicht mit oder um genauer zu sein an diesem Mittag, denn Nora stellte mit einem Blick auf den Wecker fest, dass es bereits zwölf Uhr war. Halb so wild. Schließlich war Sonntag und wenn es ihr gleich besser ging, würde sie sich einen gemütlichen Tag gönnen. Vielleicht würde sie nach dem Frühstück ein Bad nehmen und sich dann mit einem Buch aufs Sofa setzen. Oder sie würde einen ausgedehnten Spaziergang machen. Sie konnte auch irgendwo hinfahren, um einen Kaffee zu trinken. Vielleicht fand sie jemanden, der mitkam?
Nora räkelte sich und streckte die Beine. Diese Nacht war sie erstaunlicherweise von den Albträumen verschont geblieben. Die Schlagläden ihres Zimmers standen wie üblich offen. Das Fenster zeigte Richtung Westen, wo sich ein kleiner Garten befand. Nora mochte es nicht in der Dunkelheit zu erwachen. Die sandfarbenen Gardinen hingen eher aus dekorativen Zwecken an der Stange. Nicht unweit des Fensters stand ein großer Kastanienbaum, der zusätzlichen Sichtschutz bot.
Plötzlich drang ein lautes Poltern von unten aus dem Haus.
Nora erstarrte mitten in der Bewegung. Angespannt lauschte sie, hörte aber zunächst nichts anderes als ihren eigenen Herzschlag. Einbrecher?!, schoss es ihr in den Kopf. Aber mitten am Tag?!
Dann folgten ein leises Scheppern sowie der dumpfe Klang von Schritten, die ihr die Gewissheit verschafften nicht alleine zu sein. Sie wagte es kaum sich zu regen. Was, wenn dieser Jörn ihr gefolgt und bei ihr eingebrochen war? Beruhige dich! Er wird wohl kaum bei dir einbrechen und bis zum Morgen warten, um dir dann einen Rache-Tritt verpassen zu können!, redete sie in Gedanken auf sich ein.
Die einzigen, die ebenfalls einen Schlüssel zu diesem Haus besaßen, waren ihre Eltern. Aber die waren über das Wochenende verreist.
Vorsichtig und mit flachem Atem richtete sie sich auf. Doch als Nora einen Fuß unter der Decke hervor schob, stieß sie gegen einen harten Gegenstand, der sich geräuschvoll in Bewegung setzte und gefolgt von einem hohlen Poltern, das in einem mehrstimmigen Tönen gipfelte, zu Boden ging.
Mist, die Gitarre!
Ein Moment absoluter Stille folgte.
»Nora?!«, rief eine Männerstimme. »Bist du wach?!«
Irritiert versuchte sie die Stimme einzuordnen. »Äh ja… Tino?!«
Der Klang der Schritte kam jetzt eindeutig von der Treppe. Kurz darauf wurde mit einem beherzten Schwung die Schlafzimmertür geöffnet.
Nora riss reflexartig die Bettdecke bis unter das Kinn. Verdutzt starrte sie Tino entgegen, der mit einem breiten Grinsen, unrasiert und mit offenen Haaren, sonst trug er sie in einem Pferdeschwanz, vor ihr stand.
»Guten Morgen! Unglaublich, hast du gar nicht mitbekommen, dass ich hier geblieben bin oder warum bist du so schreckhaft?«
»Nein, wie sollte ich auch? Ich war todmüde und bin direkt schlafen gegangen. Ich dachte, Esther hat dich nach Hause gebracht?! Übrigens bin ich auch nicht gewohnt, dass einfach so Männer in mein Schlafzimmer platzen!«
»Hat Vor- und Nachteile«, entgegnete er immer noch grinsend. »Spaß beiseite! Esther meinte, dass irgend so ein Jörn hinter dir her ist und dass es besser wäre, wenn ich die Nacht über bliebe um auf dich achtzugeben. Sie musste gleich wieder fahren.«
»Aha. Und wo hast du überhaupt geschlafen?«, fragte Nora, entrüstet über sein plumpes Verhalten.
»Unten auf der Couch«, er wies mit dem Daumen hinter sich. »Esther meinte ja, ich sollte nicht mehr Auto fahren, als sie mich mitnahm. Zugegeben, ein bisschen angetrunken war ich wirklich. Jetzt steht mein Auto noch oben am Schotterplatz.«
Nora hielt sich weiterhin unter der Bettdecke versteckt.
