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Die Rolle

Eines Abends erklärte Hans nach dem Essen, der Herzog habe ihn einbestellt und heute sei er schließlich bei ihm empfangen worden.

"Ich habe heute endlich meine Bestallung zum Scharfrichtermeister in Wolfenbüttel erhalten", erzählte er gut gelaunt und darüber sei er sehr froh und da habe man doch einen guten Grund für eine kleine Feier.

"Allerdings wurde auch ein Thema angeschnitten, über das ich nichts zu sagen wusste", wandte er sich an meine Mutter.

Man habe ihn auf einen Kontrakt aufmerksam gemacht, der mit ihrem verstorbenen Ehemann geschlossen worden sein sollte. In diesem Kontrakt sei Einiges zur Zukunft der Söhne geregelt worden.

Der Herzog habe ihn, Hans, nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es jetzt in seine Zuständigkeit falle, die damals getroffenen Vereinbarungen zu erfüllen.

"Was ist das für ein Kontrakt?", fragte er meine Mutter. "Und wo ist er? Er muss doch hier im Hause sein, er wurde doch deinem Mann selig ausgehändigt.“

Meine Mutter zuckte mit den Schultern. Sie meinte sich zu entsinnen, so etwas gehört zu haben. Aber sie könne sich jetzt nicht mehr genau erinnern, was ihr damaliger Ehemann darüber erzählt hatte.

Meine Schwester Dorothea war es, die sich erinnern konnte.

"Mutter, das war der Tag, als Vater nach Hause kam und so betrunken war! Das musst du doch noch wissen!", rief sie ziemlich laut. "Dorothea, würdest du dich bitte ein wenig zurückhalten..", begann meine Mutter und versuchte, ihre Tochter zum Schweigen zu bringen, was ihr erwartungsgemäß nicht gelang.

"Doch, doch, ich weiß es genau. Der Tag, als Vater auf den Kuchen getreten ist und dachte, das wäre der neue Abtreter.

Da hatte er diese Rolle in der Hand und irgend etwas von Kontrakt genuschelt und von Zukunft und endlich gesichert und lauter solche Sachen."

"Also daran erinnere ich mich nicht", murmelte meine Mutter.

"Ich weiß nur, dass wir ihn mühsam zu Bett gebracht haben und er nicht mehr gesund wurde danach. Von einem Kontrakt oder einer Zukunft haben wir nicht mehr gesprochen. Dazu hatten wir auch gar keine Gelegenheit mehr.

Ich musste ihn ja den ganzen Winter über pflegen, weil er gar nicht mehr zu Kräften kam. Und am Ende ist er mir dann doch unter den Händen weggestorben...“

"Ja", kam Hans dazwischen, "aber wenn er diese Rolle in der Hand hatte, dann wird sie ja auch noch irgendwo sein. Wir müssen alle Räume absuchen, auch wenn es inzwischen schon einige Jahre her ist, dass sie hier abgelegt wurde.“

"Wie soll das Ding denn aussehen?", fragte mein Bruder Henrich.

"Na, wie eine Rolle eben so aussieht, nicht?", erklärte meine Schwester in ihrem üblichen spitzen Ton, den sie sich uns Jüngeren gegenüber seit längerer Zeit angewöhnt hatte.

"Aus Pergament oder Papier. Was weiß ich. Und es war eine Kordel in den Farben des Herzogs darum gebunden und daran wiederum hing ein Siegel.“

"Ich glaube, ich habe so etwas in Vaters Kisten gesehen", meldete ich mich.

"Ich habe mir die Bücher über die Muskeln und die inneren Organe angesehen und da lag so etwas Ähnliches dazwischen.“

"Na, dann lauf aber mal schnell und sieh zu, ob du was findest", befahl Hans und schon war ich unterwegs zu den Bücherkisten und fand auch sofort, was ich meinte.

Ich nahm das zusammen gerollte Papier mit der farbigen Kordel aus der Kiste und rannte zurück in die Küche.

"Na, das nenn' ich doch mal schnell", lobte Hans mich. "Da musstest du aber nicht lange suchen, oder?"

Natürlich musste ich nicht lange suchen.

