Читать книгу Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen - Adrienne Träger - Страница 7

Artikel 4 Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels

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Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen Formen verboten.

Die Nacht war lau und der Himmel sternenklar. Während sie auf einer zerschlissenen Matte ihm Hof lag, betrachtete sie die funkelnden Sternbilder und den Mond mit seinem freundlichen Gesicht. Sie dachte an ihre Familie und an ihre kleineren Geschwister. Ihr Bruder war jetzt sechs. Ob er noch den Ball besaß, den der Vater ihm damals zum Geburtstag geschenkt hatte? Wenn ja, dann war er jetzt bestimmt geschickter darin, damit zu spielen, als damals.

Es war jetzt zwei Jahre her, dass das große Erdbeben die Insel erschüttert und die Flutwelle große Teile der küstennah gelegenen Orte verwüstet hatte. Oben in den Bergen hatten sie zwar von den Fluten nicht viel mitbekommen, aber das Erdbeben hatte sie dafür sehr hart getroffen. Sie hatten es alle gerade noch rechtzeitig aus dem Haus geschafft, bevor große Teile davon eingestürzt waren. Viel besessen hatte die Familie nie, daher war es eine große Belastung für die Familie gewesen, sich die Behausung wieder aufbauen zu müssen. Und auch wenn von den Familienmitgliedern niemand zu Schaden gekommen war, so war der notdürftig zusammengezimmerte Stall über dem bisschen Vieh der Familie eingestürzt und hatte einige der Tiere unter sich begraben. Der Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz traf die Familie hart und sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Der Mann, der einige Wochen nach der Katastrophe in ihrem abgelegenen Bergdorf auftauchte, erschien ihnen daher wie ein Geschenk des Himmels. Er bot an, das Mädchen, das schon zehn Jahre alt war, mit in die Hauptstadt zu nehmen. Dort gäbe es Menschen, die von dem Schicksal der Bergbewohner gehört hatten und die aus christlicher Nächstenliebe Kinder bei sich aufnähmen, damit diese ein besseres Leben führen konnten. Das Mädchen könne dort bei einer Gastfamilie wohnen, dann wäre es für die eigene keine Belastung mehr. In ihrer Familie gab es schließlich genug hungrige Mäuler und wenig, um sie zu stopfen. Das Angebot, dass die Tochter bei Zieheltern groß werden konnte, die sich aus Barmherzigkeit um sie kümmerten, sie mit Nahrung und Kleidung versorgten und sie zur Schule schickten, ohne dass die ohnehin so gut wie mittellose Familie etwas dafür bezahlen musste, klang in den gebeutelten Ohren zu schön, um wahr zu sein. Sie willigten in das Angebot des freundlichen Mannes ein, der ihnen anstandshalber noch zwei Säcke Reis da ließ und dafür die Tochter mitnahm.

Sie war aufgeregt, denn in der Hauptstadt war sie nie gewesen. Überhaupt hatte sie die Berge nie verlassen. In der Stadt sah sie zum ersten Mal Häuser aus Stein. Überhaupt sah sie viele Dinge zum ersten Mal und sie fragte sich, wie sie wohl in Zukunft wohnen würde. Die Ernüchterung kam schnell, als sie die schönen Villenviertel hinter sich ließen und in den Slums ankamen. Hier war es alles andere als schön, dafür war es hier heiß, dreckig und stickig.

Die „Tante“, bei der der Mann sie ablieferte, machte zunächst einen sehr netten Eindruck. Sie zeigte ihr das Haus und die Umgebung und erklärte ihr, dass sie ihr zur Hand gehen müsse, wenn sie hier bei der Familie wohnen wolle, denn irgendwie müsse sie sich ja dafür erkenntlich zeigen, dass sich fremde Leute um sie kümmerten. Sie hätten schließlich selber nicht viel und man nähme sie nur aus reiner Nächstenliebe auf. Eine Selbstverständlichkeit, erklärte die „Tante“ ihr, sei das wahrlich nicht. Da könne man schon eine Gegenleistung erwarten. Das leuchtete dem Mädchen ein.

Restavek – so nannte man Kinder wie sie. Rest avec – bei jemandem wohnen. Es klang nett und freundlich. Doch das war es nicht. Und das wusste sie, denn wie die Wirklichkeit aussah, hatte sie sehr schnell erfahren.

