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Kapitel 2

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Anna, 2016

Ich betrete am Arm eines gut aussehenden Mannes einen Raum voller Menschen, die ich nicht kenne. Prinzipiell keine schlechte Sache, ganz im Gegenteil. Nur, dass ich trotz der Zusammenarbeit mit besagtem Mann und auch nach drei tollen Verabredungen mit ihm noch immer nicht weiß, ob ich etwas von ihm will oder nicht.

David, so heißt mein attraktiver Begleiter, scheint sich diesbezüglich keinerlei Sorgen zu machen. Er hat vom ersten Moment an, als wir uns vorgestellt wurden, mit mir geflirtet und klargemacht, dass er an mir interessiert ist. Dennoch scheint er nicht sonderlich frustriert zu sein, weil wir noch nicht im Bett miteinander waren. Bisher hat es nur zwei Abschiedsküsse gegeben, mehr nicht. Beide haben nicht gerade meine Welt erschüttert, obwohl sie sehr angenehm gewesen sind und ein gewisses Prickeln ausgelöst haben. Für jemanden wie mich, der den Männern so gut wie abgeschworen hat und Beziehungen generell lieber aus dem Weg geht, sind die Verabredungen mit ihm ein ungewöhnlicher Schritt in eine Richtung, von der ich nicht einmal sagen kann, ob ich sie überhaupt einschlagen möchte. Aber David ist die Art Mann, die man einfach mögen muss. Er sieht gut aus, ist mittelgroß und hat schöne hellbraune Augen. Mit seinem charmanten Lächeln und der klugen, ruhigen Art fühlt man sich wohl in seiner Nähe. Er ist der Typ, der einen langsam, aber sicher für sich einnimmt. Normalerweise bin ich auf der Hut, besonders bei den charmanten, gut aussehenden Typen, aber bei ihm schrillen keine meiner Alarmglocken. Und was ich besonders an ihm schätze, ist, dass ich in seiner Nähe weder nervös noch unbedacht werde. Ein großer Pluspunkt.

Wenn ich nur wüsste, was ich für ihn empfinde. Ob ich überhaupt etwas für ihn empfinde außer Sympathie und einer gewissen Zuneigung.

Ein wenig gezwungen erwidere ich Davids Lächeln, während er mich durch dieses riesige Anwesen schleppt, das er sein Zuhause nennt. Für mich sieht es wie ein zeitgenössisches Museum aus. Mir war sofort klar, dass ich auf dieser Party fehl am Platz bin. Ein Teil von mir möchte die ganze Zeit belustigt den Kopf schütteln. Ich, Anna Thaler, auf einer Society-Party der Wiener Schickeria. Ja, es ist wirklich zum Schmunzeln. Die Leute hier verdienen in einem Monat, was ich in einem ganzen Jahr zusammenbekomme. Manche noch mehr.

Ich habe in meinem Leben bisher auf den Genuss verzichtet, ein botoxverunstaltetes Gesicht von Nahem zu sehen, aber jetzt kann ich das alles nachholen. Live und in Farbe. Auf einer Party meines neuen Freundes? Bekannten? Auftraggebers?

Ach, keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht.

„Du siehst aus, als wärst du auf Besuch im Zoo?“

Amüsiert stupst David mich an.

„Wundert dich das?“, gebe ich sarkastisch zurück.

„Nein. Ich merke das anscheinend gar nicht mehr.“ Irritiert hebt er die Augenbrauen, als eine steinalte Frau mit glatt gebügelter Stirn und unnatürlich großer Oberweite an uns vorbeistöckelt. Kurz mustert sie mich pikiert von oben bis unten, ehe sie sich wieder ihrem Sekt mit Erdbeeren und anderen Gästen zuwendet.

„Komisch, ich wusste gar nicht, dass du Kontaktlinsen trägst.“

„Sehr witzig.“

Schnaubend zieht David mich weiter in die Society-Firmenparty hinein. Warum bin ich bloß hier?

