Читать книгу Im Bann der Mondpilger - A.B. Söhn - Страница 11
ОглавлениеTrügerische Welt
Nora sah durch das Schaufenster zur gegenüberliegenden Straßenseite. Sie war heute nicht ganz bei sich. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie gedankenversunken vor sich hinstarrte. Das Schlimmste war, dass sie schon zweimal nicht mitbekam, wie ein Kunde den Laden betrat. Am Morgen war sie wieder schweißgebadet aufgewacht. Der gestrige Besuch, warf tausende von Fragen auf, auf welche sie zunächst keine Antwort fand. Und dann wieder diese Albträume!
Nora griff nach einem Eimer, den sie mit Wasser befüllt hatte, und ging damit vor den Laden, um in großen Bögen über das Fensterglas zu wischen. Eine Taube hatte sich erlaubt direkt von der Regenrinne aus ihr Geschäft zu erledigen. Die Reinigungskraft würde erst am späten Abend kommen.
»Nora könntest du gleich mal im Lager nachsehen, wie der Warenbestand ist?«, rief Tessa von drinnen. Sie war wenig älter als Nora und hatte erst vor kurzem erfolgreich ihre Ausbildung beendet. Nora verstand sich ganz gut mit ihr, auch wenn sie sich nie außerhalb der Arbeitszeit trafen.
»Mache ich gleich, wenn ich das hier weg habe«, antwortete sie.
Die gelbe Aufschrift des Bioladens blitzte in der Sonne. Es war ein klarer Morgen. Feine Wolkengebilde zogen sich über den Himmel. Aber Nora war viel zu sehr mit ihrer heutigen Verabredung beschäftigt, als dass sie irgendetwas aufmuntern konnte.
Das gute Wetter hielt sich auch, als Nora am Nachmittag nach Dienstschluss in die Innenstadt ging. Die ersten Blätter wiesen rote und gelbe Farbtupfer auf und bildeten einen schönen Kontrast zu dem Blau des Himmels. Als sie in der Einkaufszone angelangte, stellte Nora sich an den Rand und zückte einen kleinen Handspiegel. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen sich vor dem Termin mit Dr. Krey noch einmal aufzufrischen. Tessa hatte sie mehrfach auf ihr Befinden angesprochen. Ein Indiz dafür, dass sie schrecklich aussehen musste. Sie bemerkte selbst, wie blass sie war. Dadurch stachen ihre Sommersprossen umso mehr ins Auge. Nora hatte ein gespaltenes Verhältnis zu ihren Sommersprossen. Ihre Oma behauptete immer, andere würden sie insgeheim dafür beneiden. Seitdem war es ihr etwas besser mit dem vermeintlichen Schönheitsmakel ergangen.
Nora versuchte die Haare zu einem Dutt hochzubinden. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sowieso sah sie damit keinesfalls älter oder klüger aus, wie sie kritisch feststellen musste. Nora atmete geräuschvoll aus. Ihr Haar war einfach zu fein und strähnig. Kurzerhand öffnete sie den Dutt und fuhr sich mit den Fingern durch ihr hellblondes Haar, um es wie gewohnt zu einem schlichten Pferdeschwanz zu binden. Dann ging sie weiter Richtung Marktplatz.
Die Leute genossen den sonnigen Tag. Einige Cafés waren auf das Hoch vorbereitet und boten Außensitzplätze mit leichten Wolldecken an. Eine Gruppe Straßenmusiker spielte südländisch anmutende Stücke und eine begeisterte Zuhörerschaft klatschte Beifall.
Nora konnte der Stadt und ihren belebten Straßen nicht viel abgewinnen. Oft war es zu viel auf einmal. Froh den Rathausplatz hinter sich zu lassen, bog sie in eine schmale Seitengasse ein. Die Geräusche der Stadt wurden leiser. Das dumpfe Echo ihrer Schritte auf dem Pflaster hallte von den Wänden der Häuser wider. Zögernd steuerte sie auf eine massive Holztür mit gelben Glasfenstern zu. Hier muss es sein. Antiquitäten und Raritäten, Dr. Krey, Geöffnet, las sie auf einem zerbeulten Schild im Aushang. Eigentlich bin ich etwas zu früh.
