Читать книгу David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel - Adam Fuchs - Страница 12
ОглавлениеDas Rothe Amt
Vom Weg her erkennt man vorn schon die Dächer des Vorwerks und rechts das Gehöft des Amtmannes.
Damals standen dort nur die Stallgebäude und quer dazu ein einfaches Wohnhaus.
Mittlerweile hat der heutige Amtmann Andreas von Unger ein prächtiges großes Haus im modernen Stil an die Stelle setzen lassen und ich kann sagen, dass Unger, der fast täglich auf meiner Baustelle erscheint, die Idee für sein Haus, nun sagen wir mal, von mir übernommen hat.
Immerhin war er sich nicht zu fein, meinen Kontakt zum damals sehr bekannten Baumeister Hermann Korb zu nutzen und diesen die Pläne für sein Haus machen zu lassen.
Aber ich schweife ab. Ich wollte doch erzählen, wie Herr Günther unsere kleine Schar "nach Lecheln" führte, wie er sich ausdrückte.
"Wir gehen jetzt nach Lecheln, Jungs, und zwar so, wie es die alten Germanen schon getan haben.“
Hinter dem Gehöft des Amtmannes verläuft ein Weg zwischen den Feldern hindurch bis hinunter an die Oker.
Diesem folgten wir und kamen nach weniger als einer viertel Meile an unserem Hof vorbei, der ja direkt am Weg und an der Oker liegt.
Zum Fluss geht es hier ganz gemächlich hinunter, nicht mit so hohen Böschungen wie sonst an der Oker.
Da es warm war an dem Tag, zogen wir unsere Schuhe und Pantinen aus und wateten in das flache Wasser.
Wenn es längere Zeit nicht geregnet hat, steht das Wasser hier unten gerade mal bis zu den Knöcheln, aber im Frühling, nach der Schneeschmelze, da ist es so tief, dass man darin ersaufen würde.
Wir plantschten ein bisschen und spritzten uns nass, wobei Rheyn lieber neben Herrn Günther auf dem Ufer geblieben war, wahrscheinlich weil er schon ahnte, dass er möglicherweise gestolpert und vollständig ins Wasser gefallen wäre, wenn er sich hineingewagt hätte.
"So, jetzt stellt euch vor, ihr seid die Germanen und kommt mit euren voll beladenen Eseln von Westen her und wollt zu eurem Dorf.“
Unser Lehrer war jetzt ganz und gar in der alten Zeit angekommen und wir bereit, ihm zu folgen.
„Die Esel werden natürlich von den Sklaven geführt.
Und beeilt euch, oben warten schon die Händler, wir wollen noch in der Helligkeit unsere Geschäfte abwickeln!", kommandierte er, während wir uns imaginäre Stricke über die Schultern warfen und mühsam an den Eseln zerrten, die sich sträubten, durch das Wasser zu gehen.
Beim Hochklettern auf das trockene Land versetzte mir Feist einen kräftigen Hieb auf den Hintern und brüllte: "Los, du lahmer Esel. Beweg dich! Wir haben noch mehr vor heute!"
Ich keuchte unter meiner Last und machte den Rücken ganz krumm, um das voll beladene Tier aus dem Wasser zu ziehen.
"So, jetzt habt ihr die Furt durchquert und sammelt euch am anderen Ufer, ihr Sklaven der Germanen", rief Herr Günther uns zu.
„Und hoch mit euch den Weg entlang hinauf zum Stapelplatz.“
Ich musste erst mühsam meine Socken über die nassen Füße ziehen und mich in die Stiefel quälen, während die Bauernbuben flugs in ihre Pantinen geschlüpft und losgelaufen waren.
Als ich unsere kleine Sklavengruppe wieder eingeholt hatte, war diese bereits an unserem verfallen Gehöft angelangt.
"Hier hatte in alten Zeiten ein Gerber seinen Hof", hörte ich gerade unseren Lehrer erzählen. „Der brauchte das flache Wasser, um die gegerbten Felle auszuwaschen.“
"Ausrecken nennt man das", platzte es naseweis aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte, wie ungehörig es ist, einen älteren Herrn zu belehren.
