Читать книгу Ein Schritt ins Leere - Agatha Christie - Страница 6
3 Eine Zugfahrt
ОглавлениеDie direkte Fortsetzung seines Abenteuers bekam Bobby nicht mit. Am nächsten Morgen fuhr er nach London, um sich mit einem Freund zu treffen, der mit dem Gedanken spielte, eine Autowerkstatt zu eröffnen, und sich von einer Zusammenarbeit mit Bobby einiges versprach.
Nachdem alles zu beider Zufriedenheit geregelt war, nahm Bobby zwei Tage darauf den Zug um 11.30 Uhr nach Hause. Allerdings erwischte er ihn nur ganz knapp. Er traf an der Paddington Station ein, als die Bahnhofsuhr 11.28 anzeigte, hastete durch die Unterführung, tauchte am Gleis drei wieder auf, wo der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, und sprang auf den erstbesten Wagen, ohne sich um die aufgebrachten Fahrkartenkontrolleure und Gepäckträger in seinem Rücken zu scheren.
Er riss die Tür auf, fiel hinein, landete auf allen vieren und richtete sich wieder auf. Ein behänder Gepäckträger schlug die Tür hinter ihm zu, und Bobby fand sich in einem Abteil mit einem einzigen Fahrgast wieder, den er neugierig anstarrte.
Es war ein Wagen erster Klasse, und in einer Ecke saß in Fahrtrichtung eine dