Читать книгу Behindert! "Wie kann ich helfen"? - Adam Merschbacher - Страница 14

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9. Freunde und Erwartungen

„Blinde sehen mit den inneren Augen mehr als gesunde mit Adleraugen“

(unbekannt)

Die Angst vor dem Umgang mit Behinderten kommt meist daher, dass man mit seinen Erwartungen in Situationen kommt, die natürlich mit den Augen eines oder einer Behinderten nicht genauso gesehen werden.

Deshalb sollte man sich vorher sensibilisieren und sich fragen, was in meinem Gegenüber vorgeht und was man sich aus dieser Perspektive erwarten sollte. Es ist gar nicht so viel, wenn man sich einmal vorbehaltlos darüber Gedanken macht.

Der Mensch wird mit einer Vielzahl von Leidquellen und Sorgen konfrontiert, wie es Sigmund Freud in seinem Werk "Das Unbehagen in der Kultur" analysiert hat und damit auch die Situation des Menschen ganz allgemein in Bezug auf seine Empfindung von Glück und Leid beschreibt. Dies betrifft gesunde und behinderte gleichermaßen. Dagegen muss jeder selbst geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. So betrachtet er es (unter Bezugnahme auf Theodor Fontane) als unabdingbar, die menschliche Existenz mit "Linderungsmitteln" und "Hilfskonstruktionen" einer fortlaufenden Modifikation zu unterziehen und legt dar, dass die Menschheit zu diesem Zweck verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung hat, zwischen denen gewählt werden kann. Die im Sinne von Freuds psychoanalytischer Gesamtkonzeption als Mittel der Leidabwehr einzustufenden Methoden stellen sich in Form der Konzepte der "mächtigen Ablenkung", der „Ersatzbefriedigung“ und der Intoxikation“ dar und werden in seinen Thesen näher erörtert.

Auf diese Umstände aufbauend, lässt sich der Verdacht erhärten, dass es für den Menschen an sich durchaus nicht einfach ist, ein möglichst leidfreies Leben zu führen und somit eine Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz naheliegt. So scheint es wenig verwunderlich, dass sich die Religionen der Welt seit jeher mit diesem Problem beschäftigt haben. Aber betrachten wir lieber die aktuellen, einfachen und naheliegenden Ansichten Betroffener.

Aus meinen Gesprächen mit vielen Behinderten habe ich deren Erwartungen mit ihnen besprochen, wie sie es gerne hätten, dass man mit ihnen umgehen sollte und dabei interessante Antworten erhalten.

Ein Satz ist mir dabei sinngemäß in ähnlicher Form immer wieder begegnet:

„Schließt eure Augen und versetzt euch in meinen Zustand und überlegt mal wie ihr gerne behandelt werden wollt und was ihr dann empfindet und fühlt“.

Jeder Zehnte in Deutschland lebende Mensch hat eine Schwerbehinderung, weshalb es schwer nachvollziehbar ist, dass sich Leute in ihrer Nähe häufig so unsicher fühlen, wie ein Primaner vor dem ersten Schultag. Um euch diese Unsicherheiten zu nehmen und Menschen mit Behinderung weitere Missverständnisse zu ersparen, fragen wir doch einfach einige von ihnen, um ihre Tipps im alltäglichen Umgang zu erfahren.

Monika, 32, gehbehindert durch Verkehrsunfall

„Anfangs hatte ich nach meinem Unfall häufig Weinkrämpfe, Depressionen und Angst aus dem Haus zu gehen. Meine 2-jährige Beziehung hielt meine Gefühlsschwankungen nicht aus und er/sie trennte sich von mir. Davor war ich sehr gesellig und stand mitten im Beruf als Architektin. Meine Familie war mir in dieser Zeit eine große Hilfe. Ich bin sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Für mich spielt meine Behinderung keine große Rolle, zumindest keine so große, wie für meine Mitmenschen. Im Gegensatz zu früher, kann ich nicht mehr soweit laufen wie meine Begleiter und hänge hinten oftmals ab. Aber sie warten. Beim Treppensteigen bekomme ich schlecht Luft. Früher hatte ich oft die Situation, dass Leute mich angestarrt haben. Letztes Jahr habe ich Urlaub in den Bergen Südtirols gemacht. Mir ist aufgefallen, dass die Leute dort viel weniger gucken als in Deutschland. Seit einigen Jahren ist mir das aber egal. Am schlimmsten ist es, wenn Kinder weggezogen werden. Manchmal fragen sie ihre Eltern dann, was ich habe. Und sie antworten: "Fragt nicht, das ist ein armer Mensch." Dabei freue ich mich eher, wenn jemand fragt, statt minutenlang zu starren. Besonders Kinder dürfen immer fragen. Die sind eben neugierig. Und arm bin ich natürlich nicht, selbst wenn ich jemandem leidtue.