"Ja, mein Junge, ich weiß, da kennst dich da besser aus. Ihr macht ja auch heute noch Leder hier in der Abdeckerei. Der Herzog hat jedenfalls damals an die Stelle, an der die Gerberei stand, das Haus für den Scharfrichter hinbauen lassen, damit der auch gleichzeitig seine Abdeckerei betreiben kann.“
Sieh an, das hatte ich noch nicht gewusst. Da konnte ich doch beim Abendessen der Familie gleich mal ein paar interessante Neuigkeiten, die ihnen bestimmt noch nicht bekannt waren, mitteilen.
Wir wanderten weiter auf dem Sandweg, der sich von der Oker aus stetig aufwärts bewegt.
Kurz vor dem Vorwerk kamen wir an der Kate der alten Mette an. Es ist dies eine Frau, mit der schon mein Vater und später auch der Hans immer wieder Schwierigkeiten hatten.
„An dieser Stelle hat der Herzog ein Wachhäuschen und gegenüber einen Ausschank hinbauen lassen“, verkündete Herr Günther soeben. "Stellt euch vor, jetzt treten wir durch das alte Tor des Ortes Lecheln und kommen mit unserem Gepäck an der Wache vorbei. Natürlich müssen die Wachleute nachschauen, was wir alles auf den Eseln haben. Derweil können wir uns im Ausschank niederlassen und uns ein Dünnbier schmecken lassen.“
Die alte Mette mit ihrem zahnlosen Maul stand mit der Forke in der Hand vor ihrer elenden Kate und krächzte uns an, bei ihr gäbe es kein Dünnbier und für den Schinder sein Jung schon gar nicht und der soll mal lieber dafür sorgen, dass es nicht so stinkt auf seinem Hof und dass es ja nicht zum Aushalten ist.
Gott sei Dank waren die Wachleute schnell fertig mit der Begutachtung unseres Gepäckes und Herr Günther führte uns durch das alte Tor, das er mit seinen zwei Händen anzeigte, ins Dorf.
"Seht ihr? Hier ist Lecheln! Hier, genau hier ist das alte Dorf gewesen, die Wohnstatt des Segestes, dem alten Cheruskerführer, der Handelsplatz am Okerufer an der großen Wegekreuzung von Ost nach West und von Nord nach Süd!"
Unser Anführer wurde plötzlich von einer Begeisterung ergriffen, die ihn völlig seine Umgebung vergessen ließ.
Er breitete die Arme aus und zeigte in die jeweilige Richtung, hatte dabei das Gesicht erhoben und schien darauf zu warten, dass Herr Segestes höcht persönlich herabschreitet aus seinem Castrum, um ihn zu begrüßen.
Ich muss sagen, ich war schon sehr beeindruckt damals von der Art, wie unser alter Lehrer uns die Vergangenheit vor Augen führte und ich war mir völlig sicher, dass es so und nicht anders gewesen sein musste.
Wir schauten allerdings ein wenig verlegen drein, denn vom Vorwerk, das genau vor uns lag, schauten zwei Mädchen herüber und kicherten. Wir ließen unsere Eselsstricke, die wir gerade noch über den gekrümmten Schultern getragen hatten, unauffällig fallen und kickten uns die Kieselsteine auf dem staubigen Weg zu.
Herr Günther merkte nichts von den kichernden Mädchen. Auch die zwei Mägde, die sich mit Wäschekörben unter dem Arm dazugesellten, bemerkte er nicht.
Fasziniert lauschten diese, als er mit wedelnden Händen erklärte:
"...und den so entstandenen Hof ließ er gut befestigen, um nicht neidischen Stammesgenossen in die Hände zu fallen.
Befestigen hieß, er ließ seine Fachwerkhäuser mit einem Wall aus geschichteten Steinen umgeben, wie man sie unten in der Mergelkuhle findet.
In den Augen der Römer, die ihre Häuser in Stein bauten und überall, wo sie sich niederließen, als Erstes ein "castrum", also ein befestigtes Lager, anlegten, waren diese germanischen Höfe aus Holz-Lehm-Scheiße-Häusern unglaublich primitiv.
