Читать книгу Im Bann der Mondpilger - A.B. Söhn - Страница 9
ОглавлениеDie Lehre der Mondpilger
Es gab zwei Arten von Schatten, soviel wusste Esther.
Bisher hatte sie allerdings erst eine davon kennengelernt. Die Gruppe, der sie in den vergangenen Wochen zugeteilt worden war, wurde als die der Waldgänger bezeichnet. Bei ihnen ging sie seit geraumer Zeit in die praktische Lehre. Esther hatte gehört, es sei schwieriger in der Stadt zu jagen. Nicht nur weil dort viele Menschen lebten. Vereinzelt konnten Schatten der zweiten Art auch auf dem Land angetroffen werden und anders herum. Nur lange nicht in derselben konzentrierten Ballung. Sie war also in Begleitung durch die nächtlichen Wälder gestreift und äußerst dankbar dafür, denn es gab genug zu lernen. Auch diese Nacht galt den Schatten der ersten Art.
Erst vor einer Stunde hatte sie ihre Freundin nach Hause gebracht. Der heutige Dienst stand schon länger fest und sie freute sich sogar darauf. Jeder jagte die Schatten nach einem etwas anderen System.
Diesmal durfte Esther das von Ferdi kennenlernen, was sie in eine innere Nervosität versetzte. Wieso bin ich in seiner Gegenwart immer so angespannt?, ärgerte sie sich, Hängt es damit zusammen, dass er unter den Mondpilgern ein gewisses Ansehen genießt?
Sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe, auf der sie bäuchlings hinter einem Strauch lagen und warteten. Vor ihnen befand sich ein flach abfallendes Gelände. Alles war ruhig und wirkte friedlich. Esther beobachtete, wie ein Eichhörnchen über den Waldboden hüpfte. Sie war wirklich froh, dass es unter dem Schild warm war.
»Esther«, Ferdi brach die lange Zeit seines Schweigens, »was weißt du schon über die Schatten?«
Jetzt muss ich zeigen, was ich kann. »Dass sie aus der Substanz bestehen, aus der Lügen gemacht sind. Die Art von Lügen, die zum Beispiel aus Prahlerei oder Feigheit gewählt werden. Sie sind flüchtig, aber jedes Mal wenn sie sich von einem Menschen losreißen, nehmen sie einen Teil seiner Seelenkraft mit und nähren sich davon, bis sie ihren Weg in die Tier und Pflanzenwelt gefunden haben.«
»Richtig. Und was genau treiben sie dort?«
»Sie suchen sich Tiere, dringen in sie ein und bringen sie und ihr natürliches energetisches Niveau, genauer die Natur, aus dem Gleichgewicht. Sie machen krank. Zum Beispiel begünstigen sie, dass der Borkenkäfer überhand nimmt.«
»Exakt.« Ferdi richtete sich abrupt auf. »Schau gut her, was jetzt mit dem süßen Eichhörnchen da passiert!«
Das Eichhörnchen, welches ahnungslos vor sich hin wuselte und auf der Suche nach Nahrung emsig ein paar Blätter in die Luft schleuderte, blieb wie hypnotisiert in dem Lichtkegel des weißen Halbmondes hocken, der ohne dass Esther es frühzeitig bemerkte zu leuchten begann. Das Licht war für alle Wesen sichtbar. Ferdi trug das Amulett offen über seiner Wachsjacke, wie alle Mondpilger, wenn sie im Schutz der Nacht ihrer Aufgabe nachgingen. Esther folgte gebannt jeder seiner Bewegungen.
Mit einem Mal schlug das Eichhörnchen einen großen Haken. Esther sah, wie der Schatten des Tieres sich spaltete und ein weiterer Schatten zum Vorschein kam. Rapide gewann er an Größe und Dichtigkeit, bis er in die Höhe fuhr und sich aufrichtete wie eine verzerrte Menschengestalt. Als er grimmig in ihre Richtung sah, ging sie intuitiv in Deckung. Sobald ein Schatten durch das Licht des weißen Mondes enttarnt worden war, konnte er nicht mehr weglaufen, anders als vor gewöhnlichem Licht, konnte er diesem nicht entfliehen.
Ferdi zögerte nicht.
Es war schon vorgekommen, dass ein Schatten versuchte sich zu rächen, indem er angriff. Wenn ein Schatten in den Bann des Lichtes geriet, fiel zur gleichen Zeit der Schutzschild, welcher ihn somit auch nicht mehr von dem Pilger fernhalten konnte. Ließ man einen zu langen Zeitraum verstreichen, bis das notwendige Mantra gesprochen wurde, konnte der Schatten, der sich ja letztlich aus Energie nährte, in das Amulett eindringen und ihm alle Energie nehmen. Das würde ihn übermächtig und den Pilger handlungsunfähig machen.
Aber Ferdinand begann bereits zu sprechen.
»Ein Kreis, der hell gefangen nimmt,
was sonst dem Licht der Zeit entrinnt
Auch Kraft der Lügen mehr nicht taugt
als ein Schatten, der auf sein Dunkel traut.
Wohl hier, dies Sein in Nichts zerbricht,
denn jeder Sieg steigt auf mit Licht
der Seele, frei von aller Gier
und findet: Wahrheit lebt in mir!«
Esther lauschte Ferdis Stimme. Sie empfand etwas, das mit Ehrfurcht gleichzusetzen war.
Die geheimen Worte, welche Ferdinand sprach, musste ein jeder Mondpilger problemlos beherrschen. Doch diese Worte waren nicht die einzigen und Esther stand noch viel Fleißarbeit bevor. Dazu war ihre Aufmerksamkeit gefragt, denn keines der Worte durfte niedergeschrieben werden.
Der Schatten neigte sich gequält, fing an zu stöhnen und bog sich unwillig vor und zurück. Die zuvor noch menschlich anmutenden Glieder lösten sich in wabernde Grautöne auf, die schlagartig auseinander fuhren wie Zellen eines Gewebes, die ihre Gemeinsamkeit verloren.
Esther überfiel ein Schaudern.
Dann, mit einem Mal, war alles vorbei. Stille kehrte wieder ein. Lediglich der Ruf eines Käuzchens hallte durch die Dunkelheit.
»Das ist normal«, sagte Ferdi, der seine Schülerin einen Augenblick von der Seite musterte.
Esther war beschämt, dass man ihr den Schrecken bei der Auflösung nach wie vor anmerken konnte. Auch nach etlichen Malen war es für sie noch nichts Alltägliches geworden, wenn ein Schatten illuminiert wurde.
»Hat dir noch keiner gesagt, dass die Schatten sich in das auflösen, woraus sie entstanden sind? Wer feinfühlig ist, kann es wahrnehmen, an sich selber fühlen. Aber wir können lernen es unbeachtet durch uns hindurchfließen zu lassen, damit es nicht erneut an Macht gewinnt.«
Esther meinte aus seinen Worten zu hören, dass er ebenfalls feinfühlig war. »Mir wurde schon gesagt, dass sie das Motiv aus dem sie gemacht sind, wiedergeben. Ich habe eben zu… der Furcht, auch so etwas wie Stolz gefühlt. Um ehrlich zu sein, finde ich es nicht so einfach zu verdauen.«
»Du lernst es immer besser«, versicherte Ferdi, »und einen gewissen Schutz vor dem, was die Biester zurück lassen, hast du sowieso. Allein durch die Tugenden. So lange du sie pflegst zumindest. Aber jetzt ist erst mal Feierabend.« Ferdi bückte sich, um seine Tasche aufzuheben. Dann richtete er sich wieder auf und schlug sich dabei die langen Haare aus der Stirn.
»Okay, ich habe nichts dagegen.« Esther verließ ihre Deckung, um Ferdi zu folgen, der mit großen Schritten vorausging.
»Was war da eigentlich los bei dir heute, nein, gestern Abend?«
»Auf dem Fest meinst du? Ach, ich sollte meine Umgebung im Blick behalten.«
»Das ist mir bekannt, deswegen frage ich.«
»Ich kann jetzt schlecht lügen als Pilgerin, oder?«
Ferdi warf ihr einen verschmitzten Blick über die Schulter zu. »Das ist korrekt.«
»Dann ist das aber nicht gerade eine faire Verhörmethode!«
Ferdi zog eine Augenbraue in die Flöhe. »Wir sollten wohl offen sein können. Schließlich gehöre ich quasi zum SEK.«
»Na gut. Ich denke meine Freundin Nora ist die gesuchte Querschlägerin. Aaron muss es gewusst haben. Aber so ganz verstehe ich das nicht. Wieso hat er es nicht gleich gesagt?«
Ferdi verzog den Mund, sagte aber nichts.
Auch eine Möglichkeit sich das Lügen zu sparen, dachte Esther, Die Mondpilger mögen ehrlich sein, wenn sie etwas sagen, aber sie verschweigen auch gerne gewisse Dinge.
Ferdi duckte sich hinter einem entwurzelten Baum und gab ihr zu verstehen, es ihm gleich zu tun. Er tippte an sein rechtes Ohr und legte dann den Zeigefinger an die Lippen. Ganz in der Nähe hatte er etwas vernommen, gab jedoch kurz darauf Entwarnung, als sich über ihnen eine Ringeltaube zu erkennen gab. Der weiße Stein blieb matt.
