Читать книгу David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel - Adam Fuchs - Страница 13
ОглавлениеDer Richtplatz
Wir übten uns weiterhin im Rechnen, im Schreiben und im Lesen und hörten die vielen Geschichten über unsere Heimat, die sich mir durch das ständige Wiederholen fest eingeprägt haben.
So hörten wir über das Dorf Salzdahlum, welches von uns gut eine Fußstunde entfernt hinter dem Lechelnholz liegt, dass dort schon die ersten Menschen in großen Pfannen Salz gesiedet haben sollen.
Oder über den Elm und die Asse, wo die alten Germanen zur Sommersonnenwende große Feuerräder von den Hügeln gerollt und die Nacht durchgefeiert haben.
An einem besonders heißen Tag im Sommer mussten wir einen Plan anfertigen, wo einst das Dorf Lecheln gelegen hat mit der Furt und dem Stapelplatz und allem, was wir gelernt hatten.
"Wir recapitulieren", nannte Herr Günther das. Und es war besser, auf dem Plan kein Detail zu vergessen, von dem er uns erzählt hatte, denn er erinnerte sich leider doch ganz genau, was er schon zum besten gegeben hatte.
Wir saßen in der Stube, draußen war es warm, die dicken grünen Scheißhausfliegen brummten herum und wir malten mit eingeklemmter Zunge und verkrampften Fingern einen Plan des Dorfes auf unsere Tafeln.
Während es in der Stube warm und wärmer wurde, stand Herr Günther mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Fenster und murmelte im Hinausblicken:
"An einem solchen Tag könnte man in der Asse den brennenden Dornbusch entdecken!"
Wir schauten hoch und verstanden nicht, wovon er sprach.
Die Geschichte mit dem brennenden Dornbusch spielte doch sonst in diesem heißen Land Ägypten oder wie das hieß und wurde vom Pfarrer aus der Bibel vorgelesen. Was hatte unsere Asse mit diesem Ägypten zu tun?
"An Tagen wie heute“, murmelte Herr Günther vor sich hin, „an denen die Sonne so heiß brennt, kann es passieren, dass man an den Südhängen der Asse einen brennenden Dornbusch entdecken kann."
Also doch, wir hatten richtig gehört. Erwartungsvoll sahen wir unseren Lehrer an.
"Es handelt sich um ein Rosengewächs, den Diptam", grummelte er weiter, ohne uns dabei anzusehen.
„Der wächst gerne dort, wo es trocken und sehr warm ist, so eben auch auf den heißen trockenen Südhängen der Asse. Seine Blätter enthalten sehr viel so genannte ätherische Öle, die dafür sorgen, dass er sehr stark duftet. Ätherische Öle sind ganz leichte Öle, die in die Luft aufsteigen und verfliegen.
Wenn die Sonne im Sommer besonders heiß scheint, dann kann es passieren, dass der Diptam so viel Öl verströmt, dass die Sonne dieses in Brand setzt und dann sieht der Busch aus, als ob er brennt. So wie es die Israeliten gesehen haben, als sie mit Moses durch die Wüste gezogen sind."
So erzählte Herr Günther diese Geschichte, die wir alle aus der Bibel kannten und uns Buben stand der Mund offen.
Das konnte doch nicht wahr sein, dass der brennende Dornbusch, den der Moses auf seiner Wanderung ins gelobte Land unterwegs in der Wüste entdeckt hatte und aus dem der liebe Gott mit ihm geplaudert hatte, jetzt plötzlich hier bei uns in der Asse wachsen sollte.
"De vertellt'n Schiet", hörte ich ganz leise einen der Jungen flüstern.
Günther hatte es nicht gehört, Gott sei Dank. Oder etwa doch? Manchmal bin ich mir da nicht mehr so sicher.
"Im Sommer, wenn es längere Zeit heiß ist, dann findet man oben in der Asse diese Büsche und sieht die Flammen lodern.
