Читать книгу Im Bann der Mondpilger - A.B. Söhn - Страница 8
ОглавлениеDas Dorffest
Die Dunkelheit war längst hereingebrochen.
Nora stocherte mit dem Stock, von dem sie zuvor das halbgare Stockbrot abgezogen hatte, um es mit Marmelade zu füllen, in dem sandigen Boden zu ihren Füßen. Ein paar Meter vor ihr brannte ein tüchtiges Feuer. Die Flammen schlugen züngelnd zum Sternenhimmel auf, bis sie sich, kleinen quirligen Wesen gleichend, losrissen und im Nichts verschwanden.
Zum Glück war der Regen, der am frühen Nachmittag über sie hinweggezogen war, längst wieder in Vergessenheit geraten. Die bunte Schar der Besucher verteilte sich zahlreich über das ganze Gelände. Die Bänke waren voll besetzt und auch um die Stehtische standen eng an eng die munter plaudernden Leute. Etliche hockten, wie Nora selbst, auf Baumstämmen, die in gebührendem Abstand rund um das Feuer verteilt lagen. Vorletztes Jahr war ein betrunkener Mann in die Flammen hinein gestolpert. Bis auf mittelschwere Verbrennungen an Oberarm und Schulter war ihm nichts geschehen. Allerdings gab es seit diesem Vorfall eine mit Weste gekennzeichnete Aufsicht von drei Personen, die mit ihrer Aufmerksamkeit für mehr Sicherheit sorgte.
Wie jedes Jahr wurde geredet, gelacht, gesungen, getrunken und gegessen. Einige tanzten zu der Musik, die von einem DJ arrangiert wurde.
Immerhin ist er besser als der DJ vom letzten Jahr, dachte Nora, konnte sich aber dennoch wenig begeistern.
Sie beobachtete die Dörfler mit einer gewissen inneren Distanz. Insbesondere als sie sah, wie einige schon jetzt, um neun Uhr, nur noch gestützt oder in Schlangenlinien über den Platz laufen konnten. Vor dem blauen Toilettenwagen bildete sich eine Menschenkette. Mindestens einer hatte es nicht geschafft seine Übelkeit unter Kontrolle zu halten, bis er dran war. Pappbecher, Teller und Flaschen landeten zu Noras Verärgerung wie jedes Jahr auf dem Boden.
Einige Helfer waren emsig damit beschäftigt, den Müll und die Pfandflaschen aufzusammeln und in die dafür vorgesehenen Eimer zu sortieren.
Warum tue ich mir das jedes Jahr aufs Neue an?. Nora seufzte.
Es blieb ihr noch etwas Zeit bis sie selbst an der Reihe war, um die Helfer abzulösen. Sie stützte sich nach hinten ab und ließ die Weite des sternenklaren Nachthimmels auf sich wirken. Von vorne, im Gesicht und an den Beinen, war sie zwar schön gewärmt, aber im Rücken wurde es langsam kühl.
Nora wickelte sich in eine Decke, die sie in weiser Vorausschau von zu Hause mitgebracht hatte.
Plötzlich wackelte der Baumstamm unter ihr und Tino, in der einen Hand einen Pappteller in der anderen eine Flasche Bier, ließ sich neben ihr nieder. »Na junge Frau, ganz allein?«
Nora sah knapp zu ihm herüber und verzog argwöhnisch den Mund. »Da muss ich dich enttäuschen!«, sie deutete auf einen Stand unweit des Feuers.
Dicht aneinander gedrängt in einem Anhängerwagen, stand Esther zwischen zwei weiteren gut beschäftigten Waffelbäckern. Der Verkauf lief gut, sie boten den Pommes vom Nachbarstand eine harte Konkurrenz.
Esther hob wie auf ein Signal ihren Blick und winkte den Beiden zu.
»Ist sie eigentlich so was wie deine Aufpasserin?«, wollte Tino wissen.