»Weißt du, es passieren gerade Dinge, die eigentlich nicht sein dürften. Aaron erfüllt in dieser Situation seinen Job mit der notwendigen Besonnenheit. Er spricht erst dann, wenn er genügend Klarheit gewonnen hat. Wenn es deine Freundin ist, ist sie jedenfalls ziemlich umtriebig.«
»Du redest als wäre sie ebenso ein Jagdobjekt wie die Schatten!«
»So doof das klingt, aber das ist sie bei Leibe gewesen! Wenn wir sie nicht gefunden hätten, würde sie bald beim Psychiater sitzen!« Ferdi blieb unvermittelt stehen, so dass Esther fast in seinen Rücken rannte. Er drehte sich zu ihr um. Scheu begegnete sie seinen Augen von denen sie wusste, dass sie bei Tageslicht grün waren wie die Nadeln der Fichten. So nah hatte sie noch nie vor ihm gestanden. Eine senkrechte Falte bildete sich zwischen Ferdis Brauen. Peinlich berührt senkte Esther den Blick, als sie merkte, dass sie wohl einen Moment zu lange in seine Augen gesehen hatte.
»Jedenfalls… allein schon wenn deine Freundin, wie auch immer auffällt, zum Beispiel indem sie ihr neu erworbenes Schmuckstück zur Schau stellt und du rein zufällig in der Nähe bist und das schicke Teil auch noch zu leuchten beginnt, sind wir erledigt!«
»Ja… also..« Esther wusste nicht wirklich etwas darauf zu erwidern und rieb sich nachdenklich über die Nase, was Ferdi als ihre Bewusstwerdung der Gefahr verstand.
»Eben! Und irgendwann wird sie, falls sie keiner hindert, in ihren immer bewussteren Schlafwanderungen als Spiegelbild ihrer selbst durch die Gegend streifen und im schlechtesten Fall nicht mehr zu ihrem Selbst zurückfinden. Auch tagsüber nicht! Sie wird eine gespaltene Persönlichkeit sein. Ja, du guckst so erschrocken, aber das ist der gute Grund, warum wir nur bei wachem Bewusstsein wandern und das Amulett nicht mit ins Bett genommen werden soll!«
Esther schluckte. Dass Nora in Schwierigkeiten steckte, hatte sie natürlich begriffen. Es gab aber noch so viel, in der neuen Welt der Mondpilger, was sie vorher nie in ihre gewöhnlichen Überlegungen mit einbezogen hätte. Das ganze Denken musste sich ändern. Ferdinand, der schon wer weiß wie lange ein Mondpilger war, lag das Verständnis für diese Welt im Blut. Natürlich begriff er die Zusammenhänge besser als sie und ihr war in dieser Nacht nicht entgangen, mit welcher Selbstverständlichkeit und Konzentration er agierte. Sie entdeckte an ihm wirkliche Leidenschaft für das was er tat. Kein Schatten konnte ihm entgehen. Seine Stimme besaß eine unmittelbare Wirkkraft, wie Esther sie auf ihren Streifzügen mit anderen Mitgliedern noch nicht erlebt hatte. Manch ein Pilger musste sich sogar mit ihr zusammen kurzerhand von den Schatten wegbewegen, um den Schild wieder schließen zu können. Esther fühlte sich in seiner Gegenwart wie ein Trampel und war fast froh, dass bereits die Morgendämmerung über sie hereinbrach, und sie jetzt dem Ausgangspunkt ihres Waldganges näher kamen. Ihre Füße waren bereits kalt in den leichten Turnschuhen, obwohl Ferdi den Schild erst fünfzehn Minuten zuvor gelöst hatte.
Der profane Wunsch einen heißen Tee zu trinken, stieg in ihr auf.
Es würde gewiss seine Zeit brauchen, um diese Nachtaktionen in das alltägliche Leben einzuordnen. Zwischen den Jagdeinsätzen war meist viel Zeit zum Staunen, denn unter Zachélie sah alles etwas anders aus. Die heutige Wanderung war magisch gewesen. Die Sterne, wie sie in einer endlos weiten und hohen Kuppel über ihnen standen, strahlten in lauter wundersamen Farben. Auch konnte man Töne hören, die einer unergründlichen Melodie folgten und einen sofort mit sich rissen. Umso schwieriger als Neuling, dass man bei der eigentlichen Aufgabe blieb.Esther sehnte die Mondenfinsternis im kommenden Monat herbei. Es hieß, dass dies ein ganz besonderes Ereignis sei. Sie nannten es Feuermond. Der gesamte Himmel würde dann, aus der Sicht eines Pilgers, rot wie der Rubinstein in ihrem Amulett leuchten.