Aber ehe sie es sich anders überlegen konnte, langte sie beherzt nach dem Türknauf und trat ein. Ein zartes Bimmeln verkündete ihre Ankunft. In dem Antiquariat war es im Vergleich zu draußen dunkel.
Es brauchte einige Zeit, bis Noras Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten.
»Hallo?«, gab sie halblaut von sich, nachdem nichts geschah.
Aus einer Ecke zwischen den Regalen drang ein Hüsteln, dann rumpelte es und eine Frau, die etwa um die fünfzig Jahre war, kam mit einer Kiste unter dem Arm auf sie zu. Weit vorne auf ihrer Nase saß eine rot gerahmte Brille.
»Guten Tag, wie kann ich Ihnen behilflich sein? Wir schließen gleich.«
»Ich weiß, ich würde gerne zu Doktor Krey. Wir sind für sechzehn Uhr verabredet.«
»Sind sie eine neue Praktikantin?«, wollte die Frau wissen und musterte Nora mit einem schwer zu interpretierenden Ausdruck.
»Nein, es ist eher eine private Sache. Dr. Krey ist… ein Freund der Familie.« Nora hoffte, selbstsicherer zu wirken, als sie sich fühlte.
»Ach so. Na gut, dann sehe ich mal, wo ich ihn finden kann.« Die Frau wandte sich ab und stöckelte auf ihren hohen Schuhen in den hinteren Bereich.
Das Antiquariat würde eine gute Filmkulisse für eine Geschichte in den sechziger Jahren bieten, dachte Nora und sah sich fasziniert von den vielen geschichtsträchtigen Büchern und Gegenständen um.
Im vorderen Bereich, nahe den Fenstern, standen einige Tische und Stühle. Jeder der Plätze war mit einer dieser hübschen grünen Tischlampen bestückt, die Nora aus englischen Filmen kannte. In alle Richtungen, in die sie blickte, erstreckten sich lange Regale. In einem zweiten offenen Stockwerk sah man von unten weitere Regale, die bis zur Decke voll beladen waren mit Ordnern. Eine Wendeltreppe führte nach oben.
»Fräulein Fentur!« Ein altes Gesicht beugte sich über die Brüstung. Das schüttere Haar stand wirr vom Kopf ab. Konrad Krey, der ein großer und magerer Mann war, wirkte in seinem Anzug als sei dieser zwei Nummern zu groß. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er die Stufen zu ihr herabstieg.
Dennoch täuschte nichts über seine sorgenvoll gekräuselte Stirn hinweg.
Hat er vielleicht befürchtet, ich würde es mir anders überlegen?
»Hallo Herr Doktor Krey«, Nora streckte ihm die Hand entgegen und er schüttelte sie herzlich.
»Verzichten wir doch auf diese Formalitäten! Sie können mich Konrad nennen! Ihre Großmutter hat mich schließlich auch beim Vornamen genannt.« Er seufzte. »Ihr plötzlicher Tod geht mir immer noch sehr nah.« Fahrig griff er in seine Hosentasche und holte ein Stofftuch heraus, mit dem er sich einmal kräftig die Nase schnäuzte. »Verzeihung.«
Nora lächelte. Irgendwie rührte sie dieser Mann an.