Tino runzelte die Stirn, seine Augen ruhten forschend auf ihrem Gesicht.
Ich muss furchtbar aussehen, dachte sie.
»Ich denke, es ist besser, wenn ich mich jetzt davonmache. Ich muss ja noch mein Auto holen… Jedenfalls wollte ich noch sagen, wie leid es mit tut, dass ich gestern nicht zur Stelle war, als diese Typen dich belästigt haben.«
»Ich bin es ja selbst schuld.«
Tino zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Ich hab‘ dir Frühstück gemacht. Steht unten auf dem Tisch. Ich bin jetzt weg. Bis demnächst mal.«
»Oh… okay. Bis demnächst. Äh, Tino?«, rief sie ihm hinterher, als er schon durch die Tür verschwunden war.
Er kam zurück und spähte durch den Türschlitz. »Ja?«
»Danke für alles. Auch für das Frühstück.«
»Gerne doch«, sagte er und lächelte, dann zog er die Tür hinter sich zu.
Kurz darauf fiel unten die Haustür ins Schloss.
Doktor Konrad Krey saß seit einer geschlagenen Stunde in seinem Auto und observierte das Haus in dem ehemals Marianne Theiss lebte. Vielleicht war sein Plan nicht der klügste gewesen?
Er scheiterte allein daran, dass, gerade als er auf der obersten Stufe vor Mariannes Tür gestanden hatte, im Begriff die Klingel zu betätigen, zu seiner linken Seite durch das schmale Küchenfenster ein munteres Pfeifen drang. Als dann eine eindeutig männliche Stimme dazu ansetzte, ein Lied zu schmettern, beschloss er sich so leise und unauffällig wie möglich zu seinem Wagen zurückzuziehen.
Nur gut, dass dieser eine Standheizung besaß. Wie hatte er auch denken können, dass ein junges Mädchen, welches alleine lebte, an einem Sonntagmorgen alleine vorzufinden war?
Alter Esel, dachte er und schüttelte über sich selbst den Kopf.
Viel Zeit blieb ihm jedenfalls nicht mehr, stellte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest. Er war gleich bei Freunden zum Kaffeetrinken eingeladen. Dazu musste er ein gutes Stück über die Autobahn fahren. Fast war in ihm der Entschluss gereift sein Vorhaben zu vertagen, als er einen jungen Mann das Haus verlassen sah. Ohne Notiz von ihm oder seinem Mercedes zu nehmen, schlenderte er davon.
»Na gut.« Dr. Krey ächzte, öffnete die Autotür und mühte seine steifen Knochen aus dem Sitz in die Aufrechte. Sein Vorhaben war ihm selbst nicht sehr angenehm, aber er sah keine andere Chance, die Enkelin seiner früheren Freundin allein zu sprechen.
Nora wollte gerade unter die Dusche steigen, als es läutete. Sie überlegte kurz es einfach zu ignorieren, warf sich aber schließlich ihren Bademantel über und eilte die Treppen hinunter zum Flur. Tino musste etwas vergessen haben. Nora sah dunkle Schemen durch die kleinen Fensterchen in der Haustür und nahm an, esseien Tinos dunkle Haare. Sie öffnete.
»Guten Morgen, Frau Fentur! Entschuldigen Sie bitte die Störung«, begann Dr. Krey in seiner Nervosität überschwänglich.
Nora schreckte zurück, kurz davor die Tür wieder zuzuschlagen. Dann meinte sie den Besucher zu erkennen. Sie stockte.
»Herr Dr. Krey?« Verwundert starrte sie ihn an.
Der alte Antiquar trug einen langen beigefarbenen Mantel, den Kragen hochgeschlagen bis zum Kinn. Auf dem Kopf trug er einen stilvollen Hut mit breiter Krempe. Doktor Krey war ihr als ein guter Freund der Großmutter bekannt, trotzdem war sie ihm nur zwei bis dreimal begegnet. Das letzte Mal an dem Tag der Beerdigung. Auch er wirkte unangenehm berührt und tippte von einem Bein auf das andere.