Aber ich verrate euch nicht, wo die Stellen sind. Ihr bringt es fertig und geht da rauf und macht den Diptams den Garaus.“
Damit war für heute das Geschichtenerzählen vorbei und wir stellten unsere Recapitulationswerke fertig.
Mein Bruder Henrich war an diesem Tag nicht mit zum Unterricht gekommen. Er muss es geahnt haben und würde sich einen feixen, wenn er erfährt, wie wir uns in der muffigen Stube quälen mussten.
Henrich fand, er könne gut genug lesen und schreiben und die Geschichten aus vergangenen Zeiten faszinierten ihn bei weitem nicht so sehr wie mich.
Meine Mutter war ganz seiner Meinung und Hans hielt sich heraus. Wenn der Junge lieber das Handwerk lernen wollte, dann sollte er auch. Auch wenn der Vater sich gewünscht hätte, dass er in eine richtige weiterführende Schule gehen sollte, so hatte meine Mutter diese spinnerte Idee ihres verstorbenen Mannes schon längst ad acta gelegt und das zu Henrichs größter Zufriedenheit.
Mein Bruder brannte regelrecht darauf, das Handwerk eines Scharfrichters zu lernen.
So erzählte er nach der Suppe, dass er zusammen mit Hans oben auf der Richtstätte gewesen war, wo sie die Räder überprüft hatten, die die Zimmerleute aus der Stadt hatten aufstellen müssen.
Die hätten sich reichlich geziert und seien nicht leicht zu bewegen gewesen, die großen schweren Gestelle aufzubauen.
Der Herzog habe sehr streng anordnen müssen, dass die Arbeit durch die Zunft der Zimmerleute zu absolvieren ist und das alsbald, da drei Verurteilte drauf warteten, gerichtet zu werden.
Erst nachdem der Zunftmeister höchstpersönlich beim Herzog hatte vorstellig werden müssen, war er bereit gewesen, mit seinen Leuten bei Hans auf der Richtstätte zu erscheinen und sich zeigen zu lassen, worauf es bei ihrer Arbeit ankommt.
Der erklärte ihnen dann ganz genau, wie zunächst die zu Richtenden auf ein Gestell gespannt werden, auf dem kleine Höcker angebracht sind und der Körper des Delinquenten so auf dem Gestell platziert wird, dass die Höcker unter den Gelenken liegen.
Dann wird mit einem schweren Rad, das von einem scharfkantigen Eisenreifen eingefasst ist, von oben auf die Knochen eingeschlagen, bis diese brechen, wobei die Höcker unter den Gelenken dafür sorgen, die Kraft des Rades auch von unten wirken zu lassen und die Knochen vollständig durchzubrechen.
Gewöhnlich fängt man an einem Fußknöchel mit dem Schlagen an und arbeitet sich hoch bis zu den Armen, um den Ablauf auf der anderen Körperseite zu wiederholen.
Anschließend wird der Delinquent von der Unterlage entfesselt und auf das Rad geflochten, das eine genau vorgeschriebene Anzahl von Speichen hat, meist zwischen vier und acht, die im Urteil festgelegt wird.
In diese Speichen wird der Körper, der durch die zerbrochenen Knochen und Gelenke vollständig biegsam ist, hineingeflochten.
Je mehr Speichen durch das Urteil verhängt wurden, desto mehr muss der Körper verbogen werden, was dem noch Lebenden zusätzliche Qualen und unsereins zusätzliche Mühe bereitet.
Das Rad wird dann auf einem dicken stabilen Stamm hochgezogen, so dass der Gerichtete obenauf in der Sonne liegenbleibt und nur noch abwarten kann, bis das Leben ihn verlässt. Das kann je nach vorheriger Konstitution mehrere Tage dauern.
Danach bleibt der Leichnam dort oben so lange liegen, bis die Krähen das Fleisch vollständig weg gehackt haben.
