Читать книгу Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen - Adrienne Träger - Страница 6
Artikel 3 Recht auf Leben und Freiheit
ОглавлениеJeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
Sie saß alleine vor dem Fenster. Für sie war das normal, denn die anderen Kinder hier im Heim gaben sich nicht großartig mit ihr ab. Was allerdings weniger daran lag, dass sie eine andere Hautfarbe hatte und aus dem Ausland kam, als eher daran, dass sie nicht sprach. Am Anfang hatten sich die anderen noch bemüht, mit ihrer neuen Mitbewohnerin Freundschaft zu schließen und ihr die Sprache beizubringen, aber ihre beharrliche Stummheit hatte die anderen mit der Zeit abgeschreckt.
Es war keinesfalls so, dass sie nicht sprechen konnte oder dass sie die fremde Sprache nicht beherrschte. Zwar hatte sie tatsächlich die erste Zeit aufgrund der Sprachbarriere nicht verstanden, was die anderen von ihr wollten, doch mit der Zeit hatte sie die fremden Laute entschlüsselt und mittlerweile verstand sie jedes Wort. Nein, sie wollte einfach nicht sprechen, denn das, was sie zu erzählen gehabt hätte, hätten die anderen sowieso nicht verstanden. Und wie hätte sie es ihnen erklären sollen, wenn ihr selbst die Worte dafür fehlten – sowohl in dieser, als auch in jeder anderen Sprache. Und weil sie so beharrlich stumm blieb, hielten die anderen sie wahlweise für eine taube Nuss oder für eine arrogante Ziege. Also blieb sie allein, denn wer gab sich schon freiwillig mit einer dummen, eingebildeten Kuh ab? Ihr selbst war das ganz recht so, denn obwohl die anderen alle ganz nett waren, konnte sie nichts finden, das sie mit ihnen gemein gehabt hätte. Diese Kinder lebten in einer völlig anderen Welt als der, aus der sie kam. Und irgendwie war das auch gut so.
Sie rückte sich das Kissen auf dem Fensterbrett zurecht und beobachtete die anderen, die an diesem goldenen Herbsttag draußen im Hof spielten. Ein paar von ihnen hatten einen großen Brummkreisel, den sie immer und immer wieder in Bewegung setzten. Wie gebannt schaute sie auf das herumwirbelnde Spielzeug, das sich immer schneller und schneller drehte und sie in ihren Gedanken in ihr Heimatdorf zurück katapultierte.
Es war ein goldener Herbsttag wie dieser und sie spielte mit den Nachbarskindern auf der Straße. Hier in ihrem Heimatdorf war das kein Problem, denn Verkehr gab es hier so gut wie keinen, sodass die Eltern keine Angst haben mussten, dass eines der Kinder einem Verkehrsunfall zum Opfer fallen könnte. Einer der Jungen hatte zum Geburtstag einen Kreisel geschenkt bekommen, der mit einer Peitsche zum Drehen gebracht wurde. Mit etwas Geschick konnte man den Kreisel nach dem ersten Peitschenhieb durch weitere Schläge in Bewegung halten. Die Kinder wetteiferten darum, wer es denn wohl am längsten schaffte, das Spielzeug drehen zu lassen. Immer und immer wieder hörte man die Peitsche knallen – bis auf einmal ein Knall ertönte, der zwar ähnlich klang, aber von weiter weg kam. Die Kinder blickten verwirrt auf, um die Quelle dieses sonderbaren Echos zu lokalisieren. Am Horizont breitete sich eine Staubwolke aus, die sich ihnen näherte und langsam Gestalt annahm.
Die Dorfbewohner liefen aus ihren Häusern, packten die Kinder an den Armen und zogen sie ins Haus. Das junge Mädchen wurde von ihrem Bruder in einen großen Korb gesteckt. Er zischte ihr ins Ohr, sie solle keinen Mucks von sich geben, denn die Teufelsreiter seien auf dem Weg ins Dorf. Sie verstand nicht, was er meinte und konnte sich unter dem Begriff berittene Teufel auch nichts vorstellen, doch unwissend sollte sie nicht lange bleiben, denn kurz darauf hatten diese höllischen Menschen zu Pferd das Dorf erreicht. Sie brüllten herum und schossen mit ihren Gewehren in die Luft, dann stürmten sie die Häuser.
Das verschreckte Mädchen beobachtete das Geschehen durch das Geflecht des Korbes und hoffte, dass die Männer ihr vor Angst bis zum Hals schlagendes Herz nicht hörten. Sie musste mitansehen, wie ihre Mutter von den Fremden an den Haaren ins Zimmer gezogen und auf den Teppich geworfen wurde, wo man ihr schreckliche Dinge antat, während man den Vater zwang, zuzusehen. Anschließend richtete einer der Männer sein Gewehr erst auf die Mutter und dann auf den Vater. Zwei Mal ein lauter Knall wie ein Peitschenhieb und die Eltern fielen einer nach dem anderen leblos zu Boden. Dann lachten die Männer höhnisch und gingen.
Das Mädchen blieb starr vor Schreck in dem Korb hocken, bis jemand den Deckel hochriss. Sie wurde von Furcht ergriffen und wollte schreien, aber aus ihrer Kehle löste sich kein Laut. Es war, als sei ihre Stimme zusammen mit dem Leben der Eltern erloschen. Sie zuckte zusammen, als eine Hand sie sanft an der Schulter berührte. Es war ihr Bruder, der ihr aus dem Korb heraushalf, sie kurz in den Arm nahm und anschließend mit ihr durch das hintere Fenster des Hauses flüchtete.
Sie liefen eine ganze Weile, bis sie die Hügel erreichten. Dort hielten sie inne, um einen letzten Blick auf ihr Dorf zu werfen, das lichterloh in Flammen stand, während die Sonne gerade im Begriff war, unterzugehen. Es war, als ob nicht nur das Dorf, sondern mit ihm der ganze Himmel brannte.
Gemeinsam flüchteten sie bis nach Nordafrika. Der Bruder hatte alles Geld, das der Vater im Haus aufbewahrt hatte, mitgenommen und bezahlte davon die Überfahrt nach Europa. Irgendwann waren sie auf dem Weg voneinander getrennt worden. Wo der Bruder jetzt war und ob er überhaupt noch lebte, wusste sie nicht.
Nein, das, was sie erlebt hatte, ließ sich nicht in Worte fassen. Und sie war gerne allein, denn dann stellte ihr auch niemand Fragen.