»Ich wollte Sie beim besten Willen nicht stören«, sagte er mit einem scheuen Blick auf ihren Bademantel. »Es ist nur so«, fuhr er leise fort, »ich habe das dringende Gefühl, als ob Sie meine Hilfe benötigen würden.«
Irritiert blinzelte Nora ihm entgegen. »Ich kann im Moment nicht ganz folgen, aber vielleicht möchten sie ja auf einen Kaffee rein kommen?«
»Äh ja, wir sollten in der Tat hier draußen nicht zu viele Worte verlieren«, murmelte er.
»Bitte, dann kommen Sie doch rein! Das Wohnzimmer kennen Sie, oder? Es ist noch genauso wie… früher.« Sie nahm ihm in höflicher Manier den Mantel ab und hängte ihn auf einen Bügel. »Sie können dort auf dem Sofa Platz nehmen und einen Moment warten. Ich ziehe mir nur eben etwas… anderes an.«
»Danke, sehr nett.« Dr. Krey nickte ihr zu und ging diskret und zielsicher Richtung Wohnzimmer.
Nachdem Nora sich rasch eine Jeans und ihren weiten grünen Lieblingspullover angezogen, die Haare gebürstet und etwas Wimperntusche aufgetragen hatte, fand sie Doktor Krey an dem gedeckten Frühstückstisch sitzend vor.
»Oh, entschuldigen Sie. Das hatte ich schon ganz vergessen! Das war ein Freund von mir, er hat den Tisch gedeckt. Normalerweise esse ich ja drüben in der Küche. Also, wenn Sie möchten,können sie sich aber gerne bedienen!«
»Danke nein, sehr nett. Ich habe bereits zu Mittag gegessen«, winkte er ab.
»Stimmt, ist ja eigentlich schon Mittagszeit«, lächelte Nora unsicher. »Gut, dann mache ich Ihnen einen Tee!« Ohne eine Antwort abzuwarten brauste sie in die kleine Küche. Nie zuvor war sie mit dem alten Antiquar alleine gewesen. Seine Anwesenheit verstörte sie.
Als Nora ihnen beiden schließlich eine Tasse heißen Tees eingeschenkt hatte und Dr. Krey klimpernd etwas Zucker einrührte, räusperte er sich.
»Frau Fentur, ich denke wir müssen reden. Ich komme nämlich aus einem sehr speziellen Anlass. Es ist nur nicht einfach zu erklären und ich habe schon länger überlegt, wie ich es Ihnen sagen soll. Es wäre mir eigentlich lieber, mit Ihnen einen Termin in meinem Antiquariat auszumachen, um über die… Details zu sprechen.«
»Oh. Aber wir können auch hier reden. Ich wohne alleine.«
»Ja sicher, sicher. Aber ich bin mir nicht ganz im Klaren, wer hier… noch alles mithört«, flüsterte er und beugte sich dabei zu ihr vor.
»Niemand Herr Krey, wirklich. Ich wohne alleine hier.« Versicherte Nora ihm nochmals.
»Das ist mir bekannt. Es tut mir sehr leid mit Marianne… Ich muss sie nach etwas wirklich Wichtigem fragen. Sie lebten zuvor meines Wissens einige Zeit gemeinsam mit ihrer Großmutter in diesem Haus?«
»Ja, es war ungefähr ein halbes Jahr. Bis zu ihrem plötzlichen Tod.« Nora senkte den Blick und nestelte an den Fransen der Tischdecke.
Dr. Krey sah sie an, wirkte dabei aber abwesend. »Oh ja, Sie haben eine innige Beziehung zu ihrer Großmutter gepflegt, stimmt´s? Sie hat mir oft von Ihnen erzählt«
»Ja.« Nora wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie konnte beim besten Willen nicht den Sinn seiner Worte verstehen.
»Wissen Sie, Ihre Großmutter Marianne und ich, waren viele Jahre befreundet. Wir kannten uns seit der Jugend, haben uns allerdings erst viele, viele Jahre später wiedergesehen.« Seine Mundwinkel hoben sich und er schüttelte den Kopf. «Man wird so schnell alt. Aber unsere Wege sollten sich noch einmal kreuzen. Sie hat mir vieles anvertraut. Ich denke, sie brauchte jemanden, an den sie sich wenden konnte nach dem Tod deines Großvaters. Verstehen Sie mich nicht falsch! Natürlich ist die Familie auch sehr wichtig. Aber manchmal braucht man einfach jemanden, der nicht im gleichen Fahrwasser unterwegs ist. Daher weiß ich unter anderem, dass deine Großmutter ein Tagebuch führte.«
Nora sah ihn fragend an. Natürlich wusste sie auch von dem Tagebuch.