Es soll auch - für einen Römer - unerträglich gestunken haben, weil die Germanen sich nicht in Thermen im heißen Wasser ahlten.
Sie schnitten auch ihre Haare nicht nach Art der Römer, sondern ließen sie wachsen und rieben sie darüber hinaus auch noch mit Butter ein, was einen üblen ranzigen Geruch erzeugt haben soll.
Ihre Kleidung war aus Fell und Wolle hergestellt, die, wenn man sie nicht ordentlich behandelt, auch ganz übel nach Tier stinken kann.
Die Römer schrieben gern an ihre Bekannten und Verwandten nach Rom und berichteten von den "barbari", den Fremden oder Wilden in Germania. Sie machten sich auch lustig über die Behausungen, auf die die germanischen Stammesfürsten so stolz waren.
Spöttisch bezeichneten sie die ummauerten Höfe ebenfalls als castrum, wobei den germanischen Bewohnern dieser Spott völlig entging, weil sie ihn nicht verstanden haben.
Weil "castrum" so gut klang und so herrschaftlich und fürstlich, nannten sie fortan ihre Ansiedlungen selber auch castrum.
Segestes, der so viel auf seine guten Kontakte mit den Römern hielt, nannte seine "Burg" großartig "castrum lechidi", die mit Steinen umgebene Burg.
Seine römischen Handelspartner werden sich in ihren Steinhäusern in den echten "castri" auf die Schenkel geschlagen haben.
Dennoch machten sie gerne Geschäfte mit ihm, weil er interessante Dinge liefern konnte und durch die Lage seines Gehöftes auch ein guter Verbindungsmann in den weiteren Osten war.
Segestes selber züchtete die großen germanischen Bärenhunde, diese riesigen, gelben Viecher, die von den Römern in Kämpfen als abschreckende Ungeheuer eingesetzt wurden.
Vom Gerber, der unten am Fluss siedelte, bezog er Felle und Leder.
Am besten verkaufte sich das schwarze Leder aus Hundehaut, da Hunde ja bekanntlich keine Schweißporen besitzen und daher das Leder aus ihrer Haut wasserdicht ist. Daraus wurden die "caligula", die Soldatenstiefel hergestellt.
Mit ihnen konnte man durch das Wasser waten, ohne nasse Füße zu bekommen.
Das war wichtig für die Soldaten, die in Germanien eingesetzt waren. Sie kamen aus dem Süden, wo es meistens heiß und trocken ist. Hier bei uns ist es - aus römischer Sicht - meistens kalt, feucht, nebelig und sumpfig.
Die römischen Soldaten hassten Germanien wegen des Wetters und wegen der Sümpfe. Aber mit den Hundestiefeln konnten sie wenigstens ihre Füße einigermaßen trocken halten.
Und die germanischen Frauen waren gut im Weben.
Sie bekamen feine Wolle von den römischen Händlern geliefert und fertigten daraus wunderschöne Stoffe, in die farbige Muster eingewebt waren.
Häufig stellten diese Muster Waldpflanzen, gerne auch ineinander verschlungene Ranken dar.
Da die Römer von zu Hause keinen Wald kannten, fanden sie die Muster fremd und geheimnisvoll.
Wollten sie ihren Damen in der Heimat eine Freude machen, brachten sie ihnen fein gewebte, farbige und reich verzierte Wollumhänge mit. Wahrscheinlich wurden die in Rom an die Wände gehängt oder über die Liegen drapiert, wenn man sich zum Essen niederließ. Denn um sie als Mäntel zu tragen, wie die germanischen Frauen es taten, dürfte es dort wohl etwas zu warm gewesen sein.
Die gleichen Muster verwendeten die germanischen Frauen, wenn sie mit einem Stichel Muster in Lederhäute stichelten und daraus wunderschöne Gürtelschnallen fertigten.
Auch die waren äußerst beliebt bei den römischen Damen.
All das konnte Segestes beschaffen und handelte sich dafür feines Geschirr, Silber und vor allem Glas ein. Das römische Glas hatte es den Germanen angetan, denn so etwas kannten sie nicht.