»Natürlich nicht! Wieso?!«
»Ich weiß nicht… Ich habe einfach beobachtet, dass sie ständig in deiner Nähe ist.«
»Du beobachtest uns also?«
Tino wurde einfach nicht klug aus Nora. »Sei doch nicht gleich wieder so misstrauisch! Ich hatte jedenfalls nicht vor, euch zu beobachten. Es ist mir einfach aufgefallen. Basta.«
Nora überlegte ob sie aufstehen und gehen sollte. Sie bekam den Eindruck, dass Tino sie zunehmend bedrängte und wusste nicht, was seine Intention war. »Ich muss jetzt helfen.«
»Aha. Also genauer gesagt, du bist genervt? Wer ist diese Esther eigentlich?«, fragte Tino und nickte Richtung Waffelbude. »Deine ältere Schwester?«
»Nein. Sehen wir uns nur im Entferntesten ähnlich?! Und wie lange kennen wir beide uns eigentlich?! Du kennst meine Schwester doch!«
Nora fiel es immer schwerer, einen netten Tonfall anzuschlagen.
Tino schwieg lieber und trank einen Schluck von seinem Bier.
»Ich muss jetzt echt gehen.«
»Ja, schon gut. Geh nur!«, sagte er und biss in seine Bratwurst, dabei blieb etwas Senf in seinem Mundwinkel hängen.
»Möchtest du auch mal probieren?«, wagte er einen neuen Annäherungsversuch, als er sah dass Nora zögerte.
»Nein danke, Tino«, lehnte Nora entschieden ab, als er ihr das Brötchen unter die Nase hielt. »Ich bin Vegetarierin, wie du inzwischen wissen solltest und ich werde jetzt meinen Dienst an treten!«
Die Länge der Konversation wurde ihr langsam unangenehm. Sie mochte es nicht, zuviel von sich preisgeben zu müssen. Esther war einer der wenigen Menschen, mit denen sie ungezwungen längere Gespräche führte.
»Kann es sein, dass du etwas angespannt bist?«, fragte Tino.
Nora sprang auf. »Kann es sein, dass du etwas betrunken bist?!«
Entschlossen, endgültig die Kehre zu machen, drehte sie sich um und stieß prompt mit jemandem zusammen.
»Ohaaa! Störe ich den dramatisch romantischen Augenblick am Lagerfeuer?«
Nora sah sich langen pinken Fingernägeln gegenüber, die das Mädchen vor den Mund hielt, als sei ihr etwas Unanständiges entfahren. Alles in Nora verkrampfte sich. Ihr Blick wich wie automatisiert aus, wanderte zu den Spitzen der Ballerinas, bis sie sich zwang, entlang der schlanken Beine, zurück bis hoch zu Viviens puppengleichem Gesicht zu sehen, dass von dichten kastanienbraunen Locken umrahmt war. Im Schein der Flammen ähnelten sie einer Löwenmähne.
»Ach, die Nora ist das ja!«, setzte sie kichernd hinterher, als habe sie Nora gerade erst erkannt.
»Hallo Vivien.«
»Hi! Ich hoffe, ich störe nicht?!«, wiederholte sie mit einem bedeutungsvollen Blick Richtung Tino, der sich immer noch seinem Essen widmete. »Ich bin mit ein paar echt netten Leuten hier, die dich bestimmt gerne mal kennenlernen würden!«
Nora hatte kein Interesse der fragwürdigen Einladung nachzukommen. Die Leute die Vivi als nett bezeichnete, konnten alles sein vom Schwerstverbrecher bis zum Wohltäter. Vivi hatte sie die gesamte Schulzeit über gestichelt und war einer der Gründe dafür, warum Nora ab der siebten Klasse morgens unter Bauchschmerzen litt. Manchmal hatte sie es deshalb nicht pünktlich zum Schulbus geschafft. Der gut gemeinte Fencheltee ihrer Mutter zeigte nicht immer die erhoffte Wirkung. Andererseits hasste Nora es, immer in der Opferrrolle zu sein. Wie also konnte sie sich besser unbeeindruckt zeigen und beweisen, dass sie längst über den Dingen der Vergangenheit stand, als dadurch, dass sie ihrem Angebot nachkam? Tino sollte ruhig merken, dass sie kein einsamer Sonderling war und es auch noch andere Menschen in ihrem Leben gab.
