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2 In puncto Väter

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Bobby kniete sich neben ihn, doch es bestand kein Zweifel: Der Mann war tot. Ein letzter klarer Moment, jene plötzliche Frage und dann – das Ende.

Einigermaßen verlegen fuhr Bobby dem Toten mit der Hand in die Hosentasche, zog ein seidenes Schnupftuch heraus und legte es ihm pietätvoll über das Gesicht. Mehr konnte er nicht tun.

Dann merkte er, dass er noch etwas anderes aus der Tasche des Toten gezogen hatte, und zwar ein Foto. Während er es wieder zurücksteckte, warf er einen kurzen Blick darauf.

Es war das Bild eines seltsam ergreifenden Frauengesichts. Eine betörende Frau mit großen, weit auseinanderstehenden Augen. Sie war fast noch ein Mädchen, auf alle Fälle unter dreißig, doch es war eher die Anziehungskraft ihrer Schönheit als die Schönheit selbst, die die Phantasie des jungen Mannes beflügelte. Es war ein Gesicht, dachte er, das man nicht so leicht vergessen würde.

Behutsam und respektvoll schob er das Bild in die Hosentasche zurück, aus der es gekommen war, und setzte sich wieder hin, um auf die Rückkehr des Arztes zu warten.

Die Zeit verstrich äußerst langsam, zumindest kam es dem ausharrenden Bobby so vor. Außerdem war ihm gerade etwas eingefallen. Er hatte seinem Vater versprochen, bei der Abendandacht um sechs Uhr Orgel zu spielen, und es war bereits zehn vor sechs. Natürlich würde sein Vater Verständnis für die besonderen Umstände haben, aber Bobby wünschte sich trotzdem, er hätte daran gedacht, dem Arzt eine Nachricht an ihn mitzugeben. Reverend Thomas Jones hatte ein hochgradig nervöses Naturell. Er war ein Pedant par excellence, doch wenn er seiner Pedanterie frönte, kollabierte sein Verdauungssystem, und er litt qualvolle Schmerzen. Dessen ungeachtet mochte Bobby seinen Vater ausgesprochen gern, obwohl er ihn für einen erbärmlichen alten Esel hielt. Reverend Thomas dagegen hielt seinen vierten Sohn für einen erbärmlichen jungen Esel und bemühte sich, eine Spur weniger Toleranz als Bobby an den Tag legend, Verbesserungen in dem jungen Mann herbeizuführen.

Der arme alte Herr, dachte Bobby. Der wird jetzt auf und ab rennen und nicht wissen, ob er mit der Andacht beginnen soll oder nicht. Er wird sich so lange aufregen, bis er Bauchschmerzen hat, und dann bekommt er sein Abendessen nicht herunter. Aber sein Verstand reicht nicht aus, um zu begreifen, dass ich ihn nur im Stich lassen würde, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließe – und außerdem, ist das nicht völlig unerheblich? So würde er es allerdings nie sehen. Leute über fünfzig haben einfach kein Fünkchen Verstand mehr – sie grämen sich wegen der läppischsten Nebensächlichkeiten zu Tode. Wahrscheinlich sind sie alle falsch erzogen worden, und jetzt können sie einfach nicht mehr aus ihrer Haut heraus. Der arme alte Dad, er hat weniger Verstand als ein Huhn!

Er saß da und dachte an seinen Vater mit einer Mischung aus Zuneigung und Verbitterung. Sein Leben zu Hause kam ihm vor wie ein einziges endloses Opfer, das er den merkwürdigen Vorstellungen seines Vaters brachte. Mr Jones wiederum empfand sein Leben als ein einziges endloses Opfer, er fühlte sich von der jüngeren Generation missverstanden und kaum geschätzt. So können die Ansichten über ein und dasselbe Thema auseinandergehen.

Dieser Arzt war aber auch schon ganz schön alt! Hätte er nicht längst zurück sein müssen?

Bobby erhob sich und stampfte missmutig mit den Füßen auf. In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch über sich und hob den Blick, dankbar dafür, dass Rettung in Sicht war und seine Dienste nicht mehr benötigt wurden.

Doch es war nicht Dr. Thomas. Es war ein ihm unbekannter Mann in Knickerbockern.

»Na so was«, sagte der Neuankömmling. »Ist etwas passiert? Hat es einen Unfall gegeben? Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Er war ein großer Mann mit einer angenehmen Tenorstimme. Da die Abenddämmerung inzwischen rasch hereinbrach, konnte Bobby ihn nicht sehr deutlich sehen.

Er erklärte, was geschehen war, während der Fremde immer wieder bestürzte Kommentare abgab.

»Und ich kann wirklich nichts tun?«, fragte er schließlich. »Hilfe holen oder so?«

Bobby erwiderte, dass Hilfe auf dem Weg sei, und fragte, ob man sie von dort oben vielleicht schon sehen könne.

»Im Augenblick nicht.«

»Wissen Sie«, fuhr Bobby fort, »ich bin nämlich um sechs verabredet.«

»Aber Sie würden jetzt nur ungern weggehen …«

»Ja, genau. Ich meine, der arme Kerl ist zwar tot und so, und man kann natürlich nichts mehr tun, aber trotzdem …«

Er hielt inne, da er, wie gewöhnlich, Schwierigkeiten hatte, verwirrende Gefühle in Worte zu kleiden.

Der andere schien ihn jedoch zu verstehen.

»Ich weiß«, sagte er. »Hören Sie, ich komme jetzt runter, das heißt, wenn ich den Weg finde, und bleibe, bis diese Herren eintreffen.«

»Würden Sie das wirklich tun?«, fragte Bobby dankbar. »Verstehen Sie, es geht um meinen Vater. Eigentlich kein übler Bursche, aber er regt sich leicht auf. Können Sie den Weg sehen? Ein bisschen weiter nach links, jetzt nach rechts, ja, so! Es ist gar nicht besonders schwer.«

Er rief dem anderen ermunternde Richtungsanweisungen zu, bis die beiden Männer sich auf der schmalen Felsbank gegenüberstanden. Der Fremde war circa fünfunddreißig Jahre alt und hatte ein irgendwie unbestimmtes Gesicht, das nach einem Monokel und einem Zahnbürstenschnurrbart zu verlangen schien.

»Ich bin fremd hier«, erklärte er. »Übrigens, mein Name ist Bassington-ffrench. Bin angereist, um mir ein Haus anzusehen. Ich muss schon sagen, eine üble Angelegenheit! Ist er vom Pfad abgekommen?«

Bobby nickte.

»Es gab leichten Nebel«, erklärte er. »Ist ein gefährliches Stückchen Weg. Also, machen Sie’s gut. Und vielen Dank. Ich muss mich beeilen. Fürchterlich nett von Ihnen.«

»Keine Ursache. Das würde doch jeder machen. Man kann den armen Kerl doch nicht einfach alleine hier liegen lassen. Na ja, ich meine, es wäre irgendwie nicht anständig.«

Bobby kraxelte den steilen Pfad hinauf. Oben angekommen, winkte er dem anderen zu und rannte dann im Laufschritt querfeldein. Um Zeit zu sparen, sprang er über die Friedhofsmauer, anstatt um den Totenacker herum bis zum Straßeneingang zu gehen – was der Pfarrer durchs Sakristeifenster beobachtete und zutiefst missbilligte.

Es war fünf Minuten nach sechs, doch die Glocke läutete noch immer.

Erklärungen und Vorhaltungen wurden bis nach der Andacht zurückgestellt. Völlig außer Atem sank Bobby auf seine Bank und zog die Register der uralten Orgel. Eine Reihe von Assoziationen führte seine Finger zu Chopins Trauermarsch.

Später nahm der Pfarrer seinen Sohn dann ins Gebet, eher aus Kummer als aus Zorn, wie er ausdrücklich betonte.

