Читать книгу Im Bann der Mondpilger - A.B. Söhn - Страница 12

Оглавление

Alte Bekannte

Konrad Krey schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, dass seine Teetasse klapperte.

»Das ist es!«, rief er. Es hat sich wieder einmal bewährt! Die besten Einfälle kommen mir immer nach einem ausgiebigen Spaziergang! Ich muss mich umgehend mit Nora in Verbindung setzen!

Er wollte sich diese Woche ohnehin nochmal mit ihr verabreden, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Zugegeben, die Recherche hatte etwas Zeit in Anspruch genommen, aber gut Ding brauchte nun mal Weile! Marianne hatte ihn damals inständig darum gebeten, falls sie vor ihm sterbe, das Buch aufzubewahren. Und dieses Buch war zweifelsohne die Büchse der Pandora. Wer sie öffnete, erntete Unheil! Weil er das bereits ahnte, hatte er sich nicht gewundert, als Nora ihm gestand, dass sie die ersten Seiten bereits gelesen und in Folge dessen Albträume bekommen hatte. Auch ihm lief regelmäßig ein Schauer über den Rücken, wenn er sich von dieser Welt buchstäblich verschlingen ließ. Vielleicht stammten diese Albträume, die Nora plagten, lediglich von den dunklen Eindrücken der Erzählungen und gar nicht von den leibhaftigen Wesen? Denn was Konrad an sich selbst feststellte war, dass es absolut nichts festzustellen gab! Er schlief so gut oder zumindest für seine Verhältnisse so normal wie immer. Er besaß kein Amulett und war daher eventuell nicht auf dem Plan der Finsterwarte.

Hauptsache ist also, dass Nora nicht dieses Amulett getragen hat und nicht unmittelbar ins Visier dieser Wesen geraten ist!

Doch das musste er erst sicher stellen. Denn wenn er so recht bedachte, hatte Nora dazu keine Aussage getroffen.

Konrad rieb sich die Schläfen. Das Problem war, sie warteten auf irgendetwas und führten offenbar, wie er selbst, eine Art Studie durch. Das war sein jetziger Eindruck. Und wenn diese Biester klug genug waren, dann ahnten sie, dass es mehr als nur einen Pilger gab. Dann würden sie sich erneut jemanden heraussuchen, um ihn zu beobachten, von ihm zu lernen, und irgendwann in die Enge zu treiben, bis auch die anderen aus ihrer Deckung kamen.

Vielleicht haben sie an Marianne schon längst erkannt, dass sie alleine keinen Schutz haben. Die Schwäche der Mondpilger!

Konrads Plan stand jedenfalls vorerst. Er würde zu den Mondpilgern gehen und ihnen nahelegen, ein Warnsystem zu installieren, welches über Kälte-Sensoren reagierte. Das Warnsystem musste also ähnlich den Amuletten funktionieren. Aber da auch ein fünfzigstes Amulett entstehen konnte… Es würde sich bestimmt ein Weg finden lassen durch diese passive Abwehr und eine zusätzliche aktive Abwehr zu wirken, in die er selbst einsteigen würde. Er war ein Mitwissender und zudem über die Finsterwarte informiert, die ihn ohne Amulett nicht wittern konnten!

Er tupfte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, schlug die Mappe zu, in die er alle seine Überlegungen notierte, und knipste die kleine Tischlampe aus. Dann verließ er sein Büro und stieg die schmale Wendeltreppe hinunter.

Er war fast unten angelangt, als sich plötzlich eine Gestalt aus dem Dunkel des Flures löste.

Konrad fuhr erschrocken zusammen, die leere Teetasse flog ihm im hohen Bogen aus der Hand, schlug auf die steinernen Fliesen und zersprang mit lautem Scheppern in ihre Einzelteile.

»Himmel!«, keuchend fasste er sich an seine Brust.

Wie aus dem Nichts gestiegen, stand Ferdinand der Falke in seinem Korridor. Gekleidet in eine olivgrüne Jacke und Hose. Sein Outfit glich dem eines Soldaten, nur passten die Haare überhaupt nicht dazu, denn sie reichten ihm inzwischen locker bis zu den Ellenbogen.