Was für mich gar nicht geht: Mitleidig angeschaut werden und von Fremden angefasst zu werden. Das möchten Menschen ohne Behinderung ja auch nicht. Es hat lange gedauert, aber heute bin ich selbstbewusst und stehe zu meiner Behinderung. Gerade wenn ich mit mehreren Menschen gleichzeitig zusammenkomme, diskutiere, lache ich und mache alles so gut es geht mit. Was ich auch nicht mag ist, wenn Menschen behaupten, ich sei eine Inspiration oder meine Behinderung in den Mittelpunkt stellen. Ich bin wie jede andere und möchte auch so behandelt werden.“

Radmilla, 54 Jahre, ist blind

„Mein weißer Blindenstock ist mein verlängerter Tastsinn, mit dem ich mich häufig an der Wand entlang taste, um Eingänge und auf die Straße ragende Stufenvorsprünge zu erkennen. Manchmal fassen mich Menschen am Arm und wollen mich in die Mitte des Gehweges lotsen. Sie verstehen nicht, dass sie mir dadurch meine Orientierung nehmen. In der U-Bahnstation stehen sie dann nahe am Bahnsteig und blockieren die Führungslinie, die doch so wichtig für mich wäre. Sehr nett sind auch hilfsbereite, aufmerksame Leute in der Bahn, wenn sie mir einen Sitzplatz frei machen, manchmal stehen sie allerdings auf ohne Bescheid zu sagen und gehen nur einfach weg, dann weiß ich natürlich nicht, ob der Platz nun frei ist. Wichtiger wäre es mit mir zu sprechen.

Wenn ich die Situation falsch verstehe, kann es schon mal passieren, mich auf den Schoß einer anderen Person zu setzen. Mir würde es schon sehr helfen, wenn Menschen mich in der überfüllten U-Bahn ruhig ansprechen und mir ihre Hilfe anbieten würden. Viele reden laut und schreien einen an, weil sie denken, man sei dazu noch taub. Ganz falsch ist es, mich einfach am Arm zu packen und zu ziehen. Würde man mit mir sprechen, was völlig unschädlich und unverbindlich wäre, könnte ich immer noch Ja oder Nein sagen. Blinde werden aus Unkenntnis ständig angefasst, wie Kleinkinder behandelt oder in der Richtung korrigiert, in der man gar nicht landen mochte. Irgendwann reagiert man dann einfach genervt, gereizt und undankbar. Die Menschen sind dann verärgert und enttäuscht und betrachten mich als undankbar. Das wollte ich aber auf gar keinen Fall. Und schon gar nicht möchte ich daran schuld sein, wenn man künftig lieber nicht mehr helfen möchte.“

Conny, 22 Jahre, geistig behindert

"Ich finde, man sollte freundlicher mit Menschen mit Behinderung umgehen. Man sollte ihnen ganz offen begegnen und mich ruhig fragen, wenn es Fragen gibt. Dann kann ich meine Behinderung, wenn ich nicht gerade zu sehr aufgeregt bin, besser erklären. Und man sollte mehr Verständnis haben: Letztens hat mein Mitbewohner in der Straßenbahn angefangen zu schreien – und alle haben ihn angestarrt.

Es passiert oft, dass Menschen mich nicht ernst nehmen. Neulich war ich im Supermarkt und vor einem Regal lagen Scherben. Ich habe der Verkäuferin Bescheid gesagt, weil ich sogar in eine Scherbe reingetreten bin. Aber sie hat mir nicht geglaubt. Ich denke, das lag an meiner erkennbaren Behinderung. Ich brauche immer etwas länger.