»Also dann… Ich bin Nora.«
Der Alte beugte sich leicht nach vorn. »Angenehm! Ach bitte, komm doch mit Nora, ich werde meiner Mitarbeiterin für die letzten Minuten die Aufsicht anvertrauen. Wo ist sie denn eigentlich?« Dr. Krey schaute sich suchend um. »Ach da! Madléne?! Können Sie bitte übernehmen?«
Madléne kam ihnen entgegen gestöckelt. »Sicher! Ich hatte Sie unten in Ihrem Büro vermutet. Haben Sie das Mädchen schon in Empfang genommen?«
»Oh ja, sie ist bei mir! Ich vergaß Ihnen mitzuteilen, dass ich sie heute erwartet habe. Ich werde jetzt mit der jungen Dame für einen Moment nach unten gehen. Halten Sie bitte den Laden im Blick.«
»Alles klar, dann weiß ich Bescheid.«
Konrad Krey sah auf seine Armbanduhr. »Schließen Sie dann einfach nachher hinter dir ab. Ich habe meinen Schlüssel bei mir.«
»Alles klar«, sagte die Frau nochmals, sah über ihre Brillengläser hinweg zu Nora und wandte sich dann geschäftig ab.
Nora folgte dem Antiquar in den hinteren Bereich, um eine Theke herum, durch eine Tür hindurch. Eine steinerne Treppe führte von hier aus in einen schmalen, massiven Gang, der letztlich auf mehrere Türen zuführte. Konrad Krey wandte sich zu der, die sich links von ihnen befand, und öffnete. »Es ist leider nicht sehr warm hier unten, aber ich werde umgehend die Elektroheizung einschalten«.
Voller Bewunderung starrte Nora in das Büro, welches genauso gut ein Weinkeller hätte sein können. Zweifelsohne standen sie in einem historischen Kellergewölbe.
Konrad Krey ging auf eine Ecke zu und betätigte wie versprochen den Schalter der besagten Heizung.
»Das hätte ich hier unten nicht erwartet.«
Konrad hob die Augenbrauen. »Ja, es ist ein original erhaltenes Gewölbe aus dem achtzehnten Jahrhundert. Das Antiquariat befindet sich also in einem Gebäude, welches fast um die dreihundert Jahre zählt. Allerdings wurde es mehrfach erneuert und ausgebaut. Dennoch ist es für Geschichtsfanatiker wie mich ein wahres Privileg hier arbeiten zu dürfen!«, sagte er und wies mit diesen Worten in Richtung zweier Stühle, die an einem kleinen eckigen Tisch standen.
In der entgegengesetzten Richtung befand sich ein massiver Schreibtisch, auf dem ein Computer stand und mehrere Ablagefächer platziert waren. Offenbar wurden von dort alle Verwaltungsarbeiten abgewickelt, während die spärlich eingerichtete Ecke eher den Pausenzeiten diente. Auf einem schmalen Eckschrank stand ein Wasserkocher.
»Ich arbeite hier unten gerne ungestört«, erklärte Konrad. »Nimm doch bitte Platz.«
»Danke.« Nora zog einen der Stühle zurück und ließ sich steif darauf nieder.
Konrad nahm ihr gegenüber Platz. Er stützte seine Ellenbogen auf und tippte mit den Zeigefingern gegeneinander.
»Ich hoffe, du hast alles dabei, wenn ich so direkt sein darf?«
»Ja.« Nora nickte.
»Gut. Ich werde dir jetzt erst einmal ein paar Dinge erzählen müssen, bevor wir direkt auf deine Großmutter Marianne und die bedeutungsschweren Gegenstände zu sprechen kommen. Ich muss dich nur vorwarnen, denn es wird nicht leicht zu verstehen sein«, fügte der Doktor hinzu.
»Das habe ich mir nach gestern schon gedacht«, konterte Nora.
»Gut, gut. Nora, kennst du dich ein bisschen mit, nennen wir es mal Gilden, aus?«
»Das ist eine Art Zunft, oder? Also ein Zusammenschluss von Leuten, die irgendetwas gemeinsam haben?«
»Ja! So in etwa, wenn man möchte, ist die Gruppe, von der ich dir nun erzähle. Wobei es in diesem Fall ein geheimer und isolierter Verein ist, der sich selbst als die Mondpilger bezeichnet. Sie widmen sich einer wichtigen Aufgabe, von der niemand sonst etwas weiß, und treffen sich in regelmäßigen Abständen an geheimen Orten.«
»Sie meinen also eigentlich eine Sekte?«, stieß Nora hervor.