Erst wenn das Skelett anfängt, eine weißliche Farbe anzunehmen, wird der Radbaum wieder umgelegt und die Knochen auf dem Richthügel verscharrt.
Damit das Rad stabil steht und nicht etwa durch Wind oder Unachtsamkeiten umfällt, muss es einen kräftigen dicken Stamm haben, der zudem noch mit einem Scharnier versehen sein muss, damit er auf- und niedergelegt werden kann.
Auch eine Vorrichtung für die Zugseile muss angebaut sein, dazu Rollen, Gewichte und Befestigungszapfen, damit die Zugseile nicht versehentlich zurückschnellen und den Baum wieder umkippen lassen. Der Baum hat eine leicht konische Form, was heißt, unten hat er einen größeren Durchmesser als oben, wo das Rad aufliegt.
Auf diese Weise bekommt er einen stabileren Stand, auch wenn es stürmt, denn die Richtstätte dort oben auf dem Galgenberg liegt nach Westen hin völlig frei, so dass sie recht stark dem Wind ausgesetzt ist. Das ist auch nötig, sonst würden die Leichen zu langsam verwesen und zu einer andauernden Geruchsbelästigung der Vorbeireisenden werden und sicher auch eine Gesundheitsgefährdung darstellen.
Das Alles, so erzählte Henrich mit glänzenden Augen, den genauen Ablauf der Hinrichtung und die Verwendung des Rades habe Hans dem Zunftmeister erläutern müssen, damit der seine Zimmerleute anweisen konnte, wie sie zu arbeiten hatten.
Der Zunftmeister sei während dem immer blasser geworden und schließlich in den Wald gegangen, um sich zu übergeben.
Henrich lachte aus vollem Halse, als er schilderte, wie der Handwerker gewürgt hatte.
Hans legte ihm die Hand auf die Schulter, damit er sich beruhigte und erklärte ihm, dass nicht jeder Mensch zum Henker geschaffen sei.
Der Eine baue eben lieber die Räder, während der Andere geschickt darin sei, Menschen darauf zu flechten.
Hans hatte meinem Bruder auch gezeigt, wie die Kosten für das Holz, die Nägel, die Seile, die Winden und was alles noch so benötigt wird, sowie die der Zimmerleute und Hilfsarbeiter in das schwarze Buch eingetragen und mit den Handwerkern abgerechnet werden.
Jetzt wusste Henrich endlich, wozu er in der Güntherschen Stube über den vertrackten Rechenaufgaben gesessen hatte und war mächtig stolz auf sich.
"Und die zwei großen Galgen, die sind auch nicht mehr so stabil", sprudelte er weiter.
"An dem kleineren Gestell muss der gesamte Querbalken ausgewechselt werden und an dem hohen Galgen ist die Leiter fast weggefault.
Die hat Hans auch in Auftrag gegeben.
Aber er hat dem Zunftmeister gesagt, das eilt nicht so. Zunächst einmal müssen die Räder fertig gestellt werden.
Und die Blutrinne musste neu ausgehoben werden. Sie war schon ganz schön zugewachsen von Unkraut.
Das haben heute die Knechte gemacht und ich habe ihnen dabei geholfen", erzählte Henrich und seine Augen leuchteten.
Ich glaube, in der Güntherschen Stube wird er ab jetzt nicht mehr sitzen wollen, so begeistert wie er aussah.
"Und morgen, da darf ich das erste Mal mit dem Schwert üben, hat Hans mir versprochen. Und sobald ich damit richtig umgehen kann, darf ich an die Puppen!"
Die „Puppen“, wie wir das nennen, sind unten auf dem Gehöft in einem extra dafür vorgesehenen Schuppen aufgebaut.
An ihnen wird geübt, mit dem schweren Richtschwert einen Kopf mit einem einzigen Hieb abzuschlagen.