»Ja, das hat sie. Aber ich finde nicht, dass es irgendwen etwas angeht, was sie dort hinein geschrieben hat. Das war wohl auch nicht für Menschen gedacht, die in einem anderen Bach paddeln.«
»Nora, das muss Ihnen jetzt wirklich sehr merkwürdig erscheinen. Lassen Sie mich erklären. Ihre Großmutter Marianne, vermachte mir eben dieses Büchlein in einem Testament, welches sie schrieb. Warten Sie.« Etwas umständlich griff er in die Tasche seines Jacketts, holte ein mehrfach gefaltetes Blatt Papier hervor, entfaltete es vorsichtig und hielt es ihr dann mit zittriger Hand vor.
Nora zögerte. Zweifelsohne erkannte sie den feinen, etwas nach rechts ausbrechenden Schriftzug ihrer Großmutter. »Verfasst im Juni diesen Jahres«, sagte sie mit Blick auf das Datum. »Kurz vor ihrem Tod. Ja, das hat meine Oma geschrieben. Aber Herr Krey, der Notar hat bereits das Testament verlesen und Sie haben darin keine Erwähnung gefunden, geschweige denn das Tagebuch.«
»Das ist richtig. Dieser Brief ist geheim, genauso wie das Tagebuch es eigentlich ist! Darum konnte es auch im offiziellen Testament keine Erwähnung finden. Ich sagte ja bereits, dass es etwas schwierig ist zu erklären, aber ich werde Ihnen im Gegenzug alles, was Sie wissen müssen mitteilen! Und wenn Sie wissen, wo sich dieses Buch befindet, bitte ich Sie inständig, es mir zu überlassen! Nur so viel vorweg: Es ist nichts Gutes, was sich zwischen seinen Seiten verbirgt und es wäre besser, es bliebe geschlossen.«
Nora schluckte, in den wässrigen grauen Augen des alten Herrn, lag ein Ausdruck von höchster Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit. Sie nippte an ihrem Tee und stellte ihn sogleich wieder ab. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Oma etwas Schlimmes geschrieben hat und kann Ihnen deswegen nicht ganz folgen. Aber ich erkenne Omas Schrift. Die kann so schnell keiner kopieren. Es stimmt, ich weiß wo sich das Buch befindet. Aber sagen Sie mir bitte erst, was los ist. Warum meinten Sie an der Tür, ich bräuchte Ihre Hilfe?«
»Das hat tatsächlich unter anderem mit dem Buch zu tun. Ich hoffe, Sie haben nicht darin gelesen?«
Nora ging nicht direkt darauf ein. »Ich habe Oma manchmal mit dem Tagebuch gesehen. Sie schlug es zwar direkt zu, wenn sie jemanden kommen sah, aber ich habe einmal mitbekommen, wie sie es in eine Schublade in diesem Eckschrank da drüben legte. Genau da habe ich es dann auch gefunden. Ich habe es heraus genommen und…« Nora spürte wie sich ihr Gesicht rötete. Das passierte allzu leicht.
Der Antiquar saß jetzt kerzengerade auf seinem Stuhl. »Haben Sie darin gelesen?«, wollte er wieder wissen.
»Nach den ersten zwei Einträgen nicht mehr«, stotterte Nora. »Ich bekam ein schlechtes Gewissen.«
Konrad seufzte »Was genau stand dort?«
»Ich weiß nicht, es war wie eine Art Geschichte oder Phantasiereise, was Oma da geschrieben hat. Ich fand es aber trotzdem zu persönlich.«
»Ist Ihnen denn irgendetwas an sich aufgefallen in der letzten Zeit?«
»Aufgefallen, bei mir meinen Sie?«
Er nickte.
»Eigentlich nicht. Alles normal. Ich… schlafe nur sehr schlecht. Das ist vielleicht ungewöhnlich, weil ich sonst schlafe wie ein Stein.«
»Dann sind wir vielleicht schon zu spät.« Dr. Krey sackte wieder in sich zusammen.