Ach ja, mein Job. Und David. Ich wusste sofort, als mein Verlag anrief und mich für diesen Job eingeteilt hat, dass ich ihn im Grunde nicht machen will. Aber ich brauche das Geld. Wie immer. Ich arbeite als Verlagsautorin, auf Auftragsbasis. Leider kann ich nicht allzu wählerisch sein, was meine Aufträge angeht. Auch wenn ich mir wünsche, es wäre anders. In diesem Fall geht es um ein Sachbuch für Davids Familienunternehmen „Fiedler Glas“. Ich soll die Geschichte rund um das Glasimperium der Familie Fiedler in passende Worte kleiden. Kein besonders spannendes Projekt. Jedenfalls für mich. Schließlich will ich eigentlich Romane schreiben. Zumindest landet bei diesem Projekt mein Name als Autorin im Impressum. Bei meinen anderen Jobs für den Verlag handelt es sich meistens um Ghostwriter-Aufträge. Das heißt, jemand erzählt mir seine Lebensgeschichte und ich schreibe sie für ihn. Am Ende landet sein Name groß auf dem Cover, und jeder denkt, dass er oder sie wirklich ein eigenes Buch geschrieben hat, während ich unerwähnt bleibe, dafür aber ein ordentliches Honorar erhalte und viele Vereinbarungen unterzeichnen muss. Manchmal, leider viel zu selten, trete ich auch als Co-Autor auf. Meistens bin ich aber die Frau im Hintergrund. Eine Rolle, die mich im Grunde nicht stört. Aber ich hasse es, die Geschichten anderer zu schreiben, nicht aber meine eigenen.

„Wie du siehst, wird alles, was heute getrunken oder gegessen wird, in oder auf Fiedler-Glas serviert.“

Davids Kommentar reißt mich aus meinen trüben Gedanken.

„Ist mir nicht entgangen. Hast du mich deshalb hierhergeschleppt, damit ich sehe, dass ihr eure Glaspassion konsequent durchzieht?“

„Nein, ich wollte dich heute meinen Eltern vorstellen.“

Äußerst undamenhaft huste ich mir Sekt in die Nase.

„Was?“ Das kann nicht sein Ernst sein. Ich meine, seinen Vater sollte ich wohl kennenlernen, immerhin ist er der Patriarch der Firma. Aber doch nicht seine Mutter.

„Keine Panik.“ Er lacht. Anscheinend bin ich ein heiterer Zeitvertreib. „Ich dachte nur, dass die Party eine gute Gelegenheit dafür wäre. Mich wundert es ohnehin, dass mein Vater sich bisher aus dem Buchprojekt rausgehalten hat. Ist sonst nicht seine Art.“ Ein merkwürdiger Ausdruck überzieht sein Gesicht, verschwindet aber schnell wieder.

„Na schön … Dann stell mich ihnen vor. Kann ja nicht schaden.“ Eine böse Vorahnung im Bauch ziehe ich an seinem Anzugärmel. „Sonst hast du aber keine Überraschungen geplant, oder?“ Seine Augen blicken mich freundlich an.

„Nein. Nur, falls er sich tatsächlich hier blicken lässt, wollte ich dir noch meinen Bruder vorstellen. Er wird ja die Fotos für das Buch schießen.“ Sein Bruder, der Fotograf, das ist okay. Seine Mutter dagegen … ganz anderes Kaliber.

David macht sich auf den Weg in den oberen Stock und zieht mich mit. Ich versuche ihm auf den hohen Sandaletten zu folgen, was gar nicht so leicht ist, da hier eine Armada von Cateringpersonal durch die Gegend schwirrt, um Sekt und Wein in Fiedler-Gläsern an die Gäste zu verteilen. Auf dem Weg durch die nicht ganz so Schönen und dafür umso Reicheren fällt mein Blick auf Menschen, die ich bisher nur aus dem Frühstücksfernsehen kenne oder aus Zeitungen. Es würde mich vielleicht sogar beeindrucken, wäre ein Viertel davon nicht schon wegen irgendwelcher Dinge angeklagt worden.

Ich entdecke einen gewissen Politiker auf der Terrasse.

„Ist das nicht …?“

„Ja.

„Wurde er nicht …“

„Nein. Man konnte ihm nichts nachweisen.“ David deutet in eine andere Richtung. Offenbar hat er jemanden aus seiner Familie entdeckt, den ich kennenlernen soll.

Na toll!

Die Familie eines Mannes, mit dem man sich trifft, kennenzulernen, ist immer eine heikle Angelegenheit.

Was ist, wenn sie auf einen herabsehen? Was, wenn man sie nicht mag? Was, wenn sie einen nicht mögen? Oder …

Was, wenn man schon mit seinem Bruder geschlafen hat …

Vor mir steht ein Mann, der sich mit David unterhält, ein Mann, der mich offensichtlich anstarrt und von dem ich befürchte, dass es sich um seinen Bruder handelt.

Scheiße! Das kann unmöglich wahr sein.

Wie kann der einzige Mann, mit dem ich mir je ein Abenteuer erlaubt habe, der mir nie ganz aus dem Kopf gegangen ist, vor mir stehen auf dieser bescheuerten Party? Ausgerechnet als Davids Bruder, dessen Name mir gerade jetzt nicht einfallen will.