»Ferdinand!«, japste Konrad. »Musst du einen alten Mann so erschrecken!?«

Ferdinand bückte sich und begann sogleich die Scherben aufzusammeln. »Nein. Das muss ich nicht. Entschuldige.« Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Es wäre aber auch gar nicht erst passiert, wenn der alte Mann uns in sein geheimes Treiben einweihen würde. Bist du okay, Konrad?«

»Ja, ich denke schon. Es geht wieder. Wie bist du überhaupt reingekommen?!«

»Durch die Terrassentür, sie war nur angelehnt«, er wies mit dem Daumen hinter sich.

»Dann war ich wohl zu sehr in Gedanken und habe sie nach dem Spaziergang nicht richtig geschlossen«, ärgerte sich Konrad.

»Gedanken, an denen ich gerne teilhätte«, betonte Ferdi. »Was hast du mit der Enkelin von Marianne zu schaffen? Hast du sie eingeweiht?«

»Ferdinand ich…« Konrad Krey machte eine unbeholfene Geste und ging dann gefolgt von seinem Überraschungsbesuch Richtung Küche.

Eigentlich durfte es ihn nicht wundern, dass ihm die Mondpilger auf die Schliche gekommen waren. Vielmehr sollte es ihn wundern, dass sie erst eine gute Woche später auftauchten

»Die Scherben kannst du bitte hier reinwerfen«, er deutete auf einen Mülleimer. »Den Rest mache ich gleich mit dem Handstaubsauger.«

Ferdi sah in unbeirrt, auf eine Antwort wartend, an.

»Ist ja gut! Ich werde es dir erklären! Es verhält sich jedoch ganz anders, als du zurzeit vermutlich annimmst!«

Ferdinand lehnte sich gegen die Anrichte. »Dann klär mich auf! Ich kann nämlich nicht garantieren, dass die anderen Mondpilger dir nicht auf die Fährte kommen, und dann wären wir, wie du weißt alle fünf dran!«

»Das heißt, die anderen wissen nichts von meinem Besuch bei Nora?«

»Nein, offiziell wissen sie bisher nur, dass es sich um eine Querschlägerin handelt, die da durch unsere Wälder tobt. Nicht, dass es Mariannes Enkelin ist. Das wissen nur Aaron, eine gewisse Esther und ich.«

»Moment mal«, unterbrach Krey ihn und sah aus, als stünde er zum zweiten Mal kurz vor einem Kollaps. »Was sagtest du? Sie hat das Amulett getragen!?«

»Definitiv. Ich dachte, du wolltest mich aufklären!?«

Dr. Krey ließ sich stöhnend auf einen Stuhl fallen. »Dann ist alles umsonst gewesen! Das Mädchen hat in dem Tagebuch ihrer Oma gelesen, in welchem sie haarklein von den Wesen berichtet. Und mit diesem Wissen über die „Finsterwarte“ oder „dritte Art“ oder wie immer wir sie nennen mögen, hat sie sich auf Pilgerschaft begeben.« Er vergrub sein Gesicht in den Händen, seine Lesebrille drohte ihm von der Stirn zu rutschen. So krumm der Alte da saß, so kerzengerade stand Ferdi.

»Konrad. Wer hat das Amulett jetzt?«

»Ich habe es in meiner Obhut, genauso wie das Tagebuch. Das war der Grund, warum ich Nora aufgesucht habe: Ich wollte die Gegenstände in Sicherheit bringen.«

»Dann kann doch eigentlich nichts weiter passieren?«

»Ich fürchte, wenn man einmal schlafende Hunde weckt, ist es schon gelaufen! Sie werden Nora bemerkt haben.«

»Ja, aber sie ist keiner von uns und kann sie daher auch nicht auf unsere Fährte locken, oder? So in etwa haben wir damals doch auch gedacht? Ich werde mit Aaron über dieses Tagebuch sprechen und du schnappst dir das Mädchen. Du hättest uns direkt über den Verbleib des Amulettes informieren sollen, dann wäre alles einfacher gewesen!«

»Das wollte ich ursprünglich auch, glaube mir…« Konrad Krey stockte, als ihm bewusst wurde, wie sinnlos es war, vor einem Pilger zu lügen.

