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4 Die Untersuchung durch den Coroner

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Die Untersuchung durch den Coroner im Todesfall Alex Pritchard fand am darauffolgenden Tag statt. Dr. Thomas machte eine Aussage über den Fund der Leiche.

»Da war er noch nicht verschieden?«, fragte der Coroner.

»Nein, der Mann atmete noch. Es bestand jedoch keinerlei Hoffnung auf Genesung. Der …«

Hier verfiel der Arzt in eine hochkomplexe Fachsprache. Der Coroner kam der Jury zu Hilfe:

»Im alltäglichen Sprachgebrauch hieße das, der Mann hatte sich das Rückgrat gebrochen, nicht wahr?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen«, erwiderte Dr. Thomas niedergeschlagen. Er schilderte, wie er Hilfe holen gegangen war und den Sterbenden in Bobbys Obhut zurückgelassen hatte.

»Und was war Ihrer Ansicht nach die Ursache dieses Unglücks, Dr. Thomas?«

»Ich würde sagen, aller Wahrscheinlichkeit nach – sprich in Ermangelung irgendwelcher Hinweise auf seinen Geisteszustand – trat der Verstorbene versehentlich über den Rand des Kliffs. Von der See stieg zu dem Zeitpunkt ein Nebel auf, und der Pfad biegt an dieser Stelle scharf landeinwärts ab. Vielleicht hat der Verstorbene die Gefahr aufgrund des Nebels nicht erkannt und ist geradeaus weitergegangen – dann hätten zwei Schritte gereicht, und er wäre abgestürzt.«

»Es gab keine Anzeichen von Gewalt? Zum Beispiel vonseiten einer dritten Person?«

»Ich kann nur sagen, dass sämtliche vorhandenen Verletzungen durch den Sturz auf die fünfzehn bis achtzehn Meter unter ihm liegende Felsbank erklärt werden können.«

»Bliebe noch die Frage nach einem Selbstmord.«

»Das wäre natürlich durchaus eine Möglichkeit. Ob der Verstorbene irrtümlich über den Rand trat oder sich hinuntergestürzt hat, vermag ich nicht zu sagen.«

Als Nächster wurde Robert Jones in den Zeugenstand gerufen.

Bobby schilderte, wie er mit dem Arzt Golf gespielt und einen Slice in Richtung See geschlagen hatte. Da zu dem Zeitpunkt Nebel aufgestiegen sei, habe man kaum etwas sehen können. Er habe geglaubt, einen Schrei zu hören, und sich kurz gefragt, ob sein Ball möglicherweise jemanden auf dem Wanderpfad getroffen hatte. Allerdings sei er dann zu dem Schluss gekommen, dass er unmöglich so weit geflogen sein konnte.

»Haben Sie den Ball gefunden?«

»Ja, etwa hundert Meter vor dem Pfad.«

Dann beschrieb er ihre Abschläge vom nächsten Tee, als er seinen Ball in den Abgrund getrieben hatte.

Hier unterbrach ihn der Coroner, da er mit seinen Aussagen lediglich die Angaben des Arztes wiederholen würde. Er befragte ihn jedoch eingehend nach dem Schrei, den er gehört oder zu hören geglaubt hatte.

»Es war nur ein Schrei.«

»Ein Hilferuf?«

»O nein. Nur eine Art Ausruf, verstehen Sie. Eigentlich war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt etwas gehört hatte.«

»Ein erschrockener Ausruf?«

»Das schon eher«, sagte Bobby dankbar. »Die Art von Laut, die man ausstoßen würde, wenn man wie aus heiterem Himmel von einem Ball getroffen wird.«

»Oder wenn man einen Schritt ins Leere tut, obwohl man glaubt, einen Pfad entlangzugehen?«

»Ja.«

Nachdem er dargelegt hatte, dass der Mann ungefähr fünf Minuten nach dem Aufbruch des Arztes gestorben war, endete die Tortur für Bobby.

Inzwischen war der Coroner nur noch bestrebt, mit diesem absolut eindeutigen Fall voranzukommen.

Mrs Leo Cayman wurde aufgerufen.

Bobby stieß einen tiefen Seufzer der Enttäuschung aus. Wo war das Gesicht von dem Foto, das er dem Toten aus der Tasche gezogen hatte? Fotografen, dachte Bobby empört, sind die allerschlimmsten Lügner. Das Bild musste eindeutig schon vor etlichen Jahren aufgenommen worden sein, doch selbst dann war es schwer vorstellbar, wie aus der bezaubernden Schönheit mit den großen Augen diese dreist wirkende Frau mit gezupften Augenbrauen und deutlich gefärbten Haaren hatte werden können. Die Zeit, dachte Bobby plötzlich, hatte wirklich etwas Erschreckendes. Wie würde beispielsweise Frankie in zwanzig Jahren aussehen? Ihn überlief ein leichter Schauer.

