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7 Dem Tod entronnen

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Mit ihrem großen grünen Bentley hielt Frankie am Bordstein vor einem stattlichen altmodischen Gebäude, über dessen Portal die Inschrift »St Asaph’s« eingemeißelt war.

Sie sprang aus dem Wagen, nahm einen üppigen Strauß Lilien vom Beifahrersitz und klingelte an der Tür. Eine Frau in Schwesterntracht öffnete ihr.

»Könnte ich bitte Mr Jones besuchen?«, fragte Frankie.

Mit lebhaftem Interesse ließ die Schwester ihren Blick über den Bentley, die Lilien und Frankie wandern.

»Wen darf ich melden?«

»Lady Frances Derwent.«

Die Schwester war ganz verzückt, und ihr Patient stieg in ihrer Achtung.

Sie führte Frankie in ein Zimmer im ersten Stock.

»Sie haben Besuch, Mr Jones. Na, was glauben Sie, wer es ist? Welch nette Überraschung für Sie.«

Das übliche Sonnenscheingetue von Krankenschwestern.

»Donnerwetter!«, sagte Bobby völlig verdattert. »Wenn das nicht Frankie ist!«

»Hallo, Bobby, ich hab dir die üblichen Blumen mitgebracht. Sehen zwar etwas nach Friedhof aus, aber die Auswahl war begrenzt.«

»Oh, Lady Frances«, flötete die Schwester, »sie sind wunderschön. Ich stelle sie sofort ins Wasser.«

Sie verließ das Zimmer.

Frankie setzte sich in einen offenkundig für Besucher gedachten Sessel.

»Und, Bobby?«, sagte sie. »Was soll das Ganze?«

»Das ist eine sehr gute Frage«, erwiderte Bobby. »Ich bin hier im Haus die absolute Sensation. Nicht weniger als acht Gran Morphium. Das Lancet und das BMJ werden über mich berichten.«

»Was ist das BMJ?«, unterbrach ihn Frankie.

»Das British Medical Journal.«

»Na gut. Nur zu. Rassel noch ein paar Abkürzungen herunter.«

»Weißt du, meine Kleine, dass ein halbes Gran eine tödliche Dosis ist? Eigentlich müsste ich jetzt sechzehnmal tot sein. Sicher, es sind auch schon Leute mit sechzehn Gran intus wieder auf die Beine gekommen, aber acht sind trotzdem ziemlich beeindruckend, findest du nicht? Ich bin hier der Held. So einen Fall wie mich hatten sie in diesem Haus noch nie.«

»Wie schön für sie.«

»Nicht wahr? Da haben sie etwas, worüber sie mit all den anderen Patienten reden können.«

Mit zwei Vasen voller Lilien in den Händen kehrte die Schwester zurück.

»Es stimmt doch, Schwester, oder?«, fragte Bobby. »So einen Fall wie mich hatten Sie noch nie?«

»Ach, eigentlich sollten Sie überhaupt nicht hier sein«, erwiderte die Schwester. »Auf dem Friedhof, da sollten Sie sein. Aber wie man so schön sagt, nur die Guten sterben jung.«

Über ihren eigenen Witz kichernd, ging sie wieder aus dem Zimmer.

»Na bitte!«, sagte Bobby. »Du wirst sehen, ich werde in ganz England berühmt sein.«

Und so redete er weiter. Sämtliche Anzeichen eines Minderwertigkeitskomplexes, die er bei seinem letzten Treffen mit Frankie gezeigt hatte, waren verschwunden. Bobby hatte entschieden eine egoistische Freude daran, jedes Detail seines Falles vor ihr auszubreiten.

»Schluss jetzt«, sagte Frankie abwehrend. »Magenpumpen interessieren mich wirklich nicht besonders. Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, du seist der Erste, der sich je eine Vergiftung zugezogen hat.«

»Aber herzlich wenige haben acht Gran Morphium zu sich genommen und es überlebt«, gab Bobby zu bedenken. »Herrgott noch mal, du bist nicht beeindruckt genug.«

»Ziemlich ärgerlich für die Leute, die dich vergiften wollten«, meinte Frankie.

»Ich weiß. Eine Verschwendung von vorzüglichem Morphium.«

»Es war im Bier, oder?«

»Ja. Verstehst du, ich schlief wie ein Toter, als mich jemand gefunden und versucht hat, mich aufzuwecken – aber vergeblich. Er bekam es mit der Angst zu tun, trug mich zu einem Bauernhof und rief einen Arzt …«

»Den Rest kenne ich«, warf Frankie hastig ein.

