Читать книгу Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen - Adrienne Träger - Страница 8
Artikel 5 Verbot der Folter
ОглавлениеNiemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
„Also, wenn Sie mich fragen, dann hat irgendetwas dem Mann die Sprache verschlagen. Sie sollten ihn einem Traumaspezialisten vorstellen.“ Der Arzt verabschiedete sich von den Mitarbeitern der Flüchtlingsunterkunft und ging. Die Mitarbeiter hatten ihn geholt, weil bei dem Neuzugang bald die Anhörung für das Asylverfahren anstand. Doch bis heute hatte der Mann kein einziges Wort gesprochen. Zunächst hatten sie gedacht, er sei taub. Da er aber auf Geräusche in seiner Umgebung reagierte, konnte es das nicht sein. Dann hatten sie gedacht, er verstehe sie nicht und mehrere Dolmetscher hinzugezogen. Er hatte einem von ihnen mit Gebärden deutlich gemacht, dass er Zettel und Stift haben wollte und hatte seine Personalien aufgeschrieben. Sie deckten sich mit den Angaben in seinem Pass. Auf die Frage, warum er nach Deutschland gekommen sei, schüttelte er nur stumm den Kopf. Überhaupt wirkte er ständig geistesabwesend. Die Sozialarbeiter waren mit ihrem Latein am Ende. Immer wieder versuchten sie, dem Mann mit Hilfe eines Dolmetschers klar zu machen, dass bald seine Anhörung stattfinden würde. Man würde ihn nur einmal anhören und wenn er dort keine Angaben machte, würde man ihn zurückschicken. Er nickte und bedeutete ihnen, dass er sie verstanden hatte, doch er sagte nichts.
Der Arzt hatte Recht. Es hatte ihm in der Tat die Sprache verschlagen. Man hatte ihn einst mit Gewalt zum Reden gebracht und er hatte geredet, bis er nichts mehr zu sagen gehabt hatte. Dann war er verstummt und seit dem war er auch stumm geblieben.
Die Mitarbeiter rätselten, was ihm passiert sein konnte, dass er nicht reden wollte. Sie hatten schon gemerkt, dass er panische Angst vor Hunden hatte; dass er, sobald das Licht im Schlafsaal gelöscht wurde, seine Taschenlampe einschaltete, um nicht im Dunkeln zu sein; dass er ein Problem in kleinen, geschlossenen Räumen hatte; dass Wasser ihm unangenehm war und dass er um die Verschläge, in denen die Mülltonnen untergebracht waren, immer einen extra großen Bogen machte. Erklären konnten sie sich dieses Verhalten nicht.
Er nahm es ihnen nicht übel. Sie konnten nicht wissen, was er in seinem Heimatland alles erlebt hatte. Und er konnte es ihnen nicht erzählen. Alleine die Vorstellung, das, was man ihm in seiner Heimat angetan hatte, in Worte zu fassen, ließ Panik in ihm aufsteigen. Ganz davon abgesehen, dass ihm schon die bloße Erinnerung daran die Kehle zuschnürte, war es ihm unmöglich, Worte zu finden, die die Schrecken, die er erlebt hatte, in ihrer Gänze hätten wiedergeben können. Und selbst wenn das möglich gewesen wäre, wäre es sehr unwahrscheinlich, dass die Menschen, denen er es hätte erzählen können und wollen, verstanden hätten, welche Qualen er durchlitten hatte. Folter musste man selbst erlebt haben, um nachfühlen zu können, wie sie einen zerbrach. So glaubte er zumindest. Auch er hätte es nicht verstanden, hätte er es nicht am eigenen Leib erlebt. Auch er hatte früher bei dem Wort „Folter“ an das Mittelalter gedacht. An Praktiken einer längst vergangenen Zeit, die mit unserer modernen Welt nicht viel gemein hatten. An Objekte, die man sich im Museum ansah und die man mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen bestaunte, während man darüber nachdachte, was für ein perverser Geist unsere Vorfahren wohl beseelt haben musste, dass sie sich solche Dinge einfallen ließen, um sie anderen Menschen anzutun. Unwirklich war es gewesen und sehr weit weg. Nie hätte er gedacht, dass diese Perversion der Vergangenheit auch in unseren modernen Zeiten existierte, dass es Menschen gab, die Techniken optimiert hatten, um effizienter foltern zu können und dass noch nicht einmal ausgefeiltes Gerät notwendig war, um den Willen und den Lebensgeist eines Menschen zu brechen. Denn wer das möchte, der findet Mittel und Wege es so zu tun, dass es keine sichtbaren Spuren hinterlässt, damit man ihm nicht nachweisen kann, dass er es getan hat.
Es war ein Sommertag gewesen, an dem man ihn verhaftet hatte. Zwei seiner Brüder waren Künstler und hatten sich in ihren Werken kritisch über die Situation im Land geäußert. Es war ihnen zu heiß geworden und sie hatten sich ins Ausland abgesetzt, um dort ungehindert ihrer künstlerischen Ader freien Lauf zu lassen. Er selber war künstlerisch nicht besonders begabt, liebte aber Musik und Poesie. So war er zu einer Veranstaltung gegangen, bei der auch regierungskritische Gedichte vorgetragen worden waren. Die Verwandtschaft zu seinen Brüdern und der Besuch des Lyrikabends hatten gereicht, um ihn als subversiv einzustufen. Einige Tage nach der Veranstaltung wurde er verhaftet. Man warf ihm vor, eine Revolution vorzubereiten und den Präsidenten stürzen zu wollen. Er fand die Anschuldigungen absurd. Zwar hielt er von der Regierung im Allgemeinen und dem Präsidenten im Besonderen recht wenig, doch ihm gleich revolutionäre Tendenzen zu unterstellen, war einfach verrückt. Da er nicht die Antworten auf die Fragen gab, die man von ihm hören wollte, wurde ihm gedroht. Man habe Mittel und Wege, Leute wie ihn zum Reden zu bringen. Wenn man mit ihm fertig sei, würde er singen wie ein Kanarienvogel.
Zu Beginn sagte er noch nichts, doch je länger die Situation andauerte und je öfter man ihn den „speziellen Verhörmethoden“ unterzog, umso mehr zermürbte es ihn. Seine Wärter hatten Recht behalten. Nach einigen Wochen fing er an, zu reden. Er redete und redete. Wie ein endloser Wasserfall sprudelte er Dinge heraus, nur damit man endlich von ihm abließ. Er gestand Taten, die er nie begangen hatte, erfand Personen, die es nicht gab, beschrieb Ereignisse, die nie stattgefunden hatten. Er gab ihnen das, was sie von ihm wollten, damit sie von ihm abließen. Und als sie von ihm abließen, hatte er so viel gesprochen, dass er nichts mehr zu sagen hatte. Von einem Moment auf den nächsten verstummte er und hatte seitdem nichts mehr zu sagen gehabt, denn für das, was er erlebt hatte, gab es in seiner gedanklichen Welt keine Worte mehr.