»Na gut, vielleicht kurz«, hörte sie sich sagen, »dann muss ich aber arbeiten.«
»Nice!«, quietschte Vivien und wirbelte herum.
»Wo seid ihr denn?«
»Da hinten sind wir. Komm!« Vollkommen ungeniert packte sie einen Zipfel von Noras Decke und zog sie mit sich.
Als sie zu der Gruppe stießen, machte gerade jemand einen Scherz. Allgemeines Gelächter schlug ihnen entgegen.
»Leute! Ich bitte um einen Moment der Aufmerksamkeit! Das ist Nora.« Vivis Bewegungen erinnerten an die einer Stewardess. »Sie hat unsere Klasse nach der zehnten ohne Abschluss verlassen.«
»Na ja, so kann man das auch nicht sagen. Ich habe die Fachoberschulreife… Nett euch kennen zu lernen.«
Nora schluckte und sah in die Runde. Drei junge Männer und zwei Mädchen standen beieinander in einem Kreis und beäugten sie abschätzend. Eines der Mädchen kannte sie. Sie war ebenfalls in ihrer ehemaligen Klasse gewesen. Die anderen waren ihr unbekannt.
»Wie gefällt es euch denn hier?«, fragte sie tapfer, nachdem niemand etwas sagte.
»Besser und besser«, frotzelte einer der Jungs. Unter seiner offenen Jacke trug er einen schwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein Totenkopf abgebildet war. »Fesche Klamotte übrigens!« Er deutete auf die Decke, die Nora noch immer um die Schultern gewickelt trug.
Wieder stimmten die anderen in das Lachen ein.
»Was machst du denn jetzt eigentlich so?«, fragte Vivi über den Lärm hinweg.
»Ich jobbe in einem Bio-Laden. Also, ich bin noch etwas in der Orientierungsphase… Und ihr so?«
»Na, wir machen Abi!«, rief Juliane, wirbelte mit den Armen herum und pustete dabei ihren Zigarettenqualm in Noras Richtung.
Nora schaffte es geradeso ein Husten zu unterdrücken. »Schön.«
»Also eine Karriere wirst du jedenfalls nicht machen, mit abgebrochener Schule. Andererseits muss ja auch einer die unteren Posten besetzen«, bemerkte einer der Jungs und zuckte lachend mit den Schultern.
»Ich weiß nicht,« Vivien rümpfte die Nase, »ich weiß nicht, wie man sich auf diesem Unbildungsstand ausruhen kann. Du kapierst doch gar nicht, was um dich herum geschieht.«
Einer der Jungs pfiff anerkennend und schlang seine Arme um ihre Taille. »Da wächst ein hübsches Pflänzchen namens Elite heran.«
Vivien wandte ihren Kopf zu ihm und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Ich bin eben schon immer ein schlaues Mädchen gewesen! Man muss wissen, wo man hingehört«, sagte sie spitz und taxierte Nora mit offener Häme.
»Ich muss jetzt… Mein Dienst beginnt.« Nora machte Anstalten zu gehen.
»Entspann dich mal, der Bioladen hat geschlossen!«, scherzte der mit dem Kapuzenpulli.
Das Johlen der anderen machte deutlich, dass sie hinter ihm und seinem Spruch standen.
Nora beschloss, sich einfach kommentarlos abzuwenden, als es laut knallte und der andere Junge mit wildem Geschrei einen fliegenden Korken kommentierte. Die Freunde klatschten in die Hände, als der Sekt aus der Flasche spritzte.
»Jörn, du musst unbedingt auch unserem Gast einschenken!«, kreischte Vivien und ihre Locken wippten bei jedem Hüpfer auf und ab.