Ein paar Mal schon war ich dicht davor gewesen, das interessante Schriftstück auseinander zu rollen und nachzusehen, was es enthalten könnte.

Allein das Siegel des Herzogs hatte mich bislang davon abgehalten und jetzt, jetzt endlich würde ich erfahren, was drin stand.

"Ich musste schon ein wenig suchen“, behauptete ich, auch wenn es nicht stimmte.

Vorsichtig erbrach Hans das Siegel und wickelte die Kordel ab.

Drei Bögen aus feinem gebleichten und geleimten Papier kamen zum Vorschein, die sich nach der langen Zeit, in der sie aufgerollt gewesen waren, nicht mehr ganz freiwillig entfalteten.

Hans nahm die Bögen auseinander, strich sie vorsichtig glatt und beschwerte die Ecken mit kleinen Holzstückchen.

Dann las er vor, was mein Vater und der Herzog vor vielen Jahren festgelegt hatten.

Ach, wäre doch dieses elende Papier in seiner Kiste geblieben!

Hätte ich es doch schon viel früher auseinandergenommen und heimlich wieder verschwinden lassen.

Hätte doch der Herzog an Erinnerungsschwäche gelitten und alles vergessen!

Ich kann mich nicht erinnern, jemals so unglücklich gewesen zu sein wie an jenem Abend, als Hans uns die Vereinbarungen zwischen unserem Vater und seinem Landesherrn verkündete.

Dass ich eines Tages die Scharfrichterei erben sollte, das wussten wir schon.

Darüber hatte meine Mutter sich schon reichlich geärgert, steht doch dieses Recht ihrer Meinung nach ihrem erstgeborenen Jungen zu.

Wie aber staunten wir, als wir hörten, dass mein Vater nicht etwa seinen ältesten Sohn hatte zurücksetzen wollen, sondern ganz im Gegenteil!

Er hatte Großes mit ihm vorgehabt.

Ich habe ja bereits erwähnt, dass Herzog August und mein Vater über viele Ideen zu plaudern pflegten, so auch über die Einrichtung einer weiterführenden Schule, die den Schülern aller Schichten zugänglich sein sollte.

Um gleich zu beweisen, wie ernst es ihm mit seiner Idee war, hatte man vereinbart, dass der älteste Sohn des Scharfrichters die "Hochfürstliche Schule", wie sie genannt wurde, besuchen sollte, während der zweite Sohn die Meisterei als Erbe erhalten sollte.

Mein Vater hatte gewollt, dass sein Ältester später einmal als Arzt oder Chirurgus durch das Leben ging.

Meine Mutter wedelte mit der Hand.

"Das sind doch alles nur spinnerte Ideen. Das kann doch nicht ernst gemeint sein. Was soll denn mein Henrich auf der Hochfürstlichen Schule, um Gottes Willen!"

Auch Henrich sah nicht glücklich aus.

Er, der mit so viel Freude auf dem Richtplatz mitarbeitete, er sollte jetzt wieder in eine Schule gehen, dort Latein und Griechisch lernen und anschließend Menschen kurieren.

Wie sehr ich ihn beneidete.

Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als zu lernen und die wunderbaren Bücher meines Vaters in ihren fremden Sprachen lesen zu können.

Und vor nichts graute mir mehr, als dass ich zusammen mit den groben Knechten auf dem Richtplatz weichgeklopfte Menschen auf Räder flechten und ihnen die Köpfe abschlagen sollte.

Um ehrlich zu sein, hatte ich mich bis zu diesem Abend noch nie so richtig mit dem Gedanken auseinander gesetzt, dass ich eines Tages diese Arbeit würde tun müssen.

Eigentlich hatte ich überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, was mir später einmal bevorstand.

Wenn Henrich seine Geschichten von den Gerüsten und den Lederpuppen und den Folterwerkzeugen, die er großspurig "Spielsachen" nannte, erzählte, dann fand ich das sehr unterhaltsam. Aber noch niemals war mir bislang der Gedanke gekommen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis ich ebenfalls an diesem Spiel würde teilnehmen müssen.

Ein dicker Kloß saß in meinem Hals und ich sah betreten zu Henrich hinüber.

Dem ging es kein bisschen besser.

Völlig apathisch starrte er auf die hölzerne Tischplatte und presste seine Lippen zusammen. Es durften keine Tränen aus den Augen treten, das wusste er. Er war schon fast erwachsen und ein harter Kerl zeigte keine Gefühle.

"Vielleicht könnten Henrich und ich ja tauschen", wagte ich einen leisen Vorstoß und sah meine Mutter hilfesuchend an.

"Der Herzog hat es so verfügt, und so wird es gemacht", bestimmte Hans.

"Und hier ist auch noch das Schreiben angefügt, wonach das Haus auf dem Grundstück am Juliusdamm wieder aufzubauen ist.

Auch daran wurde ich heute erinnert.

Und deshalb werden wir schon morgen nach dort fahren und sehen, was zu tun ist, damit wir recht bald auf das Gehöft umsiedeln können, so wie es angeordnet ist.“

"Aber nicht mit mir", meldete meine Mutter sich energisch zu Wort.

"Im Traum denke ich nicht daran, auf dieses einsame Gehöft mit dem nassen Haus zurückzukehren. Und schon gar nicht in meinem Zustand!"

Wir Kinder drehten unsere Köpfe zu ihr.

"Zustand? Welcher Zustand denn?", ließ sich Dorothea mit etwas hoher Stimme vernehmen.

"Na, Zustand eben", blaffte meine Mutter.

"Nachwuchs wird's geben, was denn sonst.“

Wir alle schauten sie ungläubig und wahrscheinlich mit einem ziemlich dämlichem Gesichtsausdruck an.

Unsere Mutter war immerhin vierunddreißig Jahre alt und weiß Gott keine junge Frau mehr.

Ihre dunklen, stets straff nach hinten gekämmten Haare hatten schon reichlich graue Strähnen.

Außerhalb des Hauses trug sie natürlich ihre Haube, da fielen die grauen Haare nicht so auf.

Aber hier, abends in der Küche, da löste sich schon mal der feste Haarknoten ein wenig und einzelne Strähnen hingen ihr in das Gesicht. Nicht, dass ich meine Mutter als alt bezeichnet hätte, aber ...

Jedenfalls erschien Hans uns im Vergleich dazu wie ein älterer Sohn des Hauses.

Sechsundzwanzig Jahre war er jetzt alt und hatte doch schon die Meisterei übernommen.

Und natürlich waren Hans und unsere Mutter verheiratet.

Aber sich vorzustellen, er würde mit ihr... Nein, nein, solch ein Gedanke war bislang völlig abwegig gewesen.

Unsere mit ihren dreizehn Jahren schon sehr erwachsene Schwester Dorothea ließ plötzlich einen unterdrückten kleinen Schrei in höchster Tonlage hören.

Dann sprang sie auf, rannte aus der Küche, warf die Tür so laut in den Rahmen, dass der Hund vor Schreck unter dem Tisch verschwand, und stampfte voller Wut die Treppen hinauf in die obere Kammer.

"Was hat sie denn?", fragte Hans völlig verwundert. "So ist sie doch sonst nicht..."

Ach, er konnte so herrlich naiv sein.

"Nichts hat sie", blaffte meine Mutter. "Rein gar nichts! Sie ist einfach so, wie Mädchen nun einmal sind in einem bestimmten Alter.

Das vergibt sich wieder. Spätestens wenn sie aus dem Haus kommt. Bald wird sie vierzehn und dann werden wir sie nach Schöningen zu meiner Base geben. Dort kann sie noch zwei Jahre Haushalt lernen, bevor sie verheiratet wird."

Wie gut, dass meine Schwester das nicht gehört hat.

Sich verheiraten lassen!

Das würde sie ganz sicher nicht so einfach mit sich geschehen lassen. Ansonsten bin ich mir nicht ganz sicher, ob Dorothea nur in "einem bestimmten Alter" so ist, wie sie ist.

Mir scheint manchmal, da hat sich gar nichts "vergeben", wie meine Mutter das so schön ausgedrückt hat.

David Voss - Scharfrichter zu Wolfenbüttel

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