»Du liebes bisschen, nein!« Krey machte eine abwehrende Geste mit den Händen. »So kann man diesen Verein nicht nennen. Er hat zwar seine feste Struktur, ist aber nicht in gleicher Weise bindend.« Krey schob sich ein Stück vor und seufzte. »Ich darf dir eigentlich nichts über sie erzählen, denn wie gesagt sind sie geheim. Es würde jetzt zu weit führen zu erklären, wieso ich überhaupt von ihnen weiß. Aber ich sage es dir, weil du schon jetzt gewissermaßen ein Teil dieser Geschichte bist, ohne es bisher gewusst zu haben. Eigentlich dachte ich sogar, du wärst in die Dinge eingeweiht. Erst als ich heute zu dir kam, wurde mir klar, dass dem wohl eher nicht so ist.«
»Wieso meinen Sie… ähm, wieso meinst du, ich hätte diese Gruppe gekannt? Ich höre das erste Mal von ihnen.«
Konrad rieb sich über die Stirn. »Ja. Es mag sein, dass ich einen riesigen Fehler begehe und nicht im Sinne deiner Großmutter handle. Es ist so: Deine Großmutter gehörte eben dieser Gruppe der Mondpilger an.«
Nora stutzte. Was sollte das bedeuten? Ihre Oma war in einer Art Sektenstruktur und traf sich mit zwielichtigen Menschen, während sie äußerlich vorgab ein völlig normales Leben zu führen?!
Konrad räusperte sich. »Ja weißt du, Nora, es gibt so vieles mehr in dieser Welt, als wir mit unserer begrenzten Wahrnehmung ahnen! Es ist für uns selbstverständlich, dass Menschen Hunger und Durst haben und essen und trinken müssen. Und es gibt größere Dinge, auf die wir uns einfach verlassen, dass die Sonne morgens aufgeht und abends wieder verschwindet. Wir erklären uns alles. Die Erklärungen finden wir Menschen irgendwie. Aber, dasjenige was wir mit der Wissenschaft, mit unseren auf Gesetzmäßigkeiten und Annahmen basierenden wissenschaftlichen Instrumenten nicht erfassen können, das ist so lange nicht existent, bis wir eine Idee haben überhaupt einmal danach zu fragen und wiederum eine Möglichkeit entwickeln, um es irgendwie zu erfassen und zu beweisen. Die Wissenschaft schafft uns das Wissen, aber nicht immer die Wahrheit, denn sie erfasst ja doch nur Puzzleteile eines großen Ganzen und kann diese nur von einer bestimmten Warte aus interpretieren. Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?«
Nora wurde leicht schwarz vor den Augen. Sie war heute nicht in der stabilsten Verfassung, doch sie riss sich zusammen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht, dass wir nur sehen, was wir kennen und erwarten? Aber Konrad, wenn das mit dieser Gilde stimmt, hat Oma uns doch die ganze Zeit angelogen!«
»Keineswegs! Deine Oma ist einer der aufrichtigsten Menschen überhaupt gewesen! Sie wäre auch niemals eine Mondpilgerin geworden, wäre sie nicht ein ehrlicher Mensch. Denn das ist eine der Voraussetzungen. Oh, sie hat wirklich die besten Voraussetzungen gehabt! Sie hat nur etwas verschwiegen, nach dem nicht gefragt wird. Dafür ist der Großteil unserer Gesellschaft schlichtweg nicht reif. Hättest du sie gefragt, ich bin mir sicher, sie hätte dir davon erzählt.«
Nora schwieg. Wie hätte ich bitte auf so eine abgefahrene Frage kommen können? Oma, gehörst du zu einer geheimen Gruppe!?