Ein völlig neues Leben hat sich mir eröffnet! Die Wahrheit über das Leben sieht so anders aus als gedacht und dennoch kann ich niemandem davon erzählen, dachte Esther bedrückt.
Ferdi beobachtete die junge Frau, die beinahe entrückt wirkte. Sie schien ihn kaum noch zu bemerken, stattdessen folgte sie stumm seinen Schritten. Er konnte sich denken, was in ihr vorging. Er selbst erinnerte sich gut an seine ersten Wanderungen. Ferdi beschloss ihr diesen besonderen Moment, in dem man sich ganz und gar eins mit dem Universum fühlte, nicht zu nehmen.
Aus Mariannes Tagebuch I
Ich bin letzte Nacht, als ich im Wald unterwegs war, gestürzt. Eine kurze Zeit war ich sogar ohne Bewusstsein. Als ich aufwachte, fühlte sich mein Kopf wie ein riesiger pulsierender Schwamm an. Vorsichtig habe ich versucht mich aufzurichten, mich überhaupt erst zu erinnern, wo meine Gliedmaßen sind. Aber je mehr ich das versuchte, umso mehr stellte sich ein stechender Schmerz in meinem Rücken ein.
Eigentlich war ich auf der Suche nach dem Treffpunkt der Mondpilger. Aber aus irgendeinem Grund, habe ich mich hoffnungslos verirrt. Das ist mir noch nie passiert! Ich bin mir sicher, dass der rote Mond geleuchtet hat! Jemand der Pilger muss demnach in der Nähe gewesen sein. Mitten in der Nacht stapfte ich also in dicken Stiefeln und Mantel durch den Wald. Dummerweise habe ich vergessen, die Batterien meiner Taschenlampe zu wechseln! Der erste Schnee dieses Winters war gerade gefallen. Es war also unter diesen Umständen eigentlich nicht verwunderlich, dass ich ausgerutscht bin!
Als ich mich nach dem Sturz wieder einigermaßen sortiert habe, hörte ich in der Ferne ein furchtbares Jaulen. Erst dachte ich, es sei ein Wolf. Auch das wäre schon ungewöhnlich gewesen. Doch es klang noch anders, irgendwie unnatürlich und schrill. Dieser jammervolle Klang schnitt tief in meine Seele. Ich war der absoluten Überzeugung, dass es nie wieder Tag werden konnte, so furchtbar fühlte es sich an. Entsetzt stellte ich fest, dass ein zweiter Ruf wesentlich lauter war! Ich suchte die nahe Umgebung nach einem Versteck ab. Am liebsten wollte ich auf der Stelle unsichtbar werden oder mich in den Boden hineingraben! Ein paar Meter entfernt entdeckte ich einen Ilex. Ich kam auf keine bessere Idee, als mich hinter ihn zu kauern und mich so klein wie möglich zu machen. Das weiß gepuderte Laub unter mir war eiskalt und fest. Doch nichts gegen die Kälte, die ich dann zu spüren bekam.Den Geräuschen nach zu urteilen waren es mehrere dieser Kreaturen. Sie kamen nicht direkt an mir vorbei. Ich hörte nur ihr Röcheln und Wimmern. Ich bemerkte, dass mein Amulett kalt wie ein Eisklotz auf meiner Haut klebte. Gesehen habe ich die Wesen nicht, aber ich habe sie „Finsterwarte“ genannt. Der Name, den ich wählte, ist eine Ahnung davon, was uns mit ihnen erwarten wird. Denn ich bin mir sicher, es wird nicht bei dieser einen Begegnung bleiben! Als dieser Schrecken an mir vorübergezogen war, rappelte ich mich auf und fand zum Glück, mitgenommen wie ich war, irgendwie aus dem Waldstück heraus.
Erst im Morgengrauen war ich zurück zu Hause. Das Treffen der Pilger verpasste ich natürlich. Ich möchte noch heute den Rat meines treuen Freundes Konrad suchen. Auch muss Aaron umgehend informiert werden! Noch bin ich aber zu wackelig auf den Beinen, um mich auf den Weg zu machen.
Dank der Platzwunde am Kopf habe ich auch noch meine Tochter anschweigen müssen. Schließlich gestand ich, auf dem ersten Schnee ausgerutscht zu sein, was ja keine Lüge ist. Jetzt macht sie sich allerdings Sorgen, dass ich ständig und überall fallen könnte! Bald wird Nora hier einziehen. Das wird sie beruhigen und ich freue mich schon sehr darauf!