Ich würde mir wünschen, dass man mir diese Zeit zugesteht. Wenn ich etwas falsch mache, sollte man mir das in einem ruhigen Ton erklären und nicht aggressiv werden. Sonst fühle ich mich echt blöd.“

Der richtige Umgang mit Menschen mit Behinderung

Es ist nicht ungewöhnlich, sich im Umgang mit Menschen, die eine körperliche, sensorische oder geistige Behinderung haben, ein bisschen unsicher zu fühlen. Doch sollte sich soziale Kontakt zu Menschen mit Behinderungen nicht von anderen sozialen Kontakten unterscheiden. Wenn Dir jedoch eine bestimmte Behinderung fremd ist, dann fürchtest Du vielleicht, etwas Unangemessenes zu sagen oder zu tun, indem Du Deine Hilfe anbietest.

Was ist ein angemessener Umgang?

1. Versetze Dich einfach in jemanden mit Behinderung. Vielleicht fällt Dir der Umgang mit Menschen mit Behinderung leichter, wenn Du Dir vorstellst, selbst eine Behinderung zu haben. Überlege Dir, wie andere Menschen dann mit Dir reden oder umgehen sollten. Wahrscheinlich willst Du genauso behandelt werden wie jetzt auch.

Deshalb solltest Du mit Menschen mit Behinderung genauso reden wie mit jedem anderen. Heiße einen neuen Kollegen in der Arbeit mit Behinderung genauso willkommen wie jeden anderen auf Deiner Arbeit auch. Starre nie jemanden mit Behinderung an oder handle herablassend oder bevormundend. Konzentriere Dich nicht auf die Behinderung. Es ist nicht wichtig, die Beschaffenheit der Behinderung eines Menschen herauszufinden. Es ist nur wichtig, denjenigen gleichwertig zu behandeln, mit ihm wie mit jedem anderen zu reden und sich so normal zu verhalten wie bei jeder anderen neuen Person, die Du kennenlernst.

2. Biete aufrichtige Hilfe an. Einige Menschen zögern, Menschen mit Behinderung Hilfe anzubieten, weil sie fürchten, sie vor den Kopf zu stoßen. In der Tat könntest Du jemandem zu nahetreten, wenn Du ihm Hilfe in der Annahme anbietest, er könne etwas nicht allein. Die wenigsten fühlen sich aber angegriffen, wenn ihnen aufrichtige, spezifische Hilfe angeboten wird. Viele Menschen mit Behinderung zögern, um Hilfe zu bitten – sind aber dankbar für ein Angebot.

Wenn Du z. B. mit einem Freund einkaufen gehst, der im Rollstuhl sitzt, dann könntest Du ihn fragen, ob Du ihm beim Tragen oder beim Anbringen der Tasche am Rollstuhl helfen kannst. Wenn Du einem Freund Hilfe anbietest, dann stößt Du ihn in der Regel nicht vor den Kopf.

Wenn Du nicht genau weißt, welche konkrete Hilfe Du anbieten kannst, frage: „Gibt es irgendetwas, mit dem ich Dir gerade helfen könnte?“

“Hilf“ niemanden, ohne ihn vorher zu fragen. Greife z.B. nie den Rollstuhl von jemandem und versuche, ihn eine steile Rampe hochzuschieben. Frage stattdessen, ob er Hilfe beim Schieben braucht oder ob Du etwas anderes tun kannst, um ihm beim Navigieren über das Terrain zu helfen.

3. Spiele nicht mit Begleithunden. Sie sind natürlich niedlich und gut ausgebildet, weshalb sie scheinbar perfekt zum Knuddeln und Spielen geeignet sind. Sie sollen aber Menschen mit Behinderung assistieren und werden für die Ausführung alltäglicher Aufgaben gebraucht. Wenn Du mit dem Hund spielst, ohne um Erlaubnis zu fragen, dann hältst Du den Hund vielleicht von einer wichtigen Aufgabe ab, die er für seinen Besitzer erledigen soll. Wenn Du einen Begleithund bei der Arbeit siehst, dann solltest Du ihn nicht durch Streicheln ablenken. Hat der Hund gerade nichts zu tun, dann kannst Du seinen Halter fragen, ob Du ihn streicheln oder mit ihm spielen darfst. Sei aber darauf vorbereitet, dass Deine Bitte abgelehnt wird. In diesem Fall solltest Du nicht enttäuscht oder verärgert reagieren.

Gib einem Begleithund nie Futter oder Leckerli, ohne um Erlaubnis zu fragen. Versuche nie, einen Begleithund abzulenken, indem Du ihm Kosenamen gibst – auch wenn Du das Tier weder streichelst noch anfasst.

