Читать книгу Ein Schritt ins Leere - Agatha Christie - Страница 8
5 Mr und Mrs Cayman
ОглавлениеAls Bobby etwa eine halbe Stunde später wieder im Pfarrhaus eintraf, stellte er fest, dass ihn der Tod von Alex Pritchard noch etwas länger beschäftigen sollte. Ihm wurde ausgerichtet, dass Mr und Mrs Cayman vorbeigekommen seien und bei seinem Vater im Arbeitszimmer säßen. Als er dazustieß, sah er, wie sich sein Vater, augenscheinlich ohne große Freude, tapfer bemühte, ein angemessenes Gespräch zustande zu bringen.
»Ah!«, sagte der Pfarrer jetzt einigermaßen erleichtert. »Da ist Bobby ja.«
Mr Cayman erhob sich und ging mit ausgestreckter Hand auf den jungen Mann zu. Er war groß und rotgesichtig und legte eine aufgesetzte Herzlichkeit an den Tag, die von seinem kalten, leicht verschlagenen Blick Lügen gestraft wurde. Was Mrs Cayman anging, so hatte sie, obwohl sie auf eine dreiste, derbe Art als attraktiv gelten konnte, wenig mit dem früheren Foto von ihr gemeinsam, und von jenem wehmütigen Ausdruck war überhaupt nichts mehr übrig. Vermutlich hätte sie sich auf dem Bild selbst nicht mehr erkannt, überlegte Bobby, und jemand anders daher wohl umso weniger.
»Ich habe meine Frau begleitet«, sagte Mr Cayman und packte Bobbys Hand mit einem festen, schmerzhaften Griff. »Musste ihr beistehen, verstehen Sie – Amelia ist natürlich ziemlich mitgenommen.«
Mrs Cayman schniefte.
»Wir sind bei Ihnen vorbeigekommen«, fuhr Mr Cayman fort, »weil der Bruder meiner armen Frau ja sozusagen in Ihren Armen verstorben ist, verstehen Sie. Natürlich möchte sie wissen, was Sie ihr von seinen letzten Augenblicken erzählen können.«
»Sicher«, sagte Bobby unruhig. »Selbstverständlich.«
Er grinste nervös und vernahm sofort den Seufzer seines Vaters, einen Seufzer christlicher Ergebung.
»Der arme Alex«, sagte Mrs Cayman und tupfte sich die Augen. »Der arme, arme Alex.«
»Ich weiß«, erwiderte Bobby. »Absolut furchtbar.«
Er wand sich unbehaglich.
»Verstehen Sie«, sagte Mrs Cayman und blickte ihn hoffnungsvoll an, »wenn er ein paar letzte Worte oder eine Nachricht hinterlassen hat, dann würde ich das natürlich sehr gern wissen.«
»Gewiss doch. Allerdings hat er nichts mehr gesagt.«
»Überhaupt nichts?«
Mrs Cayman machte ein enttäuschtes, ungläubiges Gesicht.
»Also, nein, wirklich überhaupt nichts«, sagte Bobby bedauernd.
»Es war auch das Beste so«, erklärte Mr Cayman feierlich. »Einfach zu entschlafen, ohne Schmerzen, das solltest du als Gnade ansehen, Amelia.«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Mrs Cayman. »Er hat also keine Schmerzen verspürt?«
»Da bin ich mir ganz sicher«, sagte Bobby.
Mrs Cayman seufzte tief auf.
»Nun, dafür muss man wirklich dankbar sein. Vielleicht habe ich gehofft, dass er eine letzte Nachricht hinterlassen hätte, aber ich sehe ein, dass es so am besten ist. Der arme Alex. Er fand sich immer so gut im Freien zurecht. Ein echter Naturliebhaber.«
»Ja, das glaube ich gern«, sagte Bobby. Er musste an die gebräunte Haut denken, an die tiefblauen Augen. Ein sympathischer Mensch, dieser Alex Pritchard, selbst im Angesicht des Todes. Seltsam, dass er Mrs Caymans Bruder und Mr Caymans Schwager gewesen sein sollte. Er hatte, fand Bobby, Besseres verdient.
»Nun, wir sind Ihnen auf alle Fälle sehr zu Dank verpflichtet«, sagte Mrs Cayman.
»Ach, keine Ursache«, erwiderte Bobby. »Ich meine, na ja, es blieb mir ja nichts anderes übrig, ich meine …«
Er verhaspelte sich heillos.
»Wir werden es Ihnen nie vergessen«, erklärte Mr Cayman. Erneut bekam Bobby den schmerzhaften Händedruck zu spüren. Mrs Cayman reichte ihm eine schlaffe Rechte. Sein Vater verabschiedete sich ebenfalls. Bobby begleitete die beiden zur Tür.