»Wenn du etwas nicht ordentlich tun kannst, mein lieber Bobby«, sagte er, »ist es besser, es gar nicht zu tun. Ich weiß, dass ihr, du und deine ganzen jungen Freunde, kein Zeitgefühl habt, aber den Einen sollten wir nicht warten lassen. Du hast aus freien Stücken angeboten, Orgel zu spielen. Ich habe dich nicht dazu gezwungen. Stattdessen hast du es, sprunghaft und schwach, wie du bist, vorgezogen, eine Partie zu spielen …«

Bobby hielt es für angezeigt, seinen Vater zu unterbrechen, ehe er zu sehr in Fahrt geriet.

»Tut mir leid, Dad«, sagte er fröhlich, wie es, egal bei welchem Thema, seine Art war. »Diesmal ist es nicht meine Schuld. Ich habe einen Leichnam bewacht.«

»Du hast was?«

»Einen armen Tropf bewacht, der das Kliff hinuntergestürzt ist. Du weißt schon, da an der Kluft, beim siebzehnten Tee. Es sind plötzlich ein paar Nebelschwaden aufgetaucht, und er muss einfach geradeaus gegangen und runtergesegelt sein.«

»Gütiger Himmel«, rief der Pfarrer. »Was für eine Tragödie! War der Mann sofort tot?«

»Nein, er war bewusstlos. Er starb, kurz nachdem Dr. Thomas losgegangen war. Aber ich hatte natürlich schon das Gefühl, ich sollte mich dort hinhocken – konnte schließlich nicht einfach ’ne Fliege machen und ihn allein zurücklassen. Als dann noch ein anderer Bursche vorbeikam, habe ich die Rolle des Cheftrauernden an ihn weitergegeben, die Beine in die Hand genommen und mich, so schnell ich konnte, hierher verfügt.«

Der Pfarrer seufzte.

»Ach, mein lieber Bobby«, sagte er. »Kann denn nichts deine schreckliche Herzlosigkeit erschüttern? Ich vermag dir gar nicht zu sagen, wie sehr mich das betrübt. Da wurdest du mit dem Tod konfrontiert, einem jähen Tod. Und machst deine Scherze darüber. Es berührt dich nicht. Für deine Generation ist alles, aber auch alles, egal wie ernst es ist, egal wie heilig, nur ein Witz.«

Bobby scharrte mit den Füßen.

Wenn sein Vater nicht verstehen konnte, dass man natürlich über etwas einen Witz machte, gerade weil es einen mitgenommen hatte – nun, dann verstand er es eben nicht! Es ließ sich nicht erklären. Wer von Tod und Tragödien umgeben war, musste Haltung bewahren.

Aber gut, was konnte man schon erwarten? Kein Mensch über fünfzig verstand überhaupt irgendetwas. Diese Leute hatten die merkwürdigsten Vorstellungen.

Wahrscheinlich kommt es vom Krieg, dachte Bobby nachsichtig. Er ist ihnen an die Nieren gegangen, und sie haben sich nie mehr davon erholt.

Er schämte sich für seinen Vater und bedauerte ihn.

»Tut mir leid, Dad«, sagte er, weil er glasklar erkannte, dass eine Erklärung unmöglich war.

Der Pfarrer bedauerte wiederum seinen Sohn, wirkte bedröppelt und schämte sich ebenfalls für ihn. Dem Jungen fehlte jeder Sinn für den Ernst des Lebens. Selbst seine Entschuldigung klang fröhlich und reuelos.

Sie gingen in Richtung Pfarrhaus, wobei beide enorme Anstrengungen unternahmen, Ausreden für den anderen zu finden.

Der Pfarrer dachte: Ich möchte wissen, wann Bobby endlich eine Beschäftigung für sich findet.

Bobby dachte: Möchte wissen, wie lange ich es hier oben noch aushalte.

Und doch mochten sie einander sehr gern.

Ein Schritt ins Leere

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