»Nun gut. Du bist vor allem hier, weil ich dich darum gebeten habe, mir das Buch zu bringen und das Amulett, wenn du es tatsächlich gefunden hast?«
»Ich habe wie gesagt beides mit.« Konrad rieb nachdenklich sein Kinn. »Dann hat sie es also gehabt.«
»Bitte?«
»Dieses Amulett, auf welches ich dich gestern ansprach. Es ist ein zentrales Symbol und Gebrauchsmittel der Mondpilger. Es besitzt einige… Funktionen. Das Amulett ist erfüllt von einer geheimen Energie, die es den Mitgliedern möglich macht, sich blind untereinander zu erkennen und miteinander zu verbinden. Sind sie verbunden, so umgibt sie ein Schutzschild, den sie Zachéli nennen. Er hat eine Art isolierende Funktion.«
»Eine Energie ist in dem Amulett? Wie Strom?«
»Nein, nein. Wobei, ja! Also, mit Strom hat das nichts zu tun, aber es strömt ebenfalls. Siehst du, das ist diese Sache mit der Wissenschaft…Diese Energie ist eher etwas, das man als übernatürlich bezeichnen würde.«
»Was genau machen denn diese Mondpilger damit?«
»Die Mondpilger haben eine wichtige Aufgabe. Gebildet wurde die Gruppe schon vor langer Zeit, um etwas zu bekämpfen, dass in immer größerem Ausmaß die Seelen der Menschen zu verdunkeln drohte.« Dr. Krey sprach jetzt sehr leise und Nora musste sich anstrengen ihn zu verstehen, außerdem begann sie zu frösteln. Die Elektroheizung brauchte anscheinend länger, um auf Touren zu kommen.
»Was ist es, das so dunkel ist?«
»Es sind Lügen.« Nora runzelte die Stirn. »Lügen?«
»Ganz genau! Man darf nicht glauben, dass auch nur ein Wort oder gar ein Gedanke dieses Universum unbemerkt verlässt, geschweige denn, dass es sich einfach auflöst! Im Gegenteil:
Alles was wir denken, sagen und tun, im Verborgenen oder offen, hat eine Wirkung. Damit wird dir sicher auch klar sein, dass nicht alles eine gute Wirkung hat! Lügen zum Beispiel sind äußerst beziehungsreich, denn sie haben teilweise einen wahren Anteil, sind aber auf bitterste Art und Weise verzerrt. Diese Verzerrung bereitet, ich sage mal eine schlechte Sicht. Du brauchst keine Brille, oder?«
»Zum Lesen schon. Wieso?«
»Ich möchte gerne ein Bild nutzen. Diese Verzerrungen sind ähnlich einer Hornhautverkrümmung. Sie nehmen etwas auf und geben es wieder, aber sie zerstreuen durch ihr Dasein das Licht. Es kann kein klarer Eindruck mehr entstehen. Wenn sie in die Welt stieben, nehmen sie zudem der Seele des betroffenen Menschen Kraft und damit immer mehr die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen. Sie sind diebischer Natur. Kannst du mir folgen?«
Nora war sich da nicht ganz sicher, nickte aber. »Ich denke schon.«
»Die Pilger sind also auserwählte Mitglieder, das heißt sie besitzen eine bestimmte seelische Ausrichtung. Sie werden in die Gruppe eingeführt, unter strengster Regel und Geheimhaltung, und machen dann Jagd auf diese Lügenschatten. Jedenfalls setzen sie ihr Licht, welches die Energie der Amulette ist, direkt gegen diese Schatten ein und nehmen ihnen damit ihre Existenzgrundlage, nämlich die Finsternis, welche durch die negativen Verdichtungen und Verzerrungen entsteht. Dann muss eine Art Mantra gesprochen werden.« Krey hatte sich in Rage gesprochen und wischte sich mit seinem Stofftuch über die Stirn.
Nora fühlte sich immer tiefer in ein Paralleluniversum abdriften. Wenn Dr. Krey die Wahrheit erzählte und nicht doch unter einer Psychose litt, war hiermit ihr unspektakuläres, ruhiges und geschütztes Leben beendet.