Insbesondere Segestes Eheweib, die üppige Barbara aus dem Stamme der Friesen, liebte Glasperlen über alles.
Ihren Namen hatte sie übrigens aus einer Begegnung ihres Stammes mit den ersten Römern, die nach Germanien kamen. Aber davon erzähle ich euch lieber ein anderes Mal."
"Der meint dich", kicherte laut eine Stimme über den Vorwerkszaun. Die dralle Barbara! Ich lach mich tooot! Die dralle Barbara hats mit nem Rööömer! Das ist ja zum Umfallen komisch. Das muss ich erzählen!" Herr Günther wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen und schaute grimmig die beiden Mägde hinter dem Zaun an, von denen eine tatsächlich eine recht üppige Figur hatte.
Ihr Gesicht war tiefrot angelaufen und ihren Wäschekorb hatte sie wütend auf den Boden gestellt.
"Wenn du auch nur ein einziges Wort erzählst von diesem Unfug da und hier verbreitest, ich hätt was mit nem Römer, dann kriegs dus mit mir zu tun", schrie sie und packte mit kräftiger Faust den Zopf, der hinten aus dem Kopftuch der zweiten Magd hing.
Sie riss daran und zog ihrer Gegnerin den Kopf herunter, während die vor Schmerzen schrie und wütend mit den Holzschuhen nach der Widersacherin trat.
Die beiden kleinen Mädchen schauten fasziniert zu und fragten in unsere Richtung: "Was issen 'n Rööömer?"
"Dazu seid ihr zu blöd. Das kapiert ihr nich", erklärte Feist und die Mädchen waren es zufrieden. Der Kampf der beiden Mägde war auch bei weitem spannender.
"Ihr hört auf der Stelle auf damit", brüllte Herr Günther.
"Ich werde euch beim Amtmann melden und dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt. Hier auf dem Vorwerk bestimmt nicht. Geht an eure Arbeit und kümmert euch nicht um Dinge, die ihr nicht versteht. Und ein bisschen dalli!"
Die Mägde wischten sich mit den Handrücken über die Stirn, rückten ihre Kopftücher zurecht und klemmten sich mit roten Gesichtern ihre Wäschekörbe unter den Arm, um damit zur Bleichwiese zu ziehen.
"Weiber haben keinen Verstand. Das stelle ich immer wieder fest. Das war bei meinen Frauen so und das ist auch bei anderen Frauen nicht anders. Sie sind dumm geboren und lernen nichts dazu. Der liebe Gott hat sie nicht dafür geschaffen!"
Das werde ich lieber nicht meiner Mutter erzählen, sonst geht sie höchstpersönlich zum Dorfschulmeister und „macht ihn zur Schnecke", wie sie das gerne nennt.
"Und aus Schnecken macht man Hustensaft, dann kann er sich noch mal nützlich machen", pflegte sie hinzuzufügen.
Meine Mutter sammelte bei feuchtem Wetter immer im Garten die Nacktschnecken ein, legte sie in ein Sieb und streute schönen weißen Zucker darüber. Die armen Tiere fingen sofort an, sich fürchterlich zu winden und zu drehen, aber es half nichts, sie lösten sich durch den Zucker auf und flossen als sämiger Saft durch das Sieb in einen Tontopf.
Wenn nur noch Augen und Gedärm im Sieb lagen, wurde es geleert und die nächsten Schnecken mussten ihre Reise antreten. Der Saft in dem Tontopf wurde noch versetzt mit etwas Salbei und Löwenzahnwurzel und später im Winter den hustenden Kindern verabreicht.
Der Hustensaft meiner Mutter war berühmt für seine schnelle lindernde Wirkung und ich bin mir ziemlich sicher, dass keines der Kinder ahnte, was es dort zu schlucken bekam.
Bei dem Gedanken, dass unser Schulmeister als Schneckensaft in einem Medizinfläschchen meiner Mutter enden könnte, konnte ich einfach nicht an mich halten. Das Lachen prustete aus mir heraus, egal, wie fest ich meine Hand auf den Mund presste.
"Was ist mit dir", schimpfte Herr Günther, "geht es dir nicht gut?"