Ich kann es in seinen Augen sehen.

Er richtet sich kerzengerade auf und starrt mich an.

Gott, ich hatte beinahe vergessen, wie verboten heiß er doch ist, mein unbekannter Fremder von damals.

Er ist einen ganzen Kopf größer als ich, sodass ich zu ihm aufsehen muss. Diese dunklen Augen haben mich lange verfolgt, und jetzt tun sie es wieder, nur einen Meter vor mir. Aber dieses Mal ist es kein Traum. Sein braunes Haar ist kürzer. Dieser Körper sieht noch genauso stark und durchtrainiert aus wie vor fünf Jahren.

„Es freut mich. Du musst Davids Bruder sein“, höre ich mich sagen. Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, auch nur ein Wort hervorzubringen. Verunsichert zieht er die Augenbrauen zusammen und blickt mich nachdenklich an.

David sieht irritiert zwischen ihm und mir hin und her. Die Spannung zwischen uns fällt auch ihm auf. Wie könnte sie nicht? Schließlich ist die Temperatur im Raum um gefühlte zehn Grad angestiegen und mit dem Knistern zwischen uns könnte man eine Stromknappheit bekämpfen.

Herrgott, sag doch endlich was!

„Ja“, murmelt er, noch immer sichtlich durcheinander.

„Der bin ich.“

„Wo sind denn deine Manieren, Paul?“

David sieht kopfschüttelnd auf meine Hand, die ich vor mir ausgestreckt halte. Paul, sein Name ist also Paul. Wie oft wollte ich das schon wissen. Aber jetzt, wo ich es weiß und weiß, wer er ist, würde ich es lieber bei unserem Arrangement aus der Vergangenheit lassen. „Keine Namen.“

Paul schluckt kurz, ehe er meine Hand endlich schüttelt. Doch der peinliche Moment endet dadurch keineswegs. Ganz im Gegenteil. Ignorierte er meine Hand vorhin ungewöhnlich lang, hält er sie nun ebenso ungewöhnlich lange fest. Seine Finger sind unglaublich warm, und das Gefühl seiner Hand auf meiner schickt einen warmen Stromstoß durch meinen Körper, den ich irritierend und erregend zugleich finde, weshalb ich meine Finger aus seinem Griff befreie. Er räuspert sich daraufhin und sieht zum ersten Mal, seit er vor mir aufgetaucht ist, seinen Bruder an. Bis zur letzten Sekunde verweilt sein Blick dabei auf meinem Gesicht, so als müsse er sich zwingen, mich nicht länger anzusehen. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Immer wenn ich von meinen Emotionen überwältigt zu werden drohe, so wie jetzt, was nicht sehr oft vorkommt, gebe ich mir äußerlich den Anschein, gar nichts zu fühlen oder unbeteiligt zu sein. Nur will es mir partout in dem Moment, wo ich es am dringendsten brauche, nicht so recht gelingen.

„Dann stell uns mal richtig vor, David.“ Ein breites Grinsen breitet sich auf Pauls Gesicht aus. Ich glaube, ich mochte meinen heißen Fremden lieber.

„Na klar … Paul, das ist Anna, die Autorin, die die Texte für unser Buch schreiben wird. Anna, das ist mein etwas merkwürdiger Bruder Paul, der die Fotos machen wird und normalerweise unsere Partys meidet.“

Ich reagiere nicht, lasse das Gefühl der Panik nicht zu. Dann ist er eben der Fotograf, der die Fotos zu dem Buch macht, das ich schreiben soll. Das kriege ich hin. Ganz sicher. Lügnerin!

„Formvollendet, kleiner Bruder.“ Paul verzieht amüsiert das Gesicht und wendet sich wieder mir zu.

„Anna also.“ Sagt er das so, weil er meinen Namen nun kennt, oder spielt er auf unsere gemeinsame Nacht an? Erinnert er sich wirklich, wie ich dachte, oder glaube ich nur, dass er das tut? Denn ich könnte schwören, Paul hat das gesagt, weil er nie meinen Namen kannte. Bis jetzt.

„Ja, so heiße ich.“ Ich versuche krampfhaft, nicht zu lächeln. Gar nicht so einfach, wenn mein männliches Gegenüber ein Hammerlächeln und dazu diese unwiderstehlichen Grübchen besitzt.