Inzwischen machte Amelia Cayman, Nummer 17, St Leonard’s Gardens, Paddington, ihre Aussage.

Der Verstorbene sei Alexander Pritchard, ihr einziger Bruder. Das letzte Mal habe sie ihn am Tag vor dem Unfall gesehen, als er die Absicht bekundete, eine Wanderung durch Wales zu unternehmen. Ihr Bruder sei kürzlich aus dem Fernen Osten zurückgekehrt.

»Schien er sich in einer glücklichen, normalen Gemütsverfassung zu befinden?«

»Aber ja doch. Alex war immer gut gelaunt.«

»Ihn belastete also, soweit Sie es beurteilen können, nichts?«

»Nein, da bin ich mir ganz sicher. Er freute sich auf seine Wanderung.«

»Und er hatte in letzter Zeit auch keine finanziellen Sorgen oder irgendwelche Probleme anderer Art?«

»Also, das kann ich jetzt wirklich nicht sagen«, erwiderte Mrs Cayman. »Sehen Sie, er war ja gerade erst zurückgekommen, und davor hatte ich ihn zehn Jahre lang nicht gesehen, und geschrieben hat er noch nie gerne. Aber er ist mit mir in London ins Theater gegangen und hat mich zum Lunch eingeladen und mir ein, zwei kleine Geschenke gemacht, weshalb ich nicht annehme, dass er knapp bei Kasse gewesen ist, und er war so guter Stimmung, dass ich nicht glaube, dass da irgendetwas anderes war.«

»Was war Ihr Bruder von Beruf, Mrs Cayman?«

Die Dame wirkte etwas betreten.

»Also, ich kann nicht behaupten, dass ich es wirklich wüsste. Schürfen, so nannte er es immer. Er war nur sehr selten in England.«

»Ihnen ist kein Grund bekannt, weshalb er sich hätte das Leben nehmen sollen?«

»Nein, und ich kann auch wirklich nicht glauben, dass er das getan hat. Es muss ein Unfall gewesen sein.«

»Wie erklären Sie es sich, dass Ihr Bruder kein Gepäck bei sich hatte, nicht einmal einen Rucksack?«

»Er trug nicht gerne einen Rucksack. Er wollte alle zwei Tage ein Paket geschickt bekommen. Am Tag vor seinem Aufbruch hat er noch selbst eins mit seinem Nachtzeug und einem Paar Socken aufgegeben, aber leider nach Derbyshire statt nach Denbighshire, sodass es erst heute angekommen ist.«

»Aha. Das erklärt diesen etwas seltsam anmutenden Punkt.«

Weiterhin führte Mrs Cayman aus, dass das Fotoatelier, von dem das Bild in der Hosentasche ihres Bruders stammte, sich mit ihr in Verbindung gesetzt habe. Daraufhin sei sie mit ihrem Mann nach Marchbolt gekommen und habe den Toten sofort als ihren Bruder identifiziert.

Jetzt schluchzte sie hörbar auf und begann leise zu weinen.

Der Coroner fand ein paar tröstende Worte und entließ sie.

Dann wandte er sich an die Geschworenen. Ihre Aufgabe sei es festzustellen, wie dieser Mann zu Tode gekommen war. Zum Glück stelle sich die Sache als recht einfach dar. Es gebe keinerlei Hinweis darauf, dass Mr Pritchard besorgt oder bedrückt oder in einem Gemütszustand gewesen sei, der einen Selbstmord wahrscheinlich gemacht hätte. Im Gegenteil, er sei bei guter Stimmung und Gesundheit gewesen und habe sich auf seinen Urlaub gefreut. Leider sei der Pfad entlang des Kliffs, sobald von der See Nebel aufsteigt, gefährlich, weshalb sie ihm vielleicht beipflichten würden, dass es an der Zeit sei, etwas dagegen zu unternehmen.

Das Urteil der Jury ließ nicht lange auf sich warten:

»Wir haben befunden, dass der Verstorbene durch Unfall zu Tode kam, und möchten eine zusätzliche Empfehlung aussprechen, nämlich dass der Gemeinderat unserer Ansicht nach unverzüglich Schritte dahingehend unternehmen sollte, dass auf der der See zugewandten Seite des Pfades, wo dieser an der Kluft entlangführt, ein Zaun oder Geländer angebracht wird.«

Der Coroner nickte zustimmend.

Die Untersuchung war beendet.

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