"Ich habe solchen Heu- Heu- Heuschnupfen", fiel mir gerade noch eine Erklärung ein, während ich mir mit dem Handrücken den Rotz von der Nase wischte.
"Dann sei mal froh, dass du kein Bauernjunge bist, denen geht es richtig schlecht mit so etwas!"
Darüber bin ich allerdings froh. Manchmal ist es nicht einfach, abfällig als Sohn des Schinders bezeichnet zu werden, aber immer noch besser, als ein Bauerntölpel zu sein.
Mittlerweile hatten wir das Rothe Vorwerk respektive das Dorf Lecheln umrundet und kamen dort an, wo sich der Stapelplatz befunden haben soll. Herr Günther ließ uns anhalten und fuhr in seinem Vortrag fort: "Seht ihr? Diese große Wiese hier, auf der heute unser Schützenhaus steht, liegt etwas erhöht, aber nicht weit entfernt von der Furt.
Hier konnte man nach dem Durchqueren des Wassers seine Waren stapeln und auch die Waren der anderen Kaufleute begutachten. Seht ihr? Von dort oben kamen sie und von dort .."
Er zog eine imaginäre Linie von den Assebergen bis hinüber nach Adersheim und vom Harz in Richtung Braunschweig.
"Und weil der Stapelplatz eigentlich nur eine große Wiese war, wurde er „der Grüne Platz“ genannt, so, wie er auch heute noch heißt.
Segestes war nicht der einzige germanische Stammesfürst, der hier in der Gegend ein Gehöft hatte und mit den Römern handelte", ging es weiter.
"Im Grunde könnt ihr davon ausgehen, dass alle alten Orte, die ein "um" im Namen führen, einmal ein "castrum" gewesen sind, so wie Ohrum, Dahlum und so weiter.
Aus dem castrum lechidi wurde später das Dort Lechede, das ziemlich bedeutsam wurde, weil es nicht nur an dem Weg zur Weser lag, sondern auch an der Handelsstraße, die vom Harz bis an die Nordsee führte und auf der die langen Stämme der Harzbäume transportiert wurden, die für den Bau von Schiffsmasten benötigt wurden.
Auf dem Rückweg brachten die Händler Muscheln von der Nordsee mit, deren Innenseite benötigt wurde für die wunderbaren Holzeinlegearbeiten, die in den Bergen hergestellt wurden.
Auf dem Weg dorthin hatten die Germanen auf einer Anhöhe einen Versammlungsplatz, den wir heute die Werla nennen, von wo aus man weit weit in das Land schauen kann, weshalb man dort auch einen außerordentlich guten Blick hatte auf Feinde, die es wagten, aus dem Osten hier einzudringen.
Den weiteren Weg in den Norden, der durch Braunschweig führt, den kennt ihr ja. Es ist der Fahrweg, der oben an der Richtstätte vorbeiführt.“
Ja, da hatte er Recht, der alte Herr Günther.
Damals sagten wir noch Fahrweg zu dieser Verbindung, heute sprechen wir vom Alten Weg, weil es inzwischen auch einen neuen Weg gibt, den unser heutiger herzöglicher Bruder die Gnade hatte, für sich und sein Gefolge anlegen zu lassen.
Freundlicherweise darf auch ich ihn mit meiner lieben Frau für unsere Ausfahrten nach Braunschweig benutzen, obwohl ich nicht eigentlich zum Gefolge gehöre, aber dennoch ein herzögliches Amt bekleide.
"Warum heißt das Lechelnholz Lechelnholz, Thies??" kam die laute Frage an einen der Bauernjungen, der gerade seinem Nachbarn gegen den Knöchel getreten hatte.
"Ähm, also, das heißt so, weil - weil... Wie soll es denn sonst heißen", kam die etwas dürftige Antwort.
"Weil es der Rest von dem Wald ist, der mal bis hier zum Dorf Lechede reichte", ergänzte Klein Rheyn eifrig.
"Ja, weil es der Rest des Waldes ist, ansonsten richtig."
Wir hörten noch viel über Glasperlen und Römer und Cherusker und Bierausschank und ganz ehrlich, am Ende war sogar ich, der ich mich im Allgemeinen sehr interessiere für die Lebensgewohnheiten unserer Vorfahren, ein wenig ermattet.