Das ist nicht so einfach, weil man neben den Halswirbeln auch noch die dicken Halssehnen durchtrennen muss und schließlich auch die Haut, die alles zusammenhält. Und die ist zäher, als man vermuten könnte.
Darum sind die Hälse der Puppen mit Leder bezogen, da dieses bekanntlich besonders schwer zu durchschlagen ist.
Ist ein Schlag gelungen, können die Hälse mit neuen Ledermanschetten bezogen werden und das Üben kann weitergehen.
An dem Tag, an dem ein Lehrling das erste Mal einen Hals beim ersten Versuch durchschlägt, wird er aufgenommen in den Kreis der Gemeinschaft und man behandelt ihn gleichrangig.
An dem Tag prosten alle Henkersknechte ihm zu und trinken mit ihm Branntwein um die Wette.
Wenn der Neuling das übersteht, kann ihm später nichts mehr etwas anhaben.
Beim Anblick meines Bruders an dem Abend war ich mir vollkommen sicher, dass er in allernächster Zeit breitbeinig unten auf dem Gehöft stehen würde, um die Knechte unter den Tisch zu saufen.
So erzählten sie hin und her und ich saß ganz still in meiner Bankecke. Als ich gerade dabei war, die Stimmen nur noch aus weiter Ferne zu vernehmen und meine Gedanken begannen, aus dem Fenster hinaus und über die weiten Sümpfe der Ovaccra zu entschweben, hörte ich meinen Namen und die Frage:
"Und was habt ihr heute bei Herrn Günther gelernt?"
Ich riss die Augen auf und stellte fest, dass ich wohl doch schon etwas länger geträumt hatte.
Meine Mutter war bereits vom Tisch aufgestanden und machte zusammen mit Lisbeth die Holzschüsseln und Löffel sauber.
Dann wurde mit einem Lappen alles noch einmal "übergewischt" und anschließend noch ein letztes Holzscheit aufgelegt.
"Danach ist Schluss", erklärte meine Mutter in Richtung Hans.
"Wir müssen am Holz sparen, es gibt nicht viel zu kaufen dieses Jahr." "Natürlich, du hast Recht. Bring mir noch einen Becher Bier und dann will ich hören, womit sich David heute den Kopf vollgestopft hat."
"Na, mit was wohl. Mit den Döhnken von dem Alten, die er ständig erzählt.
Wie es hier früher war und wer was gebaut hat und alles so was.
Wer das wohl wissen will", schimpfte sie, brachte einen Becher, aus dem das warme Bier dampfte, stellte ihn vor Hans hin und verzog sich in ihre Vorratskammer.
"Und? Was hat es heute für "Döhnken" gegeben? Oder habt ihr etwa brav gerechnet und Bücher abgeschrieben?"
"Nein", erklärte ich Hans und freute mich übermäßig, dass doch noch jemand hören wollte, was wir heute Erstaunliches gehört hatten.
"Heute hat Herr Günther uns von dem brennenden Dornbusch erzählt und dass es den auch in der Asse gibt und dass an einem Tag wie heute die Flammen daraus lodern würden, ohne dass der Busch verbrennt, und dass er genau weiß, wo man den findet, uns das aber nicht verrät.“
"Einen brennenden Dornbusch? Du meinst, so einen wie bei Moses und den Israeliten? Bist du dir da sicher?"
"Ja, ganz sicher! Das hat Herr Günther so erzählt. Und er sagt, der Busch sei ein Rosengewächs und heiße Diptam.“
"Oh Gott, lass die Geschichte lieber nicht deine Mutter hören", warnte Hans mich.
"Sonst könnte es mit dem alten Günther bald vorbei sein.“
Ich schwor, dass ich niemals ein Sterbenswörtchen darüber erzählen werde und habe es bislang auch nicht getan.
Wenn ich heute diese Geschichte zum Besten gäbe, würde mich die liebe Verwandtschaft wahrscheinlich für verrückt erklären, so wie meine Mutter es mit dem guten alten Günther gemacht hätte.