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Artikel 1 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

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Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Er wurde von der achtlos weggeworfenen Bananenschale geweckt, die auf seinem Kopf gelandet war. Nun ja, wenn man sich zum Schutz vor der Witterung sein Lager zwischen Müllsäcken und Containern voller Abfall baute, fiel es wohl unter „allgemeines Lebensrisiko“, dass man gelegentlich auch etwas von dem Dreck abbekam, unter dem man lag. Aber wenigstens war es hier warm und einigermaßen trocken, auch wenn gelegentlich etwas auf einem landete, das dort nicht hingehörte.

Er schnippte die Bananenschale zur Seite und seufzte. Es war wohl keine Absicht gewesen, aber irgendwie war es doch ein Sinnbild für sein Leben, denn auch, wenn er nicht gerade in Mitten von Unrat herumlag, ging diese Gesellschaft mit ihm so um, als sei er ein Stück Abfall – zumindest dann, wenn sie ihm denn überhaupt Beachtung schenkte, denn viele Menschen behandelten ihn schlichtweg, als sei er unsichtbar. Auch das war für ihn irgendwie nachvollziehbar, schließlich war Elend etwas Unangenehmes und niemand wollte es direkt vor Augen geführt bekommen. Irgendwo konnte er es ihnen auch nicht verübeln, war er doch früher selbst nicht besser gewesen. Was für Menschen dort auf den Straßen seiner Stadt lebten und was für Schicksale sie dorthin geführt hatten, hatte ihn damals genauso wenig interessiert. Er war immer davon ausgegangen, dass es sich dabei um Menschen handelte, die sich nicht anpassen wollten oder die zu faul oder zu dumm gewesen waren, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Heute wusste er es besser.

Er konnte nicht sagen, was ihn mehr verletzte – die Menschen, die beleidigende Bemerkungen von sich gaben und vor ihm ausspuckten, wenn er mit seinem Becher in der Hand auf ein bisschen Kleingeld hoffte, oder diejenigen, die ihn schlichtweg völlig ignorierten. Vermutlich waren es die letzteren, die ihm mehr zusetzten, denn wenn seine Anwesenheit noch eine Reaktion bei anderen hervorrief, konnte er sich wenigstens gewiss sein, dass er noch existierte.

Er schälte sich langsam aus seinem Schlafsack. So hell wie es inzwischen war, war es sowieso an der Zeit, aufzustehen. Aber langsam und mit Ruhe. Mittlerweile machte er alles mit viel Ruhe und Bedächtigkeit, denn er wurde auch nicht jünger und seine Knochen wollten schlichtweg nicht mehr so wie früher. Andere Menschen seines Alters gingen mit solchen Wehwehchen zum Arzt und bekamen vermutlich irgendwelche Pillen dagegen verschrieben. Nun ja, er war eben nicht andere Menschen seines Alters. Den Schlafsack faltete er zusammen und brachte ihn in sein übliches Versteck, damit er nicht über Tag wegkam, weil ihn entweder jemand gebrauchen konnte oder die Müllabfuhr ihn mitnahm. Dann machte er sich auf den Weg.

Es war gegen zehn Uhr, als er an seinem Stammplatz in der Fußgängerzone ankam und sich mit seinem Pappbecher vor seinem Lieblingsdenkmal nieder ließ. Wenn ihn seine innere Uhr nicht täuschte, war heute Samstag und es waren viele Familien mit Kindern unterwegs. Er saß noch nicht lange dort, als ein Kind seine Mutter am Mantel zupfte und meinte: „Mama, schau mal, da auf dem Schild steht, dass der Mann Hilfe braucht, um sich etwas zu essen kaufen zu können“. Die Mutter schnaubte verächtlich durch die Nase. „Pah, wenn der etwas vernünftiges gelernt hätte, müsste der da nicht sitzen. Außerdem gibt der das Geld wahrscheinlich sowieso nicht für Essen sondern eher für Alkohol und Drogen aus. Siehst du, das passiert, wenn man in der Schule nicht aufpasst. Wenn der sein Abitur gemacht und etwas vernünftiges studiert hätte, dann müsste der nicht fremde Leute anbetteln!“ Sie zog das Kind am Arm weiter, das anfing, seine Mutter mit Fragen zu löchern, wieso ein Abitur einen davor schützte, mit einem Pappbecher in der Fußgängerzone zu sitzen.