Jedenfalls wussten wir jetzt, dass das Dorf Lecheln früher einmal genau da gewesen ist, wo sich heute unser Vorwerk, genannt das Rothe Amt, befindet.
Alles klar. Aber ganz ehrlich, bei all den vielen Erklärungen, die wir gehört und nur zu einem kleinen Teil verstanden hatten: Wo ist denn dieses Dorf abgeblieben? So ein Ort verschwindet doch nicht ganz einfach so, oder?
Ich traute mich natürlich nicht, eine solche Frage zu stellen, aber Herr Günther war ja auch noch nicht ganz fertig mit seinem Vortrag und zu guter Letzt sollten wir es endlich erfahren:
„Als sich die so genannte "Vorstadt" vor der Burg Wolfenbüttel immer weiter ausgebreitet hat und gleichzeitig die Lecheder Bewohner immer wieder erleben mussten, dass ihr Dorf angegriffen wurde, da haben sie gerne das Angebot des Herzogs angenommen, sich innerhalb der neuen Dammfestung anzusiedeln.
Das war ja auch einfach. So ein aus Fachwerk gebautes Haus lässt sich nicht nur schnell auf-, sondern auch ganz schnell wieder abbauen.
Die Lecheder nahmen quasi ihre Häuser wie Lazarus sein Bett, luden sie auf Karren und zogen damit in die Dammfestung, wo sie ihre Häuser wieder aufbauten. Ihre Toten durften sie dort auch bestatten.
Und irgendwann durften sie dort auch am Gottesdienst teilnehmen.
St. Stephanus (das war die Kirche in Lechede) wurde dadurch immer unbedeutender.
Erst brauchte man den einen Pfarrer nicht mehr, dann den zweiten nicht. Die Kirche war durch Kriegseinwirkungen auch immer wieder beschädigt worden, bis der Tag kam, als sie nur noch als Ruine da stand.
Das Dorf verlagerte sich langsam in Richtung Dammfestung und irgendwann gab der Halberstädter Bischof auch die Kirche auf.
Und so verschwand das Dorf Lecheln von der Landkarte. Es blieb nur noch als "Wüstung Lecheln" in Erinnerung und als Name des Waldes "Lechelnholz".
Also kann ein Dorf offensichtlich doch verschwinden, wer hätte es gedacht.
Als wir uns abends beim Essen versammelten, wollte Hans wissen, was wir denn heute gelernt hätten.
"Wir haben gelernt, dass die alten Germanen dort gewohnt haben, wo unser Gehöft an der Oker ist", erklärte mein Bruder Henrich.
"Und dass es dort Wälder und Sumpf und eine Furt gab", ergänzte ich. "Und die Germanen haben große Hunde gehabt, die ganz fürchterlich waren und im Krieg als Ungeheuer eingesetzt wurden!"
"Genau, und es gab eine dralle Frau, die hieß Barbara, und die lebt heute auf dem Vorwerk", fügte ich an.
"Du hast das alles nicht verstanden", quengelte mein Bruder und tunkte sein Brot in die Suppe. "Die Barbara war die Frau von diesem Segestes oder wie der hieß und die ist schon lange tot!"
"Und wer war dieser Segestes?", wollte Hans wissen.
"Das war ein Germane, ein Vorfahre von uns", klärte Henrich ihn auf.
Unsere Mutter bemerkte dazu, dass sie sich in der Familiengeschichte recht gut auskennen würde, aber ein Segestes oder eine Barbara seien ihr nicht bekannt.
Ich konnte hören, wie sie dem Hans leise zuraunte, ob er es für eine gute Idee hielt, dass wir Jungen weiterhin für gutes Geld solchen Unfug lernen würden.
"Ach, schaden tut es ihnen nicht", gab er zurück. Und vielleicht ist ja an der einen oder anderen Geschichte des Alten etwas dran."
Damit war das Thema erledigt und Henrich und ich gingen weiterhin in die Stube des alten Günther und hörten famose Geschichten über unsere Heimat.