Читать книгу Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen - Adrienne Träger - Страница 10

Artikel 7 Gleichheit vor dem Gesetz

Оглавление

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde und gegen jede Aufreizung zu einer derartigen unterschiedlichen Behandlung.

Das Medizinstudium war sein großer Traum. Schon als kleiner Junge hatte er Arzt werden wollen. Als erster seiner Familie wollte er studieren. Auch die Eltern wollten das und hatten all die Jahre fleißig gespart, um dem Sohn das Studium zu ermöglichen. Leider waren seine Noten zwar gut, aber nicht gut genug, um einen der begehrten Studienplätze zu ergattern. Die Universität vergab die Studienplätze nach einem Numerus Clausus und der lag leider immer etwas über dem seinen. Wer den entsprechenden Notendurchschnitt hatte, dessen Name wanderte in einen Lostopf und das Gros der Studienplätze wurde dann unter den Bewerbern ausgelost. Ein kleiner Teil der Studienplätze war jedoch für Minderheiten reserviert, da die Universität sich nicht nachsagen lassen wollte, sie sei ausländerfeindlich.

Prinzipiell fand er es gut, dass auch Minderheiten der Weg zum Studium offen stand, doch das tat er auch so. Wer den entsprechenden Notendurchschnitt hatte, konnte per Losverfahren ganz normal zum Studium zugelassen werden, wenn sein Name gezogen wurde und hatte damit die gleiche Chance, wie jeder andere, dessen Name sich im Lostopf befand. Was ihn nur unheimlich wurmte, war die Tatsache, dass über die Minderheitenquote Leute zum Studium zugelassen wurden, deren Notendurchschnitt genauso gut oder sogar schlechter war als seiner, weil sie einer Minderheit angehörten, während er draußen blieb.

Auf eine gewisse Art und Weise gehörte auch er einer Minderheit an, denn er kam aus einer Arbeiterfamilie, die sich einen durchschnittlichen Wohlstand erarbeitet und in der niemand vor ihm jemals studiert hatte, während die meisten Medizinstudenten aus wohlhabenden Akademikerfamilien kamen. Doch er musste draußen bleiben und zusehen, wie andere, die gleich gut oder schlechter waren als er, einen der begehrten Studienplätze erhielten. Er fand es unfair. Überhaupt fand er es nicht gut, dass die Studienplätze in der Hauptsache nach Noten vergeben wurden. Was sagte es denn darüber aus, ob jemand später ein guter Arzt sein würde, wenn er auf dem Schulabschlusszeugnis lauter Einsen hatte? Ein guter Arzt hatte viele Eigenschaften, die sich nicht in Schulnoten ausdrücken ließen, zum Beispiel Empathie. Woher wollte man denn wissen, ob jemand, der lauter Einsen auf dem Zeugnis hatte, auch in der Lage war, sich in andere Menschen einzufühlen und ihnen schonend eine schwere Diagnose zu eröffnen? Nein, das waren Dinge, die man nicht in der Schule lernte und die sich nicht in Noten messen ließen. Aber das Jammern half nicht. Er konnte sich nur jedes Jahr wieder bewerben und hoffen, dass einer von den Auserwählten absprang, damit er im Nachrückverfahren noch einen der begehrten Plätze ergattern konnte.