Er schaute zum Fakultätsgebäude hinüber und stellte sich die gleiche Frage, denn er selber hatte ein Abitur – und nicht nur das. Vor ziemlich genau vierzig Jahren hatte er das Gebäude der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät das erste Mal betreten. Als junger Erstsemester im Diplomstudiengang. Er war ein intelligenter, junger Mann mit einer guten, mathematischen Begabung und großen Zielen gewesen. Sein Studium hatte er innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen. Mit Auszeichnung. Sein Professor hatte viel von ihm gehalten und ihm daraufhin eine Promotionsstelle angeboten. Auch seinen Doktor hatte er mit Summa cum laude bestanden. Die Unternehmen in der Stadt hatten sich regelrecht darum gerissen, ihn einstellen zu dürfen. Während des Studiums hatte er eine Frau kennengelernt, mit der er sich ein Familienleben aufbauen wollte. Sie heirateten, bauten sich ein Haus, bekamen zwei Kinder. Er hatte ein nahezu perfektes Leben.

Doch dann veränderte sich alles schlagartig von einem Tag auf den anderen. Das Unternehmen, bei dem er gearbeitet hatte, meldete Insolvenz an und er verlor seine Stelle. Aufgrund der Rezession und seines Alters fiel es ihm schwer, wieder in Arbeit zu kommen. Die Vermittler beim Arbeitsamt waren ebenfalls wenig hilfreich, wenn es darum ging, einen neuen Job für ihn zu suchen. Angebote unterbreiteten sie ihm nicht und Qualifizierungsmaßnahmen lehnten sie jedes mal mit fadenscheinigen Begründungen ab. Je länger die Situation andauerte, umso schwieriger wurde es für ihn, eine angemessene Stelle zu finden. Ingenieure wurden zwar irgendwann wieder vermehrt nachgefragt, doch wenn er sich bewarb, bekam er immer nur zu hören, sein Fachwissen sei veraltet, weil er zu lange aus dem Job raus sei und man könne ihn daher leider nicht gebrauchen.

Mit der Situation wurde er nicht fertig und so begann er, zu trinken. Eines morgens wachte er auf und fand einen Zettel auf dem Küchentisch. Seine Frau hatte ihn verlassen und die beiden Kinder mitgenommen. Er hatte sich einfach zu sehr verändert, als dass sie es noch lange hätte mit ihm aushalten können. Auch damit wurde er nicht fertig und trank deshalb noch mehr. Das Haus war noch nicht abbezahlt, die Raten konnte er nicht mehr bedienen und so pfändete die Bank es schlussendlich. Eines Tages stand er dann da, der ehemalige Shootingstar der Universität, ohne Dach über dem Kopf und nur mit dem, was er am Leib hatte.

Man hatte ihm die Adresse einer Notunterkunft gegeben, aber er hatte Anpassungsschwierigkeiten und wurde mehrfach dabei erwischt, wie er Alkohol in die Unterkunft geschmuggelt hatte. Schließlich flog er wegen des wiederholten Regelbruches raus und stand wieder auf der Straße. Es war ein langer und schmerzhafter Prozess gewesen, der ihn gelehrt hatte, dass Alkohol keine Probleme löste, sondern nur welche schaffte. Das Trinken gab er dran, doch Anpassungsschwierigkeiten hatte er immer noch, weshalb er nun vollständig auf der Straße lebte und das schon seit vielen Jahren.

Das klimpern in seinem Pappbecher holte ihn aus seiner Trance zurück. Er warf einen Blick hinein und stellte fest, dass es für ein Brötchen und eine Tasse Kaffee reichte, sammelte seine Sachen ein und ging. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf die Inschrift am Sockel des Denkmals, an dem er am Vormittag gesessen hatte. Dort stand: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen

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