»Zuerst dachte man, ich hätte das Zeug absichtlich genommen. Als ich ihnen später erzählt habe, was passiert war, sind sie losgezogen, haben die Bierflasche gesucht, genau dort gefunden, wo ich sie hingeworfen hatte, und analysiert, wofür der Bodensatz anscheinend ausgereicht hat.«

»Und es gibt keinen Hinweis darauf, wie das Morphium in die Flasche gelangt sein könnte?«

»Keinen einzigen. Man hat die Leute in dem Pub, wo ich sie gekauft habe, befragt und auch andere Flaschen geöffnet, aber mit denen war alles absolut in Ordnung.«

»Dann muss dir irgendjemand das Zeug ins Bier getan haben, als du geschlafen hast.«

»So ist es. Ich weiß noch, dass der Papierstreifen über dem Verschluss nicht mehr richtig geklebt hat.«

Frankie nickte nachdenklich.

»Tja«, sagte sie, »das zeigt doch, dass ich neulich im Zug genau richtiglag.«

»Womit?«

»Dass dieser Mann – Pritchard – das Kliff hinabgestoßen wurde.«

»Das war nicht im Zug. Das hast du am Bahnhof gesagt«, protestierte Bobby matt.

»Jacke wie Hose.«

»Aber warum …«

»Darling, das liegt doch auf der Hand. Warum sollte wohl jemand gerade dich aus dem Weg räumen wollen? Wo du doch kein Vermögen erbst oder so.«

»Vielleicht ja doch. Vielleicht hat mir ja eine Großtante in Neuseeland, von der ich noch nie gehört habe, ihr ganzes Geld vermacht.«

»Unsinn. Nicht, ohne dich zu kennen. Und wenn sie dich nicht kennt, warum sollte sie dann einem vierten Sohn Geld vererben? Ach, in diesen schweren Zeiten hat doch selbst ein Geistlicher normalerweise keinen vierten Sohn! Nein, die Sache ist ziemlich klar. Nutzen zieht aus deinem Tod niemand, das können wir also ausschließen. Dann wäre da noch Rache. Du hast nicht zufällig eine Apothekertochter verführt?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Bobby mit würdevoller Miene.

»Schon klar. Man verführt so viele, dass man die Übersicht verliert. Aber ganz spontan würde ich sagen, dass du noch nie jemanden verführt hast.«

»Du treibst mir die Schamröte ins Gesicht, Frankie. Und wieso muss es eigentlich eine Apothekertochter sein?«

»Freier Zugang zu Morphium. So leicht ist es nicht, sich Morphium zu beschaffen.«

»Also gut, ich habe keine Apothekertochter verführt.«

»Und du hast auch, soweit du weißt, keine Feinde?«

Bobby schüttelte den Kopf.

»Na bitte«, sagte Frankie triumphierend. »Es muss mit dem Mann zu tun haben, der das Kliff hinuntergestoßen wurde. Was meint denn die Polizei?«

»Die hält es für die Tat eines Irren.«

»Unsinn. Irre laufen doch nicht mit einem unbegrenzten Vorrat an Morphium durch die Gegend, auf der Suche nach x-beliebigen Bierflaschen, in die sie es füllen können. Nein, jemand hat Pritchard das Kliff hinuntergestoßen. Kurz darauf kommst du vorbei, und er glaubt, du hättest ihn dabei beobachtet, und beschließt deshalb, dich aus dem Weg zu räumen.«

»Ich glaube nicht, dass diese Theorie hieb- und stichfest ist, Frankie.«

»Und warum nicht?«

»Nun, erstens habe ich nichts gesehen.«

»Ja, aber das wusste er nicht.«

»Und wenn ich etwas gesehen hätte, dann hätte ich es bei der Untersuchung durch den Coroner gesagt.«

»Das stimmt wohl«, entgegnete Frankie widerwillig.

Sie überlegte einen Augenblick.

»Vielleicht dachte er, du hättest etwas gesehen, was du für unwichtig gehalten hast, was aber in Wirklichkeit wichtig war. Das hört sich jetzt völlig verworren an, aber verstehst du, worauf ich hinauswill?«

Bobby nickte.