Die „Tante“ hatte ihr am Abend etwas anderes zum anziehen gegeben. Es sah aus wie ein Kleid, das aus einem Sack geschneidert worden war und es fühlte sich auch so an. Ihre Sachen, die sie angehabt hatte, als sie angekommen war, hatte die „Tante“ ihr am Abend abgenommen und weggeworfen. Die brauche sie nicht mehr. Als sie ins Bett gehen wollte und fragte, wo sie schlafen solle, zeigt man ihr die Matte im Hof. Sie war entsetzt. Ihre Familie war zwar arm, aber zuhause hatte sie wenigstens ein Bett gehabt und im Haus geschlafen. Abgesehen davon, dass es nachts recht kalt werden konnte, fand sie es unheimlich, alleine draußen zu sein. Der Vater hatte ihr immer erklärt, nachts sei es draußen sehr gefährlich, zumal es dort auch wilde Tiere gäbe, die einen angreifen könnten. Daher machte es ihr Angst, draußen schlafen zu müssen. Sie kauerte sich unter der dünnen Decke zusammen und versuchte, sich selber Mut zu machen. Sie redete sich ein, in den Hof könnten keine wilden Tiere kommen und überhaupt gäbe es in der Stadt bestimmt auch keine, was vermutlich auch stimmte.

Als sie am nächsten Morgen aufstand und frühstücken wollte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, als sie sah, was es bei der Familie alles zu essen gab. Doch als sie sich zu den anderen setzen wollte, erklärte die „Tante“ ihr, sie müsse sich ihr Frühstück erst verdienen und schickte sie los, Wasser zu holen, zu fegen und noch einige Besorgungen zu erledigen. Als sie damit fertig war, war es fast Mittag und sie erhielt ein trockenes Stückchen Brot von der „Tante“ – als Lohn für ihre Arbeit. So lief es seitdem jeden Tag. Sie schuftete tagein, tagaus für einen trockenen Brotkanten, während sich die anderen vor ihren Augen die Bäuche vollschlugen. Sie arbeitete unermüdlich, während die Kinder der Familie in die Schule gingen oder spielten. Einmal hatte sie es gewagt, zu fragen, wann sie denn endlich in die Schule dürfte? Schließlich war sie in den Bergen auch in die Schule gegangen und das sogar sehr gerne und der Mann, der sie hierher gebracht hatte, hatte doch auch gesagt, dass man sich in der Familie um sie kümmere und sie ihre Ausbildung hier fortsetzen könne.

Statt einer Antwort hatte die „Tante“ ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Wer sie eigentlich glaube, dass sie sei? Man sei schließlich so gut zu ihr, dass man sie als fremdes Kind bei sich wohnen lasse, ihr etwas zum Essen und zum Anziehen gebe und das, obwohl man selber wenig habe. Und das sei immerhin keine Selbstverständlichkeit. Vier Säcke Reis habe die Familie als Vermittlungsgebühr bezahlt, damit ein dahergelaufenes Mädchen aus den Bergen ein anständiges Zuhause bekam. Plus die Kosten, die sie täglich für ihren Unterhalt verursachte. Da wäre es das mindeste, dass sie der Familie etwas zurückgab und arbeitete.

Sie hatte sich daraufhin in ihr Schicksal gefügt und es weitestgehend akzeptiert. Was blieb ihr auch für eine andere Wahl? Sie war alleine, ihre Familie war weit weg und für ihre eigene Familie wäre sie vermutlich auch nur eine Belastung, sonst hätte sie sie nicht weggegeben.

Das hatte sie zumindest gedacht, bis sie neulich die Frau aus Europa am Brunnen getroffen hatte. Sie wusste nicht, wo Europa war und was eine Hilfsorganisation ist. Aber die Frau war so nett zu ihr gewesen, dass sie ihr vertraut hatte. Sie hatte ihr sogar geholfen, den schweren Wasserkanister bis fast nach Hause zu tragen. Dabei hatte sie ihr erzählt, dass es viele Kinder wie sie gäbe, doch das an sich war nichts Neues für sie. Sie kannte viele dieser Kinder, traf sie sie doch jeden Tag am Brunnen, wenn sie Wasser holte. Die Frau hatte sich für sie interessiert, sie gefragt, wo sie herkomme und wie sie zu ihrer „Gastfamilie“ gekommen sei. Sie wollte auch wissen, ob die „Tante“ sie schlage. Nun ja, manchmal schon, aber dann hatte sie es meistens wohl auch verdient, weil sie schlecht gearbeitet hatte. Die Frau war daraufhin stehen geblieben, hatte sie sehr ernst angesehen und ihr erklärt, kein Kind verdiene es, geschlagen zu werden, egal wofür, denn auch Kinder hätten Rechte, darunter auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Sie hatte das Mädchen auch gefragt, ob sie einmal mit der „Tante“ reden solle, doch das hatte die Kleine nicht gewollt. Sie hatte Angst, dass die „Tante“ sie wieder schlagen würde, wenn sie erführe, dass sie mit jemanden über ihre Situation gesprochen hatte.