»Was meinen Sie?«
»Frau Fentur, bitte geben Sie mir das Tagebuch. Ich muss jetzt in die Stadt, sonst komme ich zu spät.«
»Sie meinten doch, dass Sie gerne nochmal mit mir in Ihrem Antiquariat reden würden? Wenn es Ihnen morgen passt, komme ich am Nachmittag gegen vier vorbei und bringe das Buch mit.«
Dr. Krey überlegte kurz, dann nickte er resigniert. »Nun gut, einverstanden. Aber das ganze läuft unter aller größter Geheimhaltung.« Er senkte die Stimme, »Es mag wirklich sein, dass wir hier nicht sicher sind.«
»Aber, ich wohne doch hier?«
»Ich muss jetzt wirklich aufbrechen, vielen Dank nochmals für den Tee. Machen Sie sich vorerst keine Sorgen.«
Dieser Satz beunruhigte Nora umso mehr.
Dr. Krey war aufgestanden und zur Tür gehastet, als er sich unvermittelt noch einmal zu ihr umdrehte und ein paar Schritte auf sie zukam, bis er dicht vor ihr stand.
»Eines noch, das hätte ich fast vergessen«, wisperte er. »Wenn Sie zufällig in dem Nachlass Ihrer Oma auf ein Amulett stoßen sollten: Flinten Kupfer, vorne Silber mit Gravuren die ringsherum um einen roten Vollmond und einen weißen Halbmond stehen, die sich in der Mitte befinden, dann fassen Sie es besser gar nicht erst an! Es besitzt einen unermesslichen Wert und kann leicht… beschädigt werden. Wenn Sie es also zufällig in die Finger bekommen, so bringen Sie es morgen Nachmittag, eingewickelt in etwas Stoff mit! Montags habe ich ohnehin nur bis sechzehn Uhr geöffnet. Das heißt, Ihr Besuch nach Ladenschluss ist sehr passend!«
»Okay.« Nora nickte mechanisch und begleitete ihn auf den Flur.
»Auf Wiedersehen, Fräulein Nora.«
»Auf Wiedersehen, Dr. Krey.« Sie schüttelte ihm die Hand.
Als die Tür endlich hinter ihm ins Schloss gefallen war, fühlte Nora sich unwirklich. Prüfend kniff sie in ihre Wange. In was bitte, bin ich da hinein geraten?
Stimmte es, was der alte Doktor ihr auf so kryptische Art und Weise erzählt hatte oder waren das am Ende pure Phantasien eines alten Mannes der am Rande zur Demenz stand? Aber nein, Dr. Krey machte eigentlich einen sehr wachen, gut orientierten Eindruck.
Noras Pulsschlag erhöhte sich, als sie an das von ihm beschriebene Amulett dachte. Natürlich kannte sie es. Sie hatte es nicht nur berührt, sondern ganze Nächte lang um den Hals getragen! So robust wie es war, hatte sie nicht den Eindruck, dass man es wirklich so leicht beschädigen konnte.
Wo ist es eigentlich?!
Nora fing an panisch in allen Jacken und Taschen zu kramen, die auf dem Flur hingen, bis ihr wieder einfiel, dass sie es am Vorabend in eine Schublade der Küche gelegt hatte.
In der Küche! Oh nein, Tino war dort!
Eilig rannte sie, um zu überprüfen ob das Amulett noch an Ort und Stelle war. Zu ihrer Erleichterung fand sie es auf Anhieb.
Damals, am Tag nach der Beerdigung ihrer Oma, war Nora auf den Speicher gestiegen, der für sie vieles an Erinnerungen bereithielt. Sie hatte dort ein Versteck, in das sie sich als Kind manchmal zurückzog. Verborgen in einem Seitenschiff war es. Dort fand sie eine verstaubte Schatulle, die ihr unbekannt schien. Sie hob den Deckel ab und ein sonderbares Amulett funkelte ihr entgegen. Es war kein schicker Modeschmuck. Vergleichsweise schwer und alles andere als dezent, konnte man es nicht sehr gut zu irgendetwas kombinieren. Nora hatte es auch nie an ihrer Oma gesehen, die ohnehin wenig Schmuck besaß. Sie nahm es mit runter in ihr Zimmer, ließ es dort aber lange Zeit unberührt in der Schatulle. Nur manchmal nahm sie es heraus, wendete es in ihren Händen oder legte es sich um den Hals, um sich damit im Spiegel zu betrachten. Eines Abends legte sie sich die feine Kette, an der es hing, wieder um den Hals und nahm sie auch vor dem Schlafengehen nicht ab. Sie stellte fest, wie nah sie sich ihrer Oma dann fühlte.
Nora schüttelte den Kopf. Unter keinen Umständen konnte sie es abgeben! Andererseits wäre es vielleicht möglich, mehr über dieses Amulett zu erfahren, wenn sie es einfach zum morgigen Termin mitnehmen würde. Letztlich konnte Dr. Krey es ihr wohl schlecht entreißen. Ein Dieb war er sicher nicht. Außerdem stand von dem Amulett nichts in diesem ominösen Testament.
Nora ließ sich auf das Sofa plumpsen und sah auf das Frühstücksgedeck. Tino hatte das bunt getupfte Geschirr gewählt und Nora, als ob er es wusste, die große Lieblingstasse hingestellt. Schwindelig hielt sie sich den knurrenden Magen. Jetzt brauchte sie erst mal ein vernünftiges Frühstück und eine heiße Dusche, sonst konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Als Tino vor zwei Stunden Noras Haus verlassen hatte, war ihm nicht der silberne Mercedes entgangen, der nur einige Meter entfernt vom Grundstück stand. Er war ihm deswegen aufgefallen, weil in dieser dörflichen Wohngegend höchstens Besucher an der Straße parkten. Anwohner parkten auf dem eigenen Grundstück. Freilich konnte es ein einfacher Besucher sein. Aber er fand es etwas merkwürdig, dass jemand regungslos in dem Auto saß und während er vorüber ging, konzentriert den Blick abwandte. Auch wenn er sich selbst dabei höchst albern vorkam, gab Tino dem Fremden vor, sich nicht weiter für ihn zu interessieren. Dennoch hielt er es für nötig, den seltsamen Mann im Auge zu behalten.
Ihm formte sich der Gedanke, dass Esthers Auftrag auf Nora zu achten, nicht ganz unschuldig an seinem übertriebenen Misstrauen war. Esther hatte ihn förmlich als Bodyguard abgestellt. Der Rolle konnte er sich nicht so schnell entledigen.
Esther hat meine kriminologischen Gene geweckt, dachte er amüsiert.
Eher um sich selbst von diesem Irrsinn zu befreien, beschloss Tino hinter der nächsten Ecke stehenzubleiben, um abzuwarten, was geschah. Geschickt verbarg er sich in einer auswuchernden Hecke. Als er kurz davor war, nach einiger Zeit seinen Posten aufzugeben, stieg ein alter Herr mit Melone aus dem Wagen. Gespannt beobachtete Tino, wie der Mann zielstrebig dem gepflasterten Pfad zu Noras Haus folgte und seinen langen dünnen Finger auf die Klingel setzte. Tino ärgerte sich, denn was nun geschah, war von seinem Platz aus nicht zu sehen. Kurzentschlossen rannte er in gebückter Haltung und möglichst geräuschlos zurück. Hinter einen Busch gekauert, lugte er mit klopfendem Herzen um die Ecke. Nora schien den Mann zu kennen. Sie nannte ihn bei seinem Namen und bat ihn herein. So richtig verstehen konnte er den Namen jedoch nicht. Ray, vielleicht? Tino schlug sich vor die Stirn. Wie dumm konnte er eigentlich sein? Scham überkam ihn. War es nicht völlig normal, dass Nora hin und wieder Besuch bekam? Die Beerdigung ihrer Oma lag noch nicht so lange zurück, dass nicht ab und zu Leute vorbei kamen, um zu kondolieren oder sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sobald Tino hörte, wie die Tür zuschlug und die beiden im Haus verschwanden, richtete er sich auf und verließ zügig sein Versteck.
Er wusste doch, wie wenig Alkohol er vertrug! Tino ärgerte sich über seine Unvernunft.
Eine Flasche Bier reicht aus, um meine Sinne zu vernebeln!
Sicher, der Besucher verhielt sich etwas merkwürdig, aber eventuell war er nur besonders diskret, weil er vermutete, dass Tino Noras Freund war?