4. Du solltest nicht mit dem Rollstuhl oder der Gehhilfe von jemandem spielen. Ein Rollstuhl scheint gut geeignet, um Deinen Arm abzulegen. Das kann aber für den Benutzer unangenehm oder störend sein. Solange Du nicht gebeten wirst, den Rollstuhl zu schieben oder zu bewegen, solltest Du ihn nie anfassen oder damit spielen. Dasselbe gilt für Gehhilfen, Krücken oder jedes andere Gerät, auf das jemand im Alltag angewiesen ist. Solltest Du jemals das Gefühl haben, einen Rollstuhl bewegen zu müssen, bitte um Erlaubnis und warte die Antwort ab. Frage nie, ob Du mit einem Rollstuhl spielen darfst. Denn das ist eine kindische Frage und Du sorgst damit dafür, dass der Rollstuhlfahrer sich unwohl fühlt.

Behandle Hilfsmittel wie eine Erweiterung des Körpers desjenigen. Du würdest ja auch nicht die Hand von jemandem greifen und sie bewegen oder dich gegen seine Schulter lehnen. Verhalte Dich genauso, was die Hilfsmittel angeht.

Kein Hilfsmittel das jemand mit einer Behinderung benutzt, z. B. ein tragbarer Dolmetscher oder ein Sauerstofftank, sollte je berührt werden – außer, Du wirst darum gebeten.

5. Du solltest wissen, dass sich die meisten Menschen mit Behinderung angepasst haben. Manche Behinderungen sind angeboren, andere treten später im Leben aufgrund einer Entwicklung, eines Unfalls oder einer Krankheit auf. Wie auch immer die Behinderung aufgetreten ist, die meisten Menschen lernen, damit zu leben und können unabhängig ihren Alltag bestreiten. Die meisten können selbstständig ihr Leben meistern und brauchen wenig Hilfe von anderen.

Deshalb kann es sehr lästig oder beleidigend sein anzunehmen, dass jemand mit Behinderung nicht viele Dinge tun kann oder dass ständig andere etwas für sie erledigen müssen. Du solltest davon ausgehen, dass diese Menschen alles allein vollbringen können, was zu tun ist.

Jemand, der aufgrund eines Unfalls erst später im Leben eine Behinderung bekommt, braucht ggf. mehr Hilfe als jemand mit einer lebenslangen Behinderung. Du solltest aber immer warten, bis Du um Hilfe gebeten wirst, bevor Du davon ausgehst.

Scheue Dich nicht, Menschen mit Behinderung zu fragen, ob Du eine bestimmte Aufgabe erledigen sollst, wenn Du Dir Sorgen machst, ob sie es allein schaffen.

Wenn Du Hilfe anbietest, mache es aufrichtig und spezifisch. Wenn Du Hilfe aus ehrlicher Freundlichkeit anbietest und nicht aus der Annahme, dass derjenige es nicht allein schafft, dann wirkt das weniger wahrscheinlich beleidigend.

6. Stehe möglichst nicht im Weg. Sei umsichtig im Umgang mit Menschen mit körperlichen Behinderungen, indem Du ihnen nicht im Weg stehst. Gehe zur Seite, wenn Du siehst, dass jemand im Rollstuhl unterwegs ist. Nimm Deine Füße aus dem Weg von jemandem, der einen Stock oder eine Gehhilfe benutzt. Wenn Du bemerkst, dass jemand schwach auf den Füßen scheint, biete verbal Hilfe an.

7. Dringe nicht in die persönliche Distanzzone ein, denn das würdest Du bei anderen auch nicht tun. Sollte Dich aber jemand um Hilfe bitten, sei darauf vorbereitet, zu helfen.

Denke daran, dass ein Rollstuhl oder jedes andere Hilfsmittel zur Privatsphäre der Person gehört. Bitte respektiere das.

Auch wenn jeder etwas anders mit seiner Behinderung umgeht, so gilt doch für viele Einzelpersönlichkeiten, dass man in erster Linie Respekt und Achtung erwartet. Erfüllt man diese Erwartungen, dann ist das eine gute Basis für eine langjährige und feste Freundschaft, die Stürme und Enttäuschungen mit ordentlich viel Kraft aushält. Vieles schwer erträgliche kann so leichter erduldet werden.

Behindert!

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