„Gefällt mir“, meint er und trinkt einen Schluck Bier, genauer gesagt trinkt er aus einer Bierflasche. Damit ist klar, dass er nicht gerade ein Fan dieser Art von Partys ist. Hier wird Bier ausnahmslos aus Design-Varianten der Fiedler-Bierglas-Serie getrunken. Wieso gefällt mir das nur so?

David sieht sich nervös um und bricht damit den Bann, der zwischen mir und seinem Bruder entstanden ist.

„Was ist denn?“, frage ich ihn. Er legt mir den Arm vertraut um die Schulter und flüstert mir zu, dass er jemanden gesehen hat, mit dem er unbedingt reden möchte.

„Kümmere dich kurz um Anna. Und sei ja nett zu ihr!“

Schon ist mein Begleiter verschwunden. Und ich stehe alleine mit meinem One-Night-Stand aus der Vergangenheit da.

„Du und mein Bruder also“, kommentiert Paul trocken und kann nicht verbergen, wie gereizt er dabei klingt.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ich mache ein paar Schritte von ihm weg, hin zur Brüstung. Abstand scheint mir eine gute Idee zu sein.

„Ich meine, dass du offenbar mehr für ihn bist als nur die Autorin unseres Buchs, oder irre ich mich da etwa?“

Er duzt mich. Aber bei ihm könnte es auch ganz normal sein, das zu tun. Trotz seiner reichen Herkunft wirkt Paul wie jemand, der nicht viel auf Formalitäten gibt. Ich meine, selbst ich trage ein enges Kleid, das ich mir kaum leisten kann, während er in zugegeben verdammt gut sitzenden Jeans, einem einfachen T-Shirt und einer braunen Lederjacke gekleidet ist. Er sieht umwerfend aus, passt aber nicht hierher, und genau das will er vermutlich damit auch zeigen.

„Wir haben uns ein-, zweimal zum Essen getroffen, wenn du das wissen willst. Aber keine Sorge, dein kleiner Bruder ist schon groß genug, um zu wissen, wen er auf ein Date einlädt … Außerdem wüsste ich nicht, was es dich angeht, ob er und ich uns privat treffen?“ Nun muss er Farbe bekennen. Wenn Paul sich erinnert und das auch zugeben möchte, wird er etwas sagen, und wenn nicht, weiß ich, dass ich es mir nur eingebildet habe, und er erinnert sich nicht an mich, oder zumindest weiß ich, dass er dichthalten wird.

„Du hast recht. Es geht mich nichts an, Anna“, sagt er ruhig. Doch da war etwas in seinem Gesicht. Ich kann nicht sagen, was es bedeutet. Ehe ich darüber nachdenken kann, grinst Paul mich breit an.

„Ich hoffe, du bist schon Feuer und Flamme für das Buch über unser kleines Glasimperium.“ Dankbar nehme ich die Ablenkung an, auch wenn mir sein Sarkasmus nicht entgangen ist. „Klingt nicht gerade, als wärest du stolz darauf, einer der Erben dieses Glasimperiums zu sein?“

„Ich glaube, da hast du was falsch verstanden. David ist der Sohn und Erbe. Ich bin bloß Paul, der Fotograf. Mit dem Glasgeschäft habe ich nichts zu tun.“ Eindringlich sieht er mich an und verleiht seiner Klarstellung einen bleibenden Eindruck damit.

„Verstehe … Du bist das schwarze Schaf, oder?“

„Könnte man so sagen. Ich schlage nämlich aus der Art und tue, was ich will. Das ist sozusagen gegen das Fiedler-Familien-Motto. Zumindest treibt es meinen Alten in den Wahnsinn“, verkündet er stolz. Na, der scheint seinen Vater wirklich nicht zu mögen. Doch der Humor, an den ich mich gut erinnere, ist noch da, auch wenn er ganz anders klingt.

„Dann bist du kein typischer großer Bruder.“

„Wohl eher nicht.“ Nachdenklich blicke ich ihn von oben bis unten an. Es macht keinen Unterschied, ob er sich erinnert. Ich meine, wir kennen uns nicht, so oder so.

Da ist nur dieses Prickeln zwischen uns, das ich einfach ignorieren muss. Es ist rein körperlich. Schließlich hatte ich den besten Sex meines Lebens mit diesem Mann. Beim Gedanken daran zieht sich mein Schoß sehnsuchtsvoll zusammen. Das Erinnerungsvermögen meines Körpers scheint sehr ausgeprägt zu sein. Wenn ich auf seine Hände sehe, meine ich sogar zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn er mich berührt. Um diese Gedanken zu verscheuchen, schüttle ich den Kopf und konzentriere mich stattdessen auf die merkwürdigen Leute unter mir.