Ferdi tippte auf seine Brust, als könne er seine Gedanken lesen.

»Na gut, nicht unbedingt sofort… Aber, das hing mit meinem Plan zusammen und der war gut! Besser als damals. Eben erst ist er fertig geworden. Damit wollte ich mich wirklich an euch wenden. Aber jetzt taugt er natürlich nichts mehr.«

»Was soll´s!« Ferdi strich sich über sein stoppeliges Kinn. »Wir müssen dieses Mädchen da rausziehen. Ihr Gestrampel hat ganz schön viel alten Schmutz aufgewirbelt.«


Nora warf einen hoffnungsvollen Blick Richtung Uhr, aber es war erst halb drei und sie würde heute noch bis fünf arbeiten müssen. Innerlich stöhnte sie auf. So ging das nicht weiter! Langsam bekam sie den Eindruck, das Leben habe ein neues Drehbuch geschrieben, allerdings ohne sie dabei in ihrer Rolle zu bedenken. Jegliche Energie, die sie für die Herausforderungen des Alltags gut hätte brauchen können, wurde gierig von den Nächten und ihren üblen Fratzen, die dort auf sie lauerten, verschlungen.

Ich sollte versuchen, die Nacht über wach zu bleiben. Schlimmer kann die Erschöpfung durch Schlafentzug auch nicht werden. Vielleicht verschwinden diese Träume, wenn ich mich ihnen eine Zeit lang entziehe und sie das Interesse an mir verlieren?

Nora tippte sich an die Stirn. Sie tat gerade so, als haben die Träume ein Eigenleben! Zwar wusste sie dank Konrad nun einiges über die Unterwelt und deren Kreaturen, aber er war ja auch überzeugt gewesen, dass sie sich ohne das ominöse Amulett nicht weiter in Gefahr befand. Ein Trugschluss?

Oder es sind einfach meine kranken Phantasien, versuchte sie eine Erklärung zu finden.

»Nora, führst du Selbstgespräche oder wem hast du da gerade einen Vogel gezeigt?«, fragte Tessa irritiert lachend.

Nora spürte, wie ihr wieder mal die Röte ins Gesicht stieg.

»Ach, ich habe nur… an eine dumme Sache gedacht.«

Tessa kniete sich neben sie, vor das unterste Regalfach.

»Kann das sein, dass du sehr viel denkst in letzter Zeit? Du hast jedenfalls noch nicht die Hälfte der Produkte eingeräumt!« Sie machte eine Handbewegung Richtung Gabelhubwagen, auf dem eine Palette lag, auf der noch mehrere Kisten mit Ware gestapelt waren. »Pass‘ lieber auf, dass Anne es nicht merkt! Die hat schon ein Auge auf dich.«

Nora konnte nicht sprechen, sonst würde sie womöglich anfangen zu heulen. Stattdessen nickte sie nur.

»Entschuldigen Sie?« Eine ältere Kundin kam mit ihrem Rollator und beugte sich zu Nora herunter. »Ich suche Dinkelmehl, wo finde ich das denn?«

Nora sprang auf, bemüht ein freundliches Lächeln aufzusetzen.

»Das ist eine Reihe weiter, in dem nächsten Regal! Moment, ich kann es Ihnen gerne zeigen!« Zügig ging sie der Kundin voran, suchte das Regal kurz ab, fand die hellbraunen Päckchen in der obersten Reihe und stellte fest, dass auf dem Dinkelmehl ein flacher Karton mit mehreren Kilo Weizenmehl gestapelt war. Wer hat das denn gemacht?!, ärgerte sie sich.

»Ah da ist es ja!«, rief die Kundin aus. »Aber da komm ich nicht dran! Das ist zu schwer.«

»Warten Sie. Ich hole Ihnen eine Packung raus!«, bot Nora sich an und fasste prompt mit beiden Händen nach einem der vorderen Päckchen, um es mit einem Ruck herauszuziehen.

Mit dem, was dann kam, hatte sie nicht gerechnet: Der oben aufliegende Karton, der sich bereits in Schieflage befand, fing an zu rutschen und gewann durch die aufliegenden Mehlpackungen eine ungeheure Geschwindigkeit und Wucht. Es war bereits zu spät, um etwas zu unternehmen!

