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Zwölf Uhr«, sagte Socks verzweifelt.

Die Sache hatte nicht sehr gut geklappt. Die Wecker allerdings waren losgegangen – mit einer derartigen Lautstärke, dass Ronny Devereux dachte, das Jüngste Gericht sei angebrochen. Wenn das schon die Wirkung im Nachbarzimmer gewesen war, wie erst musste sie in unmittelbarer Nähe gewesen sein? Ronny lief auf den Flur hinaus und legte sein Ohr an die Tür.

Er erwartete wüste Flüche, aber er hörte überhaupt nichts. Die Wecker tickten – laut, aufreizend, doch offenbar hatten sie in Gerald Wade einen zähen Gegner gefunden.

Die Verschwörer waren geneigt, allen Mut zu verlieren.

»Der Kerl ist kein menschliches Wesen«, meinte Jimmy.

»Hat wahrscheinlich gedacht, irgendwo weit weg würde ein Telefon läuten, und sich wieder umgedreht und weitergeschlafen«, vermutete Helen.

»Das erscheint mir sehr bemerkenswert«, erklärte Rupert Bateman ernst. »Ich finde, er sollte deswegen einmal einen Arzt aufsuchen.«

»Irgendein Schaden in den Gehörgängen«, meinte Bill hoffnungsvoll.

»Wenn ihr mich fragt«, sagte Socks, »ich glaube, der legt uns rein. Natürlich haben sie ihn aufgeweckt. Aber er will uns anschmieren und tut, als hätte er sie nicht gehört.«

Alle sahen Socks voll Bewunderung und Respekt an.

»Das ist ein Gedanke«, meinte Bill.

»Einfach subtil«, sagte Socks. »Ihr werdet sehen, heute kommt er besonders spät zum Frühstück – nur um uns reinzulegen!«

Und da es jetzt bereits einige Minuten nach zwölf Uhr war, ging die allgemeine Meinung dahin, dass Socks recht hatte. Nur Ronny Devereux machte Einwände.

»Ihr vergesst, dass ich sofort vor der Tür stand, als der erste Wecker losgegangen war. Was immer Gerry auch später beschlossen hatte, das Klingeln des ersten muss ihn überrascht haben. Er hätte irgendeinen Fluch rauslassen müssen. Wo hattest du denn den ersten hingestellt, Pongo?«

»Auf ein kleines Tischchen direkt neben seinem Ohr«, erwiderte Mr Bateman.

»Das war sehr weise von dir, Pongo«, sagte Ronny. »Und jetzt erzähl mir mal«, er wandte sich an Bill, »wenn um halb sieben Uhr morgens dicht neben deinem Ohr ein Wecker loslegt, was würdest du da tun?«

»Mein Gott«, rief Bill. »Ich würde …« Er hielt inne.

»Eben!«, meinte Ronny. »Ich auch. Jeder normale Mensch würde hochschrecken. Nun, er nicht! Deshalb sage ich, dass Pongo recht hat – wie gewöhnlich – und Gerry irgendein obskures Ohrenleiden hat.«

»Jetzt ist es zwanzig nach zwölf«, stellte eines der Mädchen enttäuscht fest.

»Ich finde«, meinte Jimmy langsam, »dass es ein bisschen zu weit geht!«

Bill starrte ihn an. »Was willst du damit sagen?«

»Nun, irgendwie sieht das Gerry nicht ähnlich.« Jimmy wollte nicht zu viel sagen, und doch … er bemerkte, wie Ronny ihn anblickte. Ronny war plötzlich auf der Hut.

In diesem Augenblick kam Tredwell ins Zimmer und sah sich zögernd um.

»Ich dachte, Mr Bateman sei hier«, erklärte er entschuldigend.

»Er ist eben rausgegangen, durch die Terrassentür«, sagte Ronny. »Kann ich Ihnen helfen?«

Tredwells Augen wanderten von ihm zu Jimmy Thesiger und wieder zurück. Auf diese Weise ausgesondert verließen die beiden jungen Männer mit ihm das Zimmer. Sorgfältig schloss Tredwell die Speisezimmertür hinter ihnen.