Er versuchte in der Zwischenzeit, ein wenig Geld zu verdienen und die Zeit sinnvoll zu überbrücken. Er hatte sich in einem College eingeschrieben, um eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen. So konnte er zumindest schon einmal medizinisches Wissen sammeln und Krankenhausluft schnuppern. Nebenbei arbeitete er in einer Kneipe, denn auch die Collegeausbildung kostete Geld und er wollte immer noch irgendwann Medizin studieren. Die meisten seiner ehemaligen Klassenkameraden machten auch irgendwo eine Ausbildung, doch einige studierten auch. Eine ehemalige Mitschülerin studierte Jura und traf ihn an diesem Abend in der Kneipe. Sie hatten sich seit dem Schulabschluss nicht mehr gesehen, da sich ihre Wege danach getrennt hatten, doch sie hatten sich zu Schulzeiten immer gut verstanden. Sie wollte von ihm wissen, was er jetzt machte und wieso er hier kellnerte. Zwischen Bestellungenaufnehmen und Bedienen erzählte er ihr von seinem Dilemma. „Aber das ist doch Diskriminierung!“, empörte sie sich. Natürlich war es das. So hatte er es auch die ganze Zeit empfunden, schließlich konnte er nichts dafür, dass er nicht als ethnische Minderheit auf die Welt gekommen war. Er zuckte mit den Achseln. „Und? Was soll ich dagegen tun? Klagen?“ „Natürlich!“ Ihre Antwort kam so bestimmt und selbstverständlich, dass er sie verdutzt ansah. „Unsere Verfassung sagt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Damit ist ein solches Verhalten der Universität beziehungsweise der medizinischen Fakultät rechtswidrig.“ Die Möglichkeit, sich seinen Traum einzuklagen, indem er die Rechtmäßigkeit der konsequent angewandten Minderheitenquote rechtlich in Frage stellte, hatte er noch nie in Betracht gezogen. „Und du meinst, das könnte funktionieren?“ „Ich denke schon. In jedem Fall werden sie die Quotenregelung ändern müssen. Eine Garantie dafür, dass du den Studienplatz dann bekommst, ist das aber immer noch nicht.“ „Zumindest hätte ich dann aber eine faire Chance einen zu bekommen, denn die habe ich momentan nicht.“ Sie nickte. „Und wenn du den Studienplatz dann immer noch nicht kriegst?“ „Ich bewerbe mich einfach immer weiter und in der Zwischenzeit werde ich der beste Krankenpfleger, den dieses Land je gesehen hat und lege weiter Geld für mein Studium auf Seite.“ Sie lachte. So kannte sie ihn noch aus der Schule. „Es gibt da nur ein Problem.“ „Und das wäre?“ „Das kostet bestimmt viel Geld, wenn man versucht, die Uni zu verklagen und das habe ich nicht. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich jedes Jahr wieder zu bewerben und darauf zu hoffen, dass sich nicht allzu viele Leute aus ethnischen Minderheiten mit schlechten Noten beworben haben, damit ich im Nachrückverfahren eine reelle Chance habe.“ Er schaute betreten zu Boden. So gut der Plan auch geklungen hatte, er scheiterte leider an seinem Budget. „Lass mich mal machen. Hast du feste Tage, an denen du hier bist?“ Er nannte ihr die Tage, an denen er immer in der Kneipe arbeitete und sie verabschiedeten sich.

Als er das nächste Mal in der Kneipe kellnerte, war sie auch wieder da. Sie hatte einen älteren Herren dabei. Es war einer ihrer Professoren, der seinen Fall äußerst interessant fand. Die Vergabe der Studienplätze an der juristischen Fakultät lief ähnlich ab und war dem Professor schon seit langem ein Dorn im Auge. Er hatte bislang nur noch nie jemandem gefunden, der sich diskriminiert gefühlt hatte, um eine entsprechende Klage anzustrengen. Der Professor erklärte sich bereit, sein Mandat kostenfrei zu übernehmen. Es war ihm den Spaß wert, gewissen Kreisen der Universitätsleitung, mit denen er schon lange noch diverse Hühnchen zu rupfen hatte, eins auszuwischen. Der junge Mann wusste nicht, was er sagen sollte. Er gab den beiden erst einmal ein Bier aus und nahm dann das Angebot des Professors dankend an. Das Verfahren zog sich über ein dreiviertel Jahr, doch zum Schluss entschied das Gericht, dass die Quotenregelung in dieser strengen Form unzulässig sei und geändert werden müsse.

Er bewarb sich im nächsten Jahr erneut und hatte das Glück, über das Nachrückverfahren einen Studienplatz zu erhalten. Er gab seinen Job in der Kneipe auf und arbeitete nachts als Pfleger im Krankenhaus, um sein Studium zu finanzieren, denn seine Pflegerausbildung hatte er mittlerweile abgeschlossen und als Pfleger verdiente er mehr, denn als Kellner. Dank seiner medizinischen Vorkenntnisse schloss er sein Studium in Rekordzeit und mit Auszeichnung ab.

Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen

Подняться наверх