»Und was machen Sie so, junger Mann?«, erkundigte sich Mr Cayman. »Heimaturlaub oder etwas Ähnliches?«
»Ich verbringe die meiste Zeit damit, Arbeit zu suchen.« Er hielt inne. »Ich war bei der Navy.«
»Harte Zeiten, sehr harte Zeiten momentan«, sagte Mr Cayman kopfschüttelnd. »Nun, ich wünsche Ihnen auf alle Fälle viel Glück.«
»Ich danke Ihnen vielmals«, erwiderte Bobby höflich.
Er sah ihnen nach, wie sie die unkrautbewachsene Auffahrt hinuntergingen.
Plötzlich schoss ihm, während er noch dort stand, eine Flut von Bildern und verwirrenden Gedanken durch den Kopf: das Foto, das Gesicht des Mädchens mit den weit auseinanderstehenden Augen und den feinen Haaren – und zehn, fünfzehn Jahre später Mrs Cayman mit ihrem stark geschminkten Gesicht, den gezupften Augenbrauen, den zwischen aufgedunsenen Fettpolstern tief eingesunkenen Schweinsäuglein und dem hennagefärbten Haar. Jede Spur von Jugend und Unschuld war verschwunden. Ein wahrer Jammer! Vielleicht hatte alles damit begonnen, dass sie einen markigen Kerl wie Mr Cayman geehelicht hatte. Hätte sie jemand anders geheiratet, wäre sie möglicherweise würdevoller gealtert – mit einem Hauch von Grau im Haar, mit noch immer weit auseinanderstehenden Augen in einem weichen, blassen Gesicht. Und dennoch …
Bobby seufzte und schüttelte den Kopf.
»Das ist das Schlimmste an einer Ehe«, murmelte er.
»Was hast du gesagt?«
Bobby schreckte aus seinen Grübeleien hoch und erblickte Frankie, die er nicht hatte kommen hören.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo. Wieso Ehe? Und wessen Ehe?«
»Ich habe gerade eine allgemeine Betrachtung angestellt.«
»Nämlich?«
»Über die verheerenden Auswirkungen einer Ehe.«
»Verheerend für wen?«
Bobby erklärte sich, stieß bei Frankie jedoch auf wenig Verständnis:
»Unsinn. Die Frau sieht genauso aus wie auf dem Foto.«
»Wann hast du sie denn gesehen? Warst du bei der Untersuchung durch den Coroner?«
»Natürlich war ich da. Was denkst denn du? In diesem Nest gibt es doch kaum etwas zu tun. Da ist so eine Untersuchung ein Geschenk des Himmels. Ich war noch nie bei einer gewesen und völlig aus dem Häuschen. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn es um eine mysteriöse Vergiftung gegangen wäre, mit Laboranalysen und dergleichen, aber wenn einem solch einfache Freuden beschert werden, darf man auch nicht zu anspruchsvoll sein. Ich hatte bis zum Schluss gehofft, dass die Vernehmungen doch noch zu einem Mordverdacht führen würden, aber zu meinem großen Bedauern schien es ein absolut eindeutiger Fall zu sein.«
»Was für blutrünstige Instinkte du hast, Frankie!«
»Ich weiß. Ist wahrscheinlich ein Atavismus. Sagt man nicht so? Ich bin mir sicher, ich bin atavistisch. In der Schule war mein Spitzname Äffchengesicht.«
»Haben Affen eine Schwäche für Morde?«, fragte Bobby.
»Das klingt wie in der Leserbriefecke einer Sonntagszeitung: ›Wir bitten um die Ansichten unserer Leser zu diesem Thema‹.«
»Weißt du«, sagte Bobby und kehrte zu ihrem ursprünglichen Gesprächsgegenstand zurück, »ich finde, du hast, was die Cayman angeht, unrecht. Das Foto von ihr war wunderschön …«
»Retuschiert, mehr nicht«, unterbrach ihn Frankie.
»Also, dann war es so stark retuschiert, dass man die beiden unmöglich für ein und dieselbe Person halten konnte.«
»Du bist wirklich blind«, sagte Frankie. »Der Fotograf hat zwar alles getan, was die Kunst der Fotografie hergibt, aber eine Fratze wurde es trotzdem.«
»Da bin ich absolut anderer Meinung«, entgegnete Bobby kühl. »Aber egal, wo hast du es denn gesehen?«
»Hier bei uns im Evening Echo.«
»Wahrscheinlich wurde es schlecht abgedruckt.«
»Du scheinst mir völlig vernarrt zu sein«, meinte Frankie verärgert, »vernarrt in eine angemalte, verlebte Schlampe – ja, ich habe Schlampe gesagt – wie diese Cayman.«
»Frankie«, sagte Bobby, »du überraschst mich. Und noch dazu in der Auffahrt zum Pfarrhaus. Sozusagen auf halb heiligem Boden.«
»Du hättest eben nicht so ein albernes Zeug reden sollen.«
Es entstand eine Pause, dann war Frankies plötzliche Wut wieder verraucht.