»Wo genau finden sie diese Schatten?«, fragte sie und wollte es gleichzeitig gar nicht hören.
»Eigentlich überall. In einer feinstofflichen Dimension der Erde. Sie können sich frei bewegen oder etwa direkt an einem Menschen haften. Und das ist übrigens eine gute Einstiegsfrage, um explizit auf das Buch zu sprechen zu kommen: Marianne, deine Oma, hat sich in Gebiete begeben, in denen sie abseits der Mondpilger war. Dort musste sie Entdeckungen machen, die nichts Gutes ahnen lassen.«
»Von denen diese Mondpilger nichts wissen?«
»Der Großteil nicht. Und ich bin inzwischen der Meinung, sie sollten es auch erst gar nicht erfahren, das brächte eine Menge Unheil! Und deswegen, Nora, brauche ich jetzt dieses Tagebuch.«
Nora griff nach ihrem Rucksack, den sie über das Gespräch hinweg auf ihren Knien abgelegt hatte. Widerstrebende Gefühle hemmten sie. Das Tagebuch würde sie ihm geben, aber das Amulett? Andernfalls möchte ich nichts mit diesen Menschen, den Mondpilgern, oder ihrer Welt zu tun haben.
Nora zog das Buch, welches sie in ein Bündel gewickelt hatte, aus der Tasche, um es mittig zwischen sie auf den Tisch zu legen.
»Konrad, du sagtest gestern auch, dass es sein könnte, dass wir bei mir nicht sicher wären. Und du hast mich gefragt, ob sich bei mir persönlich etwas verändert hat. Was meintest du damit?
Diese Albträume, die ich habe,…steckt mehr dahinter?«
Konrad hatte mit Vorsicht nach dem Beutel gegriffen und hielt das ausgewickelte Buch mit der gleichen Sorgfalt, als sei es etwas Zerbrechliches, in seinen Händen.
Er blickte auf. »Ja. Das ist es, wovor ich dich warnen muss! Deine Oma hat diese Entdeckungen gemacht, von denen ich nicht weiter reden kann und möchte. Du hast in dem Buch gelesen, wenn auch nur die ersten Einträge, wie du sagtest. In der Folge hast du schlechte Träume gehabt. Ich hoffe inständig, dass das, was du damit unwillentlich angelockt hast, sein Interesse verliert, sich von dir abwendet, sobald du jetzt keine Berührung mehr mit ihrer Welt haben wirst. Dafür musst du mir aber auch das Amulett aushändigen.«
»Das Ganze macht mir Angst«, gab Nora zu.
Sie verspürte Druck auf ihrem Hals.
»Nora, das Wichtigste ist, dass du dich von diesen Gegenständen trennst und damit insbesondere von dem Amulett! Es ist das Amulett der Mondpilger und es wäre höchst fatal, wenn du es trägst! Ich bin nur froh, dass es nicht dem heutigen Modestil entspricht«, setzte er zwinkernd hinzu, in dem Versuch Nora aufzumuntern.
»Gut, du kannst es haben«, sagte Nora und spürte, wie eine Last von ihr abfiel.
Ohne länger zu zögern holte sie das zweite, kleinere Bündel hervor und reichte es über den Tisch.
Konrad atmete ebenfalls erleichtert auf. »Ich danke dir Nora! Bitte behalte alles, worüber wir gesprochen haben, für dich. Es wäre gut, wenn wir uns in etwa einer Woche nochmal sehen würden. Es ist mir ein Anliegen, dass es dir gut geht. Das ist das Geringste, was ich für Marianne tun kann.«
Aus Mariannes Tagebuch II
Gestern war ich mit Aaron verabredet, um mit ihm unter vier Augen über mein Erlebnis zu sprechen.