»Ja, ich weiß, was du meinst, aber irgendwie kommt es mir ziemlich unwahrscheinlich vor.«

»Ich bin mir sicher, dass diese Sache am Kliff etwas damit zu tun hat. Du warst schließlich an Ort und Stelle, und zwar als Erster …«

»Dr. Thomas war auch da«, rief Bobby ihr in Erinnerung. »Und ihn hat niemand zu vergiften versucht.«

»Das kann ja noch kommen«, sagte Frankie fröhlich. »Oder es wurde bereits versucht, schlug aber fehl.«

»Das scheint mir alles sehr weit hergeholt.«

»Ich finde, es klingt logisch. Wenn in einem Kuhkaff wie Marchbolt gleich zwei ungewöhnliche Sachen passieren – warte, da ist ja noch eine dritte.«

»Was?«

»Diese Stelle, die man dir angeboten hat. Das ist natürlich nur eine Nebensächlichkeit, aber du musst zugeben, es war schon komisch. Ich habe noch nie von einer ausländischen Firma gehört, die sich darauf spezialisiert, unter mittelprächtigen Navy-Veteranen auf Talentsuche zu gehen.«

»Hast du gerade ›mittelprächtig‹ gesagt?«

»Da hattest du es ja noch nicht ins BMJ geschafft. Aber du verstehst, was ich sagen will. Du hast etwas gesehen, was du nicht sehen solltest – zumindest glaubt jemand das, wer auch immer es ist. Also: Zuerst versucht er, dich mit einem Stellenangebot aus Übersee loszuwerden. Als das fehlschlägt, versucht er, dich gleich ganz aus dem Weg zu räumen.«

»Ist das nicht eine ziemlich drastische Maßnahme? Und außerdem ein enormes Risiko?«

»Ja, aber Mörder handeln immer so überstürzt. Je mehr Morde sie begehen, desto mehr Morde wollen sie begehen.«

»Wie in Der dritte Blutfleck«, sagte Bobby, auf einen seiner Lieblingsromane anspielend.

»Ja, und im richtigen Leben ebenso – Smith und seine Ehefrauen und Armstrong und diese Leute.«

»Ja, aber Frankie, was um Himmels willen hätte ich denn sehen sollen?«

»Genau das ist natürlich die Frage«, gab Frankie zu. »Der eigentliche Stoß kann es nicht gewesen sein, da stimme ich dir zu, denn dann hättest du davon erzählt. Es muss etwas an dem Mann selbst gewesen sein. Vielleicht hatte er ein Muttermal oder übergelenkige Finger oder irgendeine seltsame körperliche Eigenart.«

»Ich sehe schon, dein Verstand arbeitet wie der eines Meisterdetektivs à la Dr. Thorndyke. Aber es kann gar nicht so gewesen sein, denn alles, was ich gesehen habe, hätte die Polizei auch gesehen.«

»In der Tat. Das war eine idiotische Idee. Die Sache ist äußerst kompliziert, stimmt’s?«

»Deine Theorie schmeichelt mir«, sagte Bobby. »Sie gibt mir das Gefühl, wichtig zu sein, aber ich glaube trotzdem nicht, dass es sehr viel mehr als eine Theorie ist.«

»Du hast sicherlich recht.« Frankie erhob sich. »Ich muss jetzt gehen. Soll ich dich morgen wieder besuchen kommen?«

»O ja, bitte. Das neckische Geschnatter der Schwestern ist auf die Dauer extrem eintönig. Du bist übrigens ziemlich schnell wieder aus London zurück.«

»Mein Lieber, sobald ich hörte, was dir zugestoßen war, bin ich hergedüst. Es ist ausgesprochen aufregend, einen vergifteten Freund zu haben – sehr romantisch!«

»Ich weiß nicht, ob Morphium wirklich so romantisch ist«, sagte Bobby erinnerungsschwer.

»Also, dann komme ich morgen wieder. Soll ich dir jetzt einen Kuss geben oder nicht?«

»Ich bin nicht ansteckend«, erwiderte Bobby ermunternd.

»Dann werde ich meine Verpflichtung dem Patienten gegenüber gründlichst erfüllen.«

Sie gab ihm einen leichten Kuss.

»Bis morgen.«

Als sie hinausging, trat die Schwester mit Bobbys Tee ins Zimmer.

»Ich habe oft Bilder von ihr in der Zeitung gesehen. Allerdings sieht sie doch ziemlich anders aus. Und in ihrem Wagen habe ich sie natürlich auch herumfahren gesehen, aber aus der Nähe habe ich sie noch nie erlebt. Kein bisschen hochnäsig, nicht wahr?«

»O nein!«, sagte Bobby. »Frankie würde ich nie ›hochnäsig‹ nennen.«

»Ich habe zur Oberschwester gesagt, sie ist so natürlich wie nur was, habe ich gesagt. Kein bisschen aufgeblasen. Ich habe zur Oberschwester gesagt, sie ist genau wie Sie und ich, habe ich gesagt.«

Da er im Stillen absolut anderer Meinung war, gab er keine Antwort. Enttäuscht verließ die Schwester das Zimmer.

Bobby war seinen eigenen Gedanken überlassen.

Er trank den Tee. Dann erwog er das Für und Wider von Frankies erstaunlicher Theorie und verwarf sie schließlich widerwillig. Hierauf suchte er nach anderen Ablenkungen.