»Nun«, sagte Ronny, »was gibt’s?«

»Da Mr Wade immer noch nicht zum Frühstück erschienen war, Sir, nahm ich mir die Freiheit, William in sein Zimmer hinaufzuschicken.«

»Und?«

»William kam gerade ganz aufgeregt heruntergerannt, Sir.« Tredwell hielt kurz inne. »Ich fürchte, Sir, dass der junge Mann im Schlaf verstorben ist.«

Jimmy und Ronny starrten ihn an.

»Das ist doch Unsinn!«, rief Ronny schließlich. »Es … ich gehe selbst hinauf und sehe nach. Vielleicht hat sich William, der alte Trottel, geirrt.«

Tredwell hob abwehrend den Arm. Mit einem merkwürdigen Gefühl der Erleichterung bemerkte Jimmy, dass der Butler die Situation fest im Griff hatte.

»Nein, Sir! William hat sich nicht geirrt! Ich habe schon nach Dr Cartwright geschickt und mir die Freiheit erlaubt, die Tür abzuschließen. Jetzt muss ich Mr Bateman suchen.«

Tredwell lief eilig davon. Ronny blieb wie betäubt stehen. »Gerry«, murmelte er.

Jimmy nahm seinen Freund am Arm und schob ihn durch eine Seitentür auf eine stille Ecke der Terrasse. Dort drückte er ihn auf einen Stuhl.

»Nimm’s nicht so tragisch, alter Knabe!«, sagte er freundlich. »Es geht dir bestimmt gleich wieder besser.« Er hatte gar nicht gewusst, dass Ronny mit Gerry Wade so eng befreundet gewesen war. »Wenn jemand gesund aussah, dann war er es.«

Ronny nickte.

»Das ganze Spiel mit den Weckern kommt mir jetzt richtig gemein vor«, fuhr Jimmy fort. »Merkwürdig, nicht wahr, wie aus einem Spiel oft Ernst wird!«

Er sprach mehr oder weniger rhetorisch, um Ronny Zeit zu geben, sich wieder zu fassen. Ronny bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Wenn doch nur der Arzt käme. Ich möchte wissen …«

»Was?«

»Woran … er starb.«

Jimmy spitzte seinen Mund. »Herz?«, vermutete er.

Ronny lachte kurz und bitter auf.

Jimmy fand es schwierig weiterzureden.

»Du glaubst doch nicht … du denkst doch nicht etwa, dass er einen Schlag auf den Kopf gekriegt hat oder so was? Weil Tredwell die Tür abgeschlossen hat und all das?« Er schüttelte den Kopf und schwieg. Er wusste nicht, was man außer Warten tun konnte. Deshalb wartete er. Es war Tredwell, der sie aufstöberte.

»Der Arzt würde Sie gern in der Bibliothek sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir.«

Ronny sprang auf. Jimmy folgte ihm.

Dr Cartwright war ein schlanker, energischer junger Mann mit einem klugen Gesicht. Er begrüßte sie mit kurzem Nicken. Pongo, der ernster und bebrillter wirkte als je, stellte sie nacheinander vor.

»Wie ich höre, waren Sie ein guter Freund von Mr Wade«, sagte der Arzt zu Ronny.

»Sein bester.«

»Hm. Nun, die Angelegenheit scheint ziemlich klar, wenn auch traurig. Er sah sehr gesund aus. Wissen Sie, ob er Schlafmittel nahm?«

»Schlafmittel?« Ronny war verblüfft. »Er schlief immer wie ein Murmeltier.«

»Nun, der Tatbestand ist ziemlich klar. Trotzdem wird es eine Untersuchung geben, fürchte ich.«

»Wie starb er denn?«

»Da gibt es nicht viele Zweifel: an einer Überdosis Chloral. Das Zeug stand neben seinem Bett, in einem Fläschchen. Dazu ein Glas.«

Es war Jimmy, der die Frage stellte, die seinem Freund auf der Zunge lag. »Dabei sind keine üblen Dinge im Spiel?«

Der Arzt sah ihn scharf an. »Warum fragen Sie das?«

Jimmy sah Ronny an. Wenn Ronny etwas wusste, musste er jetzt sprechen. Aber zu seinem Erstaunen schüttelte Ronny den Kopf. »Es gibt nicht den geringsten Anlass«, sagte er.

»Und … Selbstmord?«

»Ganz bestimmt nicht!« Ronny sagte das mit Nachdruck.

Der Arzt war anscheinend nicht ganz so fest davon überzeugt. »Sie wissen von keinen Schwierigkeiten? Geldgeschichten? Eine Frau?«

Wieder schüttelte Ronny den Kopf.

»Jetzt zu seinen Verwandten. Sie müssen benachrichtigt werden.«

»Er hat eine Schwester – das heißt eine Halbschwester. Sie lebt in Deane Priory. Etwa zwanzig Meilen von hier. Wenn er nicht in der Stadt war, wohnte er bei ihr.«

»Hm«, meinte der Arzt. »Wir müssen sie benachrichtigen.«

»Das übernehme ich«, sagte Ronny und sah Jimmy an. »Du kennst sie, nicht wahr?«

»Flüchtig. Habe ein- oder zweimal mit ihr getanzt.«

»Dann können wir ja in deinem Auto fahren. Es macht dir doch nichts aus mitzukommen?«

»Ich wollte es gerade vorschlagen. Ich geh schon mal und mache den alten Bus startklar.«

Jimmy war froh, etwas zu tun zu haben. Ronnys Benehmen verwirrte ihn. Was wusste oder vermutete er? Und warum hatte er dem Arzt von seinem Verdacht, wenn er tatsächlich einen hegte, nichts gesagt? Kurz darauf fuhren die beiden Freunde ohne Rücksicht auf derart überflüssige Dinge wie Geschwindigkeitsbegrenzungen in Jimmys Wagen los.

»Jimmy«, sagte Ronny unterwegs, »ich glaube, dass du jetzt mein bester Freund bist.«

»Ja … warum?«, fragte er rau.

»Es gibt etwas, das du wissen solltest.«

»Über Gerry Wade?«

»Ja.«

Jimmy wartete. »Nun?«, fragte er schließlich.

»Ich weiß nicht, ob ich reden soll«, sagte Ronny.

»Warum?«

»Ich bin durch eine Art Versprechen gebunden.«

»Dann solltest du es vielleicht lieber lassen.«

Es entstand eine Pause.

»Und trotzdem würde ich gern … weißt du, Jimmy, du bist einfach intelligenter als ich.«

»Vielleicht«, meinte Jimmy unfreundlicherweise.

»Nein, ich kann es doch nicht«, sagte Ronny plötzlich.

»Okay. Wie du willst!«

Nach langem Schweigen fragte Ronny: »Wie ist sie denn?«

»Wer?«

»Das Mädchen. Gerrys Schwester.«

Jimmy schwieg ein paar Minuten, dann sagte er: »Sie ist in Ordnung. Sie ist … ein famoses Mädchen.«

»Gerry hat sie sehr gemocht. Es wird sie hart treffen.«

Sie schwiegen, bis sie Deane Priory erreicht hatten. Miss Loraine, sagte das Dienstmädchen, sei im Garten. Außer, sie wollten Mrs Coker sprechen …

Jimmy versicherte, dass sie nicht zu Mrs Coker wollten.

»Wer ist Mrs Coker?« fragte Ronny, als sie in den leicht verwilderten Garten gingen.

»Die alte Ziege, die bei Loraine wohnt.«

Sie hatten einen gepflasterten Weg betreten. An seinem Ende stand ein Mädchen mit zwei schwarzen Spaniels, sehr blond, in schäbigen alten Tweedhosen. Nicht im Geringsten das Mädchen, das Ronny erwartet hatte. Keineswegs Jimmys Typ. Einen Hund am Halsband haltend kam sie ihnen entgegen.

»Guten Tag«, sagte sie. »Sie brauchen sich vor Elizabeth nicht zu fürchten. Sie hat nur gerade Junge und ist sehr misstrauisch.« Sie sprach ganz natürlich, und als sie aufblickte, wurden ihre roten Wangen noch röter. Ihre Augen waren dunkelblau – wie Kornblumen. Plötzlich weiteten sie sich … vor Angst? Als ob sie etwas ahnte.

Jimmy sagte hastig: »Das ist Ronny Devereux, Miss Wade. Sie haben Gerry sicher oft von ihm sprechen hören.«

»O ja!« Sie wandte sich mit einem offenen warmen Lächeln ihm zu. »Sie waren in Chimneys, nicht wahr? Warum haben Sie Gerry nicht mitgebracht?«

»Wir … äh … das konnten wir nicht«, sagte Ronny.

Wieder sah Jimmy Angst in ihren Augen aufsteigen.