»Was wirklich albern ist«, sagte sie, »ist, sich über diese verfluchte Frau zu streiten. Ich kam her, um eine Runde Golf vorzuschlagen. Was hältst du davon?«
»Okay, Boss«, erwiderte Bobby erfreut.
Einträchtig zogen sie los und unterhielten sich über Slice- und Pull-Schläge und Techniken, mit denen sich der Chip-Schlag aufs Grün perfektionieren ließ.
Den tragischen Unfall von vor wenigen Tagen hatten die beiden völlig verdrängt, bis Bobby, als er am elften Loch einen langen Putt einlochte und dadurch das Loch teilte, plötzlich einen Ruf ausstieß.
»Was ist denn?«
»Nichts. Mir ist nur gerade etwas eingefallen.«
»Und was?
»Na, diese Leute, die Caymans, die sind doch bei mir vorbeigekommen und haben gefragt, ob dieser Bursche vor seinem Tod noch irgendetwas gesagt hätte – und das habe ich verneint.«
»Und?«
»Und jetzt ist mir gerade eingefallen, dass er doch etwas gesagt hat.«
»Wirklich nicht einer deiner hellsten Vormittage.«
»Na ja, verstehst du, es war nicht das, was man erwartet hätte. Wahrscheinlich habe ich deswegen nicht daran gedacht.«
»Was hat er denn gesagt?«, fragte Frankie neugierig.
»Er hat gesagt: ›Warum nicht Evans?‹«
»Wie seltsam. Und weiter nichts?«
»Nein. Er hat auf einmal die Augen geöffnet und nur das gesagt – völlig unvermittelt –, und dann ist er gestorben, der Ärmste.«
»Also«, sagte Frankie und ließ es sich durch den Kopf gehen, »ich glaube, du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen. Das war nichts Wichtiges.«
»Nein, natürlich nicht. Trotzdem, ich wünschte, ich hätte es wenigstens erwähnt. Ich habe ihnen nämlich erzählt, er hätte überhaupt nichts gesagt, verstehst du.«
»Ach, das läuft doch auf das Gleiche hinaus. Ich meine, er hat ja nicht gehaucht: ›Sagen Sie Gladys, dass ich sie immer geliebt habe‹ oder ›Das Testament liegt im Walnusssekretär‹ oder irgendwelche schicklichen, gefühlsseligen letzten Worte, wie man sie in Romanen findet.«
»Du glaubst also nicht, ich sollte ihnen deswegen schreiben?«
»Ich würde mich nicht damit aufhalten. Das kann nichts Wichtiges sein.«
»Höchstwahrscheinlich hast du recht«, sagte Bobby und widmete sich mit neuem Elan der Golfpartie.
Doch die Angelegenheit ließ ihm einfach keine Ruhe. Es war nur eine Kleinigkeit, aber sie fraß an ihm. Er verspürte ein leicht ungutes Gefühl. Frankies Standpunkt war sicherlich richtig und vernünftig. Das Ganze war ohne Belang – er sollte es einfach auf sich beruhen lassen. Doch sein Gewissen machte ihm weiterhin leise Vorwürfe. Er hatte erklärt, der Mann habe nichts mehr gesagt. Doch das stimmte nicht. Die Sache war absolut trivial und albern, aber irgendwie war ihm trotzdem nicht recht wohl dabei.
Am Abend setzte er sich schließlich aus einem spontanen Impuls heraus hin und schrieb an Mr Cayman:
Lieber Mr Cayman,
mir ist soeben eingefallen, dass Ihr Schwager vor seinem Tod doch noch etwas gesagt hat. Ich glaube, seine genauen Worte waren: »Warum nicht Evans?« Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich es heute Vormittag nicht erwähnt habe, aber ich hatte den Worten keinerlei Bedeutung beigemessen, weshalb sie mir wohl entfallen waren.
Mit freundlichen Grüßen
Robert Jones
Am übernächsten Tag erhielt er eine Antwort:
Lieber Mr Jones,
ich habe Ihr Schreiben vom 6. dieses Monats erhalten. Vielen Dank, dass Sie die letzten Worte meines armen Schwagers trotz ihrer Trivialität so peinlich genau weitergegeben haben. Meine Frau hatte natürlich gehofft, ihr Bruder hätte ihr eine letzte persönliche Nachricht hinterlassen. Trotzdem vielen Dank für Ihr Pflichtbewusstsein.
Hochachtungsvoll
Leo Cayman
Bobby fühlte sich vor den Kopf gestoßen.