Nora sprang mit einem Satz zur Seite, die Kiste raste Richtung Boden. Dann knallte es, die Ware platzte auf und eine riesige weiße Wolke stob auf, verteilte sich großzügig über Boden, Regale und die Kundin.

Stille folgte.

»Mein Mantel!«, rief die Kundin aus. »Und meine Haare! Ich war eben erst beim Frisör. Mädchen, das war nicht gut!«

Nora stand noch immer da wie erstarrt. Auch die anderen Kunden waren aufmerksam geworden und standen nun in einigem Sicherheitsabstand um die Mehlwüste herum, um sich das Szenario anzusehen.

Tessa, die den Vorgang aus nächster Nähe mitbekommen hatte, eilte herbei. »Nora! Was hast du gemacht?!«

»Lassen Sie mich bitte eben vorbei? Danke.«

Mit Entsetzen sah Nora, dass nun auch Anne, die bisher in ihrem Büro gewesen war, sich einen Weg durch die Schaulustigen bahnte, und direkt auf sie zu hielt.

Mist. Das war´s …! Nehmen die Albträume denn gar kein Ende?!

»So Tessa, du kümmerst dich bitte um die Kundin!«, befahl sie.

»Ja, mache ich sofort«, wisperte sie und strich sich dabei verlegen eine Strähne ihrer dunklen schulterlangen Haare aus dem Gesicht.

»Und Nora, du machst hier sauber! Hol‘ dir bitte den Industriestaubsauger aus dem Lager. Danach kommst du in mein Büro.«

»Ja« hauchte sie. Tränen standen ihr in den Augen. Nora musste kämpfen, um sie zurückzuhalten. Es gelang ihr nicht mal eine Entschuldigung auszusprechen stattdessen ging sie mit schnellen Schritten Richtung Lager.


Tino begutachtete sein Werk.

In der Mitte des flachen Wohnzimmertisches, der vor seinem durchgesessenen Ledersofa stand, hatte er drei Kerzen arrangiert. Um keine falschen Signale zu senden, entschied er sich für Dunkelblau und fand dazu sogar eine passende Tischdecke, sowie kobaltblaues Porzellangeschirr, das er klammheimlich aus dem Eiscafé seines Vaters entwendet hatte. Vermutlich wäre es kein Problem gewesen, wenn er einfach gefragt hätte. Aber Tino wollte vermeiden, dass irgendjemand über das Verhältnis von ihm und Nora spekulierte. Zugegeben konnte sich Tino durchaus vorstellen, dass sich etwas Tieferes zwischen ihnen entwickelte. Zumindest von seiner Seite her. Doch Nora war ihm gegenüber sehr verschlossen. Sie gab sich betont distanziert, irgendwie unnahbar.

Sie hat aus irgendwelchen Gründen einen Schutzwall errichtet, der mich und andere auf Abstandhalten soll, spekulierte er. Vielleicht ist sie einfach sehr verletzlich.

Umso mehr hatte er sich gefreut, als sie seiner Einladung zusagte! Ein lautes Zischen riss ihn aus den Gedanken. Wie von der Tarantel gestochen jagte Tino in seine spärlich eingerichtete Küche, griff nach einem Lappen und zog den blubbernden Kochtopf von der Herdplatte.

Tino hatte lange überlegt, was er einer Vegetarierin überhaupt zum Essen anbieten konnte. Nachdem er haufenweise Magazine durchforstet und festgestellt hatte, dass die Rezepte bei weitem seine Rührei-Künste übertrafen, resignierte er und entschied sich letztlich für Spaghetti. Die gelangen ihm immer, das lag ihm schließlich im Blut! Mit Sojagulasch, das Rezept entnahm er dann doch einer Zeitschrift, frisch geriebenem Parmesan, sowie Pesto und Salat, würde schon etwas für sie dabei sein. Bestimmt mochte sie alles, was Mineralstoffe und Vitamine hatte. Frauen gingen da nach anderen Kriterien.