„Was für ein Haufen“, schnaubt Paul neben mir und blickt genau wie ich über die Brüstung.

„Das trifft es!“

„Versteh mich nicht falsch. Ich liebe meinen Bruder. Abgesehen von meinem Großvater ist er sogar der Einzige in der Familie, den ich wirklich mag, aber ich werde nie kapieren, wieso er sich mit denen da unten abgibt. Und mach dir nichts vor, Anna, wenn du was mit ihm anfängst oder schon angefangen hast …“ Seine Stimme klingt rauer als noch zuvor. „… dann musst du dich auch mit denen da abgeben. Gehört zum Gesamtpaket. Glas. Geld. Glamour. Und diese hohlen Typen da.“ Der Gedanke ist schrecklich. Diese Menschen und ich haben weder was gemein noch möchte ich je zu ihnen gehören. Aber David wirkt nicht, als würde er das erwarten. Oder täusche ich mich da?

„Und was sagt dir, dass ich nicht genau das will?“

„Mein Instinkt.“ Paul sieht mich ohne Spur des Zweifels von der Seite an. Genau wie in der Bar damals. Es ist, als könne er direkt in mich hineinblicken. Es ist beängstigend.

„Du hast recht, ich möchte keiner von ihnen sein, aber ich bin Realist. Man kann sie nicht völlig umgehen.“

„Wem sagst du das. Ich mache ab und an einige Werbeshoots. Da wimmelt es von denen. Aber wenigstens kann ich dadurch vom Fotografieren leben. Nur unter ihnen leben will ich nicht“, stellt er vehement klar und deutet auf die schicken Menschen unter uns.

„Geht mir genauso.“ Ich sehe ihn an, und da ist er wieder, dieser Moment, den man nur mit ganz bestimmten Menschen haben kann, wenn man genau dasselbe fühlt und man keine Worte braucht, um sich zu verstehen. Es ist gefährlich, sich von so etwas verleiten zu lassen. Denn das Gefühl oder das, was Paul Instinkt nennt, kann einen furchtbar täuschen, und die Menschen sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Besonders auf Männer trifft das zu, vor allem dann, wenn ich sie anziehend finde. Und Paul finde ich nun mal wahnsinnig anziehend, daher ziehe ich mich zurück und durchbreche den Moment. Als wüsste er, was in mir vorgeht, sieht er mich vorwurfsvoll an.

„Zumindest hast du mir einen Grund gegeben, mich auf das Buchprojekt zu freuen. Eigentlich bin ich heute nur zu diesem Affentheater gekommen, um David zu sagen, dass ich es doch nicht mache. Doch jetzt habe ich es mir wieder anders überlegt.“ Ein selbstsicheres Grinsen überzieht sein Gesicht. Etwas in meiner Brust wird eng und warm. Ich habe diesen Auftrag von Anfang an nicht gewollt. Und jetzt verspüre ich regelrecht Fluchtpanik.

„Wieso?“, frage ich, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich die Antwort hören will. Paul lässt sich näher zu mir, so nahe, dass mir sein würzig warmer Männergeruch in die Nase steigt, der wahnsinnig anregend auf mich wirkt. Mein Herz rast.

„Weil ich noch genau weiß, wie du schmeckst, und ich mich noch genau daran erinnere, wie deine Stimme klingt, wenn du kommst. Und weil ich genau weiß, dass du dich auch an mich erinnerst.“

Ohne mich zu berühren oder zu erklären, wieso er erst so getan hat, als wüsste er nicht, wer ich bin, lässt er diese Bombe platzen. Paul starrt mich aus blitzenden dunklen Augen an, als warte er nur darauf, dass ich etwas tue oder sage. Mein Herz schlägt so heftig, dass mir das Atmen wehtut. Ich will nicht, dass er diese Macht über mich oder meinen Körper hat, auch wenn ich sie spüre.

„Ich weiß nicht, wovon du redest“, stammle ich in dem Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen. Leugne es doch! Tu so, als wäre es nie passiert. Bitte.

„Ich rede von dir und mir.“ Ich verharre regungslos, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, als Paul nach meinem Arm fasst. Seine Finger fahren auf und ab, um eine brennende Spur auf meiner Haut zu hinterlassen. Mein Atem wird flacher. Ich starre auf seinen Mund, auch wenn ich es nicht will. Mein Körper hat seinen eigenen Willen, wenn es um diesen Mann geht, meinen gar nicht mehr so unbekannten Fremden.

„Und ich freue mich darauf, dich bald schon wiederzusehen … Anna.“

Bittersüß - befreit

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