»Oh nein, ich trinke nicht«, murmelte Nora. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
»Sei keine Memme, Mädel! Trink was, genieß' das Leben! Wenn selbst wir auf ein paar Gehirnzellen verzichten können, kannst du es erst recht, oder?!«
»Der Jörn ist so krass«, lachte das fremde Mädchen. Sie war wie Nora etwas kleiner und trug langes offenes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte.
»Ich trinke nicht«, wiederholte Nora etwas lauter, konnte aber nicht das Zittern in ihrer Stimme unterdrücken.
Wo war Tino eigentlich abgeblieben, warum hatte er sie ausgerechnet jetzt nicht beschattet? Vom Feuer aus konnte er sie jedenfalls nicht sehen, sie befanden sich zu weit abseits. Die Dunkelheit hatte sie verschluckt.
Esther wischte ihre Hände an der Schürze ab. Sie hatte ein mulmiges Gefühl. Die Versammlung am frühen Nachmittag, hatte ihr einiges Kopfzerbrechen bereitet. Aaron van Norden hatte sie nicht umsonst darum gebeten, ein Auge auf ihr Umfeld zu haben. Monika, ein Mitglied der Pilger, war ebenfalls vor Ort und feierte. Er hätte seine Wahl also genauso gut auf sie fallen lassen können, zumal sie mehr Erfahrung besaß als Mondpilgerin. Außerdem dachte sie an Ferdis Worte. Wenn es üblich war, das Amulett innerhalb der Familie weiterzugeben, wären entweder Nora oder deren Mutter oder sonst jemand an der Reihe gewesen, aber doch nicht sie. Auf einmal gab es, entgegen der Annahme aller, mehr als nur neunundvierzig Amulette. Sie trug die Nummer siebenunddreißig. Aber das spielte keine Rolle. Ihr ging der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass Nora als Mariannes Enkelin in die Geschehnisse verstrickt war. Ferdis Beschreibung passte auf sie. Zudem war ihr ja bekannt, wie schlecht ihre Freundin in der letzten Zeit schlief.Letzten Endes war Esther sich fast schon sicher, dass Nora dieses Mädchen sein musste: Die Querschlägerin.
Esther überkam eine Gänsehaut. Jetzt war Nora auch noch aus ihrem Sichtfeld verschwunden! Den ganzen Abend war es Esther gelungen, ihre Freundin im Blick zu behalten, doch kaum hatte sie sich abgewandt, um Kasse zu machen, war sie im nächsten Moment nicht mehr da. Nur Tino hing noch, den Kopf auf den Schoß gestützt, an dem Feuerplatz. Esther war sich nicht ganz sicher, ob er betrunken war oder einfach nur müde.
»Na?! Wenn ich dich so sehe, wird es wohl Zeit, dass ich dich ablöse!«
»Mia! Ja, du kommst in der Tat sehr gelegen, ich brauche Mal eine Pause. Soll ich dir hier noch irgendwas erklären?«, fragte sie die engagierte Frau mit dem blonden Bob.
»Nein, nein. Alles gut!«, wehrte sie mit beschwichtigender Geste ab.
»Na, dann viel Spaß hoffentlich!« Esther warf ihre Schürze über einen Haken. Sie wollte sich beeilen, denn sie hatte ein ungutes Gefühl.
Auf dem Platz wandte Esther sich suchend in alle Richtungen. Einige Teile des Platzes waren
nicht zu überblicken, da sie sich in der Dunkelheit verloren. Inzwischen waren LED- Armbänder verteilt worden. Die Leute fanden die kreativsten Einfälle, sich damit zu schmücken. Aber nirgends sah sie ihre Freundin. Schiere Verzweiflung packte sie. Wieso frage ich nicht einfach Mal den Tino, ob er etwas weiß?
»Hey, Tino!«, sie rüttelte unsanft an seiner Schulter, »Wo ist Nora?«
»Hä?«
»Ob du weißt, wo Nora ist?!«
»Ach, die Aufpasserin!« , stellte er verschmitzt fest. »Ich habe keine Ahnung, wo sie ist! Ich bin eingeschlafen, wie du siehst.«
»Hat sie dir denn gar nichts gesagt? Tino, bitte konzentriere dich mal! Ich mache mir wirklich Sorgen!«
»Sie hat nichts gesagt, aber hier war so eine Zicke mit Locken. Die hat sie irgendwohin mitgenommen«, er machte eine vage Handbewegung in der Luft.