Die Frau hatte sie mehrfach an dem Brunnen abgepasst und mit ihr gesprochen. Sie hatte ihr erzählt, dass sie mit anderen Leuten ihrer Hilfsorganisation ein Kinderheim gebaut habe. Dort könnten Kinder wie sie ein normales Leben führen. Sie könnten spielen und zur Schule gehen und müssten nicht mehr arbeiten. Wenn sie es wollte, könnte sie mitkommen. Und die „Tante“? Sie erklärte ihr, dass die „Tante“ kein Recht habe, ihr vorzuschreiben, dass sie bei ihr bleiben müsse, denn sie sei keine Verwandte und das, was die „Tante“ mit ihr mache, sei nicht rechtens, denn, wie gesagt, auch Kinder hätten Rechte, zum Beispiel das Recht, zur Schule zu gehen und zu spielen.

Darüber dachte sie in dieser Nacht nach, als sie auf der zerschlissenen Matte im Hof lag und die funkelnden Sternbilder betrachtete. Das Leben in den Bergen war arm gewesen, aber nicht so erbärmlich, wie das Leben hier. Viel schlimmer konnte es anderswo auch nicht sein. Langsam aber sicher reifte in ihr ein Entschluss.

Am nächsten Tag traf sie die Frau am Brunnen wieder. Sie begrüßte sie und fragte, ob sie dieses Heim für Kinder einmal sehen könne. Aber natürlich. Die Frau führte sie zu einem Auto. Sie stiegen ein und fuhren gemeinsam ans andere Ende der Stadt. Dem Mädchen gefiel es. Alles war bunt, die Kinder hatten sogar einen richtigen Spielplatz mit einer Rutsche und einer Schaukel. Die Frau zeigte ihr auch die Zimmer. Auch hier war alles bunt und es gab richtige Betten, die sehr bequem aussahen. Und sie müsste hier auch wirklich nicht arbeiten? Nein, arbeiten würden hier nur Erwachsene. Und die Schule? Die Frau zeigte ihr einen Gebäudeteil, in dem sich Klassenzimmer befanden. Ob es ihr gefalle? Ja, das tat es. Sie willigte ein, zu bleiben. Eine freundliche Frau gab ihr schöne, neue Sachen zum Anziehen, sie wurde den anderen Kindern vorgestellt und bekam ein Zimmer zugeteilt, das sie sich mit drei anderen Mädchen teilte. Dieses Mal gab es am nächsten Morgen kein böses Erwachen wie beim letzten Mal. Es war ganz genau so, wie die Frau es ihr versprochen hatte. Hin und wieder sah sie sie noch mal, wenn sie neue Kinder in das Heim brachte.

Eines Tages wurde sie gefragt, ob sie Lust hätte, in die Berge zu ihrer Familie zu fahren. Man habe sie ausfindig gemacht und wenn sie wollte, könnte sie sie besuchen. Mittlerweile war es fünf Jahre her, dass sie ihre leibliche Familie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ein Wiedersehen wollte. Sicherlich hatten die Eltern es nur gut gemeint, als sie sie damals dem Mann mitgaben, damit sie als Restavek in den Slums der Stadt wohnte. Die Eltern waren naiv gewesen und konnten nicht wissen, dass sie ihre Tochter für zwei Säcke Reis in die Leibeigenschaft verkauft hatten. Doch irgendwo tat es ihr weh, dass die Eltern sie überhaupt weggegeben hatten. Arm oder nicht – sollten Eltern nicht für ihre Kinder da sein? Was war schon Reichtum gegen die Liebe und Geborgenheit, die die eigene Familie einem geben konnte? Sie wusste nicht, ob sie sie zu diesem Zeitpunkt wiedersehen wollte. Sie musste darüber nachdenken.

Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen

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