»Miss Wade«, begann er, »ich fürchte … ich meine, wir haben schlechte Nachrichten für Sie.«

Augenblicklich war sie hellwach. »Gerry?«

»Ja … Gerry … er ist …«

Sie stampfte in plötzlicher Ungeduld mit dem Fuß auf.

»Nun reden Sie schon!« Sie wandte sich an Ronny. »Dann sagen Sie es mir!«

Eifersucht durchzuckte Jimmy. In diesem Augenblick wurde ihm klar, was er sich bis jetzt nie hatte eingestehen wollen. Er wusste, warum Helen und Nancy und Socks nur »Mädchen« für ihn waren und sonst nichts.

Er hörte nur halb, wie Ronny antwortete: »Ja, Miss Wade, ich werde es Ihnen sagen: Gerry ist tot!«

Sie bewahrte erstaunlich gut die Fassung. Sie schluckte und trat einen Schritt zurück, aber dann, nach ein paar Augenblicken, stellte sie hastige bohrende Fragen. Wie? Wann?

Ronny antwortete, so gut er konnte.

»Schlafmittel? Gerry soll Schlafmittel genommen haben?«

Der ungläubige Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Jimmy sah sie kurz an. Es war fast wie eine Warnung. Dann erklärte er ihr so schonend wie möglich, warum es eine Untersuchung geben musste. Sie schauderte. Sie lehnte ihr Angebot, mit ihnen nach Chimneys zu fahren, ab und erklärte, sie würde später nachkommen. Sie besaß einen eigenen Zweisitzer.

»Ich möchte ein wenig allein sein«, sagte sie kläglich.

»Ich verstehe«, erwiderte Ronny.

»Ist schon gut«, meinte Jimmy.

Sie sahen sich verlegen und hilflos an.

»Ich danke Ihnen beiden sehr, dass Sie gekommen sind.«

Schweigend fuhren sie zurück. Sie waren irgendwie befangen.

»Mein Gott! Hat das Mädchen Haltung!«, sagte Ronny einmal.

Jimmy stimmte ihm zu.

»Gerry war mein Freund«, erklärte Ronny. »Es ist jetzt meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern.«

»Natürlich, ganz klar!«

Mehr redeten sie nicht.

Bei ihrer Rückkehr nach Chimneys wurde Jimmy von einer in Tränen aufgelösten Lady Coote aufgehalten.

»Der arme Junge!«, wiederholte sie immer wieder. »Der arme Junge!« Jimmy machte die passendsten Bemerkungen, die ihm einfielen.

Lady Coote erzählte ihm daraufhin mit aller Ausführlichkeit Einzelheiten über das Hinscheiden verschiedener lieber Freunde. Jimmy hörte ihr mit gespieltem Interesse zu und brachte es schließlich fertig, sich mit Anstand zurückzuziehen.

Er rannte leichtfüßig die Treppe hinauf. Ronny kam gerade aus Geralds Zimmer.

»Ich war drinnen, um ihn mir anzusehen«, sagte er. »Gehst du auch hinein?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Jimmy, der wie alle jungen Leute eine gesunde Abneigung gegen den Tod hatte.

»Ich meine, alle Freunde sollten es tun.«

»Ja? Wirklich?«, fragte Jimmy und fand, dass Ronny Devereux sich in dieser ganzen Geschichte verdammt merkwürdig benahm.

»Ja. Aus einer Art Achtung.«

Jimmy seufzte, gab dann aber nach.

»Na gut«, sagte er und ging mit zusammengebissenen Zähnen hinein.

Weiße Blumen lagen auf der Bettdecke. Das Zimmer war ordentlich aufgeräumt. Jimmy warf einen kurzen, nervösen Blick auf das stille weiße Gesicht. Konnte das der pausbäckige rosige Gerry Wade sein? Er schauderte.

Als er sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, fiel sein Blick auf den Kaminsims, und er blieb erstaunt stehen. In einer Reihe aufgestellt standen dort die Wecker.

Rasch lief er nach draußen. Ronny wartete auf ihn.

»Armer Kerl«, murmelte Jimmy. »Sag mal, Ronny, wer hat eigentlich die Wecker aufgestellt?«

»Wie soll ich das wissen? Einer der Diener vermutlich.«

»Komisch, es sind nur sieben, nicht acht. Ist dir das auch aufgefallen?«

Der letzte Joker

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