Er angelte mit einer Gabel eine Nudel aus dem Topf und warf sie mit Schwung gegen den Spritzschutz. Als sie an der Fliese haften blieb, hob er zufrieden den Topf an und kippte die Spaghetti in ein Sieb ab. Die Gulaschsoße blubberte indes auf niedriger Stufe vor sich hin. Soweit war alles fertig! Kannst kommen!, dachte er zufrieden.

Kaum beendete er den Gedanken, brummte auch schon sein Handy. Suchend sah er sich um und entdeckte es schließlich auf der Spüle. »Ja?… Hey Nora! Klar ich öffne sofort, uno momento!«

Tino eilte in den Flur, um den Summer zu betätigen. Aus irgendeinem Grund funktionierte seine Klingel seit diesem Morgen nicht mehr. Das war ihm aufgefallen, als der Postbote wieder davon fuhr, ohne ihm sein Paket auszuhändigen. Tino wohnte im dritten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses, das sich im Randgebiet der Stadt befand.

Er öffnete die Wohnungstür und trat ins Treppenhaus. Von oben konnte er sehen, wie Nora, einen verpackten Strauß Blumen in der Hand, die Stufen herauf kam.

»Hey Tino« sagte sie, lächelte schmal und streckte ihm den Strauß entgegen.

»Hey Nora, wie geht´s?«, fragte er und schaffte es irgendwie, sie an den Blumen vorbei flüchtig zu umarmen.

»Der ist für dich«, erklärte Nora. »Ich muss gestehen, dass ich nicht sehr kreativ war. Keine Ahnung, ob man Männern überhaupt so etwas schenkt?«

Tino zuckte die Achseln und riss ohne Zögern das Schutzpapier auf.

»Das geht in Ordnung. Oh, Sonnenblumen! Die mag ich. Meine kleine Schwester malt die ständig… Sieht toll aus mit dem ganzen Drumherum! Komm rein!«

Nora trat in den schmalen Flur der fünfunddreißig Quadratmeter Wohnung.

Tino war seit Beginn des Monats BWL- Student und wohnte seitdem alleine. Nebenbei jobbte er noch in der Eisdiele seiner Eltern, um sich finanziell über Wasser zu halten. Diese Wohnung war für ihn, nebst seinem Auto, ein hart erkämpfter Luxus.

»Es riecht schon gut«, stellte Nora fest, als sie durch den Raum schritt und sich umsah.

»Tja, die Spaghetti à la Tino stehen bereit!«

Obwohl ihr am heutigen Tag gar nicht danach war, konnte Nora sich ein Kichern nicht verkneifen. Tino bemühte sich wirklich ein guter Klischee-Italiener zu sein.

»Was denn? Die haben fünf Sterne«, brüstete Tino sich.

»Die hast du aber auch nur gesehen, als du da vorne gegen die Wand gelaufen bist«, konterte Nora.

»Jetzt wirst du fies! Hast du die farblich abgestimmte Deko überhaupt gesehen?«

»Entschuldige, das war nur Spaß. Ja, sieht gut aus.« Nora bemühte sich, ehrlich beeindruckt zu wirken. Wäre ich doch bloß nach Hause gefahren! Aber ich kann ihn nicht ständig verprellen. Irgendwie stehe ich seit letzter Woche in seiner Schuld.

»Erzähl mal, wie geht es dir denn so?«, wollte Tino wissen. »Oh entschuldige! Setz dich doch!« Tino wies mit einer höflichen Geste auf das Sofa. »Bin gleich wieder da!«

Mit den Worten verschwand er in die Küche, ohne eine Antwort abzuwarten.

Es strengte Tino an, möglichst munter zu sein. In Wahrheit empfand er Nora als erschreckend ausgemergelt. Dieser müde Blick, die dunklen Ringe unter ihren Augen. Die abgetragene Latzhose trägt den Rest dazu bei.

Nicht, dass sie auf ihn ungepflegt wirkte. Aber auf Tino machte es schon den Eindruck, als würde sie noch weniger aus ihrem Äußeren machen, als sonst. Eventuell auch nur, um das hier nicht wie ein Date aussehen zu lassen?

Tino füllte die Nudeln in eine Porzellanschüssel und dekorierte sie mit einem Strunk Petersilie.

Als der Tisch schließlich vollständig gedeckt war und sie sich einen guten Appetit wünschten, sprachen sie eine Weile lang nicht.