Doch ich habe den Eindruck, er glaubt mir nicht und schiebt das Erlebte auf meine erlittene Kopfverletzung! Natürlich, ich bin über siebzig und in seinen Augen eine gebrechliche, alte Frau. Er wurde allerdings etwas nachdenklich, als ich ihm die Wesen, so gut es mir möglich war, beschrieb. Ich meine sogar, er ist etwas blass um die Nase geworden.
Sein Rat ist, dass ich mit sofortiger Wirkung Stillschweigen bewahre. Niemand soll etwas von den „Finsterwarten“ erfahren, um keine Panik zu verbreiten. Es müsse erst hinreichend geklärt werden, ob sie überhaupt existieren, und wenn ja, inwiefern sie eine Bedrohung darstellen. Ich kann noch immer nicht fassen, mit welch einer Arroganz er mir begegnet ist! Ich habe damals für seine Wahl gestimmt!
Aufgewühlt, wie ich nach dem Gespräch war, habe ich mich direkt auf den Weg zu Konrad gemacht. Zu meinem Ärger hielt er es für besser, sich seinerseits nicht in die Angelegenheiten der Mondpilger einzumischen! Dazu habe er sich schließlich vereidigen lassen. Er meint, ich soll abwarten, was Aaron unternimmt. Zumindest glaubt er mir. Aber die schnelle Reaktion, auf die ich hoffte, wird es damit nicht geben.
Heute habe ich daher eine gewagte Aktion gestartet!
Im Nachhinein denke ich, dass es auf die schreckliche Beklommenheit zurückzuführen ist, die seit der Begegnung mit den Finsterwarten in meiner Seele herrscht. Keiner sonst hat schließlich dieses markerschütternde Jaulen gehört!
Um den Prozess ins Rollen zu bringen, habe ich mich selbst auf die Suche nach dem Ort des Geschehens begeben, um irgendwelche sachdienlichen Hinweise zu finden. Diesmal allerdings bei Tageslicht. Ich trug das Amulett bei mir. Ich dachte, wenn die Finsterwarte den uns bekannten Schatten ein wenig gleichen, wandeln sie auch nur nachts und halten sich tagsüber im Verborgenen. Ich wollte jedoch vorgewarnt sein, falls es anders wäre. Das Signal der Kälte kenne ich ja nun. Das Gelände wurde immer sumpfiger und wilder, bis ich schließlich in einem Moorgebiet landete. Nachts war mir das gar nicht so deutlich gewesen. Umso dankbarer bin ich, damals zurückgefunden zu haben! Jedenfalls ist es ein zauberhaftes Stück Wald, so skurril diese Bemerkung auch angesichts der Umstände ist! Die hohen mit Schlingpflanzen bewachsenen Bäume, die mich umgaben, hatten etwas Verwunschenes. Dann leuchtete mit einem Mal mein Amulett. Aber rot, als wäre ein Mondpilger in meiner Nähe! Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war genauso, wie ich es in der Nacht von Montag auf Dienstag erlebte, als ich durch das Leuchtsignal in die Irre geführt wurde! Doch ich stieß nicht etwa auf ein Mitglied, sondern stand unvermittelt vor einem rostigen, freistehenden Tor! Mitten im Wald. Ich ging einmal herum, wobei mir abstruse Gedanken kamen. Es war ein deutlicher Energiefluss zu spüren. Ein Impulsfaden baute sich auf und verband sich mit diesem Tor! Wofür auch immer versuchte ich das Tor zu öffnen, aber es klemmte.
Ich muss mir selbst eingestehen, dass mir etwas mulmig zu Mute war! Vielleicht war es auch eine Falle und die Finsterwarte wollten auf diese Art einen Mondpilger anlocken?
Kurz entschlossen nahm ich die Beine in die Hand mit dem Gedanken, mit Aaron noch einmal an diesen Ort zu gehen. Er soll sich selbst ein Bild machen.
Ich verstehe das Ganze nicht. Aber jetzt kann ich erst recht nicht davon ablassen, bis dieses Rätsel gelöst ist!