Esther atmete innerlich auf. Das hieß ja zumindest, sie war nicht alleine.
»Wieso denn Zicke?«
»Ich fand die direkt unsympathisch. Wundert mich, dass Nora mitgegangen ist. Vermutlich, um mir irgendetwas zu demonstrieren… Ach jetzt weiß ich wieder!«, rief er nach einem Moment des Überlegens. »Die könnten da hinten irgendwo hinter dieser Bude verschwunden sein!«
Esther kniff die Augen zusammen. Hinter einem Stand befanden sich die blauen Toilettenwagen.
»Kann ich beim Suchen helfen?«
»Nein danke«, wimmelte Esther ihn ab, da sie nicht wusste, in was für Umständen sich Nora befand.
Ohne Zögern hastete sie los und kollidierte fast mit einem Biergläser balancierenden Mann, der sie sogleich für sich in Beschlag nehmen wollte. Esther befreite sich von ihm und seinem üblen Mundgeruch. Dann wurde sie auf ein paar spielende Kinder aufmerksam, die ihre bunten LED- Bänder in die Luft warfen und versuchten sie wieder aufzufangen. Eines der Armbänder landete dabei auf dem Boden. Irgendetwas Zusammengeknülltes lag dort. Esther war nicht sicher, ob sie es richtig sah, und lief darauf zu. Es war tatsächlich Noras Decke. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wieso hätte Nora ihre Decke einfach hier hinwerfen sollen?!
Das ist gar nicht ihre Art, mit persönlichen Dingen umzugehen!
Sie schnappte nach Luft und griff eines der Kinder an der Schulter, das daraufhin verschreckt zur Seite sprang.
»Entschuldige, aber ich muss wissen, woher ihr die Decke habt?!«
»Die lag schon hier«, antwortete der Junge unsicher.
»So ein Mist! Wo kann sie nur sein?!«
»Hey! Was willst du von meinem Bruder?!«, fragte eine scharfe Stimme hinter ihr.
Esther bemerkte jetzt zwei Mädchen, die abseits standen und sie beobachtet haben mussten. Die eine hatte langes glattes, die andere auffallend lockiges Haar. »Sagt dir der Name Nora etwas? Bist du eventuell das Mädchen, mit dem sie mitgegangen ist?«, stellte sie eine direkte Gegenfrage, statt zu antworten.
»Jepp! Zumindest wenn du das Mondgesicht mit Sommersprossen meinst. Aber die ist eben wie eine Irre davongelaufen, nachdem sie Jörn einen üblen Tritt verpasst hat! Voll verrückt die Alte!«
»Besser die kommt ihm nicht mehr unter die Augen«, bestätigte die andere nickend.
Esther ging nicht weiter darauf ein. «In welche Richtung ist sie denn gelaufen?«
Vivi streckte das Kinn vor. »Da, in Richtung Wald.«
Klar, ich Idiotin! Esther kamen Aarons Worte, über die Verbundenheit zu einem Ort, wieder in den Sinn.
Ohne einen weiteren Kommentar wandte sie sich ab und bahnte sich zielstrebig einen Weg durch das Gedränge, welches Richtung Bühne immer dichter wurde. Nach dem DJ spielte jetzt eine Liveband, die gar nicht übel war. Bald gelangte sie in den unbeleuchteten Teil des Platzes, um nach weiteren hundert Metern an den Waldrand zu stoßen, der sich wie ein riesiger gähnender Schlund vor ihr auftat.