Tino beobachtete seine Freundin argwöhnisch aus dem Augenwinkel, um zu überprüfen, ob sie auch vernünftig aß.

Nora spürte seine Blicke. »Es schmeckt sehr gut, danke«, überspielte sie den unangenehmen Moment. »Wollten wir nicht einen Film sehen?«

»Ja, schon. Ich habe ein paar taugliche DVDs rausgesucht. Da vorne liegen sie«, er deutete auf den Boden vor dem Fernseher, »aber erst würde ich mich einfach gerne etwas mit dir unterhalten.«

»Wieso, ist denn was Bestimmtes?« fragte Nora betont beiläufig und schlang ein paar Spaghetti um ihre Gabel.

»Ne, nur so. Das heißt, du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet. Wie war denn die Arbeit heute?«

»Ganz in Ordnung«, antwortete sie matt.

»Gut. Also, um ehrlich zu sein, mache ich mir etwas Sorgen um dich. Du bist etwas blass und…«

Nora funkelte ihn an.

»Ich meine nur, es ist mir eben aufgefallen, dass du irgendwie geschafft wirkst.«

»Aha. Ist doch normal nach einem langen Arbeitstag. Außerdem bin ich immer blass, im Vergleich zu dir.«

Tino seufzte, Falscher Anfang!

Sie aßen schweigend weiter.

Er wusste fürs Erste nichts mehr zu sagen, bis er es erneut wagte. »Ich meine, wie geht es dir eigentlich mit deinem Job im Bioladen und damit, dass du jetzt alleine in dem Haus lebst? Vielleicht brauchst du ja mal eine feste Ausbildung. Was Richtiges.«

»Etwas Richtiges? Meinst du, ich würde nichts tun und Däumchen drehen?!«

»Nora, so war das doch nicht gemeint! Ich merke einfach, dass es dir nicht gut geht und würde dir gerne helfen deine Probleme zu lösen.«

Nora ließ das Besteck sinken. Sie versuchte sich zu beherrschen, doch sie spürte wie jede Faser ihres Körpers unter Hochspannung stand. Klar, er meint es nur gut mit mir. Andererseits begreift der Junge überhaupt nichts! Das hat mir heute noch gefehlt! »Hast du mich deswegen eingeladen«, entfuhr es ihr, »um mich auszuhorchen? Meinst du etwa, wenn ich ernsthaft Probleme hätte, würde ich mit dir darüber reden wollen?!«

»Nora, bitte… ich..« Die Worte seiner Freundin versetzten ihm einen Stich.

»Vielleicht hast du das in deiner kleinen, beschränkten Welt noch nicht gemerkt«, unterbrach sie ihn, »aber es gibt echt andere Probleme als die Frage, wie man möglichst angepasst ist!«

»Was?! Das wollte ich doch gar nicht damit sagen! Und so bin ich auch überhaupt nicht!« Tino wusste kaum noch etwas entgegenzusetzen. Er fühlte sich überfahren von Noras unerwarteter Reaktion.

Nora hielt inne, als sie die Erschütterung in Tinos Gesicht sah. Ich muss mich zusammenreißen, sonst ist das eine Bestätigung für ihn und er fühlt mir erst recht auf den Zahn!, schlussfolgerte sie, nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft kontrolliert wieder aus.

»Es tut mir leid Tino. Du hast dir wirklich Mühe gemacht, aber ich kann das einfach nicht. Ich gehe.«

»Aber wieso?! Nora, das ist doch nicht normal, wie du dich verhältst! Warte! Sag schon, was ist los mit dir?«

Nora schüttelte den Kopf und nahm ihren Parka von der Garderobe. »Ich kann es dir nicht sagen.«

Tino stellte sich ihr in den Weg. »Nimmst du Drogen oder was?!«

»Quatsch! Und jetzt lass mich einfach vorbei! Sofort!«

Tino ließ die Schultern hängen und machte einen Schritt zur Seite, um den Weg frei zu geben. »Wie du meinst«, sagte er mit rauer Stimme.

Nora glitt ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und war kurz darauf im Treppenhaus verschwunden.

Im Bann der Mondpilger

Подняться наверх