Sein Blick fiel auf die beiden Vasen mit den Lilien. Fürchterlich lieb von Frankie, ihm so viele Blumen zu schenken, und sie waren natürlich auch wunderschön, aber er wünschte, sie wäre auf die Idee gekommen, ihm stattdessen ein paar Detektivgeschichten mitzubringen. Er ließ seinen Blick über den Nachttisch wandern. Dort lagen ein Roman von Ouida, ein Exemplar von John Halifax, Gentleman sowie die Marchbolt Weekly Times der letzten Woche. Er nahm John Halifax, Gentleman zur Hand.

Nach fünf Minuten legte er den Roman von Dinah Craik wieder weg. Für jemanden, dessen geistige Nahrung aus Der dritte Blutfleck, Der Fall des ermordeten Erzherzogs und Der geheimnisvolle florentinische Dolch bestand, fehlte John Halifax, Gentleman einfach der Schmiss.

Seufzend griff er zur Marchbolt Weekly Times.

Kurze Zeit später drückte er so ungestüm auf die Klingel unter seinem Kopfkissen, dass sofort eine Schwester ins Zimmer gestürzt kam.

»Was ist denn passiert, Mr Jones? Geht es Ihnen nicht gut?«

»Rufen Sie im Schloss an«, stieß Bobby hervor. »Sagen Sie Lady Frances, sie soll sofort hierher zurückkommen.«

»Aber Mr Jones. So etwas können Sie unmöglich ausrichten lassen.«

»Ach, das kann ich nicht? Wenn ich dieses verflixte Bett verlassen dürfte, würden Sie schon sehen, ob ich das kann oder nicht. Unter den gegebenen Umständen müssen Sie es allerdings für mich tun.«

»Aber sie wird kaum schon wieder zu Hause sein.«

»Da kennen Sie ihren Bentley schlecht.«

»Sie wird noch nicht ihren Tee getrunken haben.«

»Jetzt hören Sie mal, meine Liebe«, sagte Bobby, »stehen Sie hier nicht herum und widersprechen mir ständig. Tun Sie, was ich Ihnen sage. Rufen Sie sie an und bestellen Sie ihr, sie soll sofort herkommen, da ich ihr etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen habe.«

Weichgeklopft, aber unwillig ging die Schwester aus dem Zimmer. Mit Bobbys Nachricht erlaubte sie sich einige Freiheiten:

Falls es Lady Frances keine Ungelegenheiten bereite, so wüsste Mr Jones gern, ob es ihr etwas ausmachen würde, bei ihm vorbeizukommen, da er ihr etwas mitteilen wolle, doch natürlich solle sie sich bitte keinerlei Umstände machen.

Lady Frances erwiderte knapp, sie würde sofort kommen.

»Sie ist vernarrt in ihn«, sagte die Schwester zu ihren Kolleginnen, »darauf können Sie Gift nehmen. So ist das nämlich.«

Gespannt wie ein Flitzbogen trat Frankie in Bobbys Zimmer.

»Was hat es mit dieser verzweifelten Vorladung auf sich?«, fragte sie.

Bobby saß mit glühenden Wangen aufrecht im Bett. Er wedelte mit der Marchbolt Weekly Times.

»Sieh dir das mal an, Frankie.«

Frankie sah es sich an.

»Und?«, fragte sie.

»Das ist das Bild, von dem du meintest, es sei retuschiert worden, würde aber trotzdem dieser Cayman ähneln.«

Bobby deutete auf den etwas unscharfen Abdruck einer Fotografie. Darunter stand: »DAS BEI DEM TOTEN AUFGEFUNDENE PORTRÄT, MIT DESSEN HILFE ER IDENTIFIZIERT WURDE. MRS AMELIA CAYMAN, DIE SCHWESTER DES TOTEN.«

»Genau das habe ich gesagt«, versetzte Frankie, »und es stimmt auch. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man deshalb gleich delirieren muss.«

»Ich auch nicht.«

»Aber du hast gesagt …«

»Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber verstehst du, Frankie«, Bobbys Stimme wurde sehr eindringlich, »das ist nicht das Foto, das ich dem Toten in die Tasche zurückgesteckt habe.«

Sie sahen sich an.

»In dem Fall«, begann Frankie langsam.

»Muss er entweder zwei Fotos bei sich gehabt haben …«

»Was höchst unwahrscheinlich ist …«

»Oder …«

Sie hielten inne.

»Dieser Mann, wie heißt er noch mal?«, fragte Frankie.

»Bassington-ffrench!«, sagte Bobby.

»Also ich bin mir meiner Sache ziemlich sicher!«

Ein Schritt ins Leere

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