Esther keuchte, dann ging sie hinein. Abseits des Dorfplatzes war es kalt und die Zweige der Bäume ragten schwarz, wie die Krallen riesiger Ungeheuer über sie hinaus. Immer wieder blieb sie stehen, um in die Nacht zu lauschen. Die lauten Stimmen und die Klänge der Musik mischten sich ineinander, bis sie nur noch ein ferner Hall waren. Esther wusste nicht, wie sie bei dieser Finsternis, zwischen einem derart dichten Baumbestand ihre Freundin finden sollte. Ihre Handytaschenlampe stellte nur eine geringe Hilfe dar.
»Nora?«, flüsterte sie. Dann nahm sie sich zusammen und rief. »Nora, wo bist du?! Ich bin es, Esther!«
Ferdi hatte von einer kleinen Lichtung gesprochen. Vielleicht fand sie ihre Freundin dort? Esther stolperte immer tiefer in den Wald. Längst war sie sich nicht mehr sicher, ob sie den Rückweg finden würde. Der dichte Bestand verschluckte sie und hielt alle Klänge von ihr fern, die zuvor ein Wegweiser hatten sein können.
»Nooraaa!«, rief sie diesmal so laut sie nur konnte. Etwas in ihrer Nähe setzte sich in Bewegung und sprang über brechende Zweige hinweg. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr. Als ihr kurz darauf klar wurde, dass es nur ein harmloses Reh war, beruhigte sie sich. Reiß dich zusammen! Es ist alles wie immer, nur dunkel!
Trotzdem hielt sie ein plötzliches weiteres Rascheln in Atem. Eigentlich musste das Reh sich schon weiter von ihr entfernt haben. Andererseits war selten ein Reh allein unterwegs. Esther wagte es nicht, sich auch nur um einen Millimeter zu bewegen.
»Esther? Ich bin hier oben«, wisperte eine feine Stimme.
Esther fuhr zusammen. Sie sah hoch und drehte sich dabei ein paarmal im Kreis. Zum einen wurde ihr deutlich, dass sie sich tatsächlich am Rande einer kleinen Lichtung befand, zum anderen fiel ihr ein Stein vom Herzen, als sie Noras Gesicht im Schein ihres Handylichtes über sich erkannte.
»Nora, dem Himmel sei Dank! Weißt du eigentlich, wie unheimlich du gerade aussiehst?! Komm da runter!«
Nora kicherte trotz all der Umstände, in denen sie sich befand.
»Moment.«
»Und bitte ohne dir irgendwas zu brechen, klar?«
Sobald sie in Reichweite war, streckte Esther ihr die Hände entgegen, aber Nora machte einen gekonnten Satz und ließ sich den letzten Meter fallen.
»Mensch Nora, was ist denn passiert?!«
»Das ist mir ein bisschen peinlich… Ich bin weggelaufen, weil mich die totale Panik gepackt hat. So ein Jörn, ein Freund von Vivien, hat mich festgehalten und versucht mir Sekt einzuflößen. Ich habe mich mit einem Tritt aus dem Kick-Boxen Training befreit. Dann bin ich davon gelaufen.«
Esther verspürte einen tiefen Groll gegenüber diesen selbstgefälligen, überschminkten Mädchen. »Was sind das überhaupt für Leute? Ach, besser ich fahre dich jetzt nach Hause und du erzählst mir alles unterwegs.«
Nora nickte stumm.
»Aber erst mal müssen wir hier herausfinden«, sagte Esther mit einem Stirn kräuseln. In ihren Augen sah ringsumher alles gleich aus.
»Das ist gar kein Problem, ich finde den Weg. In der letzten Zeit bin ich oft hier im Wald gewesen. Ich brauchte meine Ruhe, weißt du.«
Dann stimmt es also, dachte Esther bei sich, deswegen war sie auch in ihrer Schlafwanderung hier. Nora ist der Querschläger!
Als Nora sie sicher aus dem Wald gelotst hatte, ließ Esther sie in ihr Auto steigen, um nicht zu riskieren, dass dieser Jörn oder seine Freunde sie entdeckten. Dann meldete sie sich und Nora bei dem Helfer-Team ab und gabelte Tino auf, da sie wusste, dass er mit dem Auto da war und befürchtete, er könnte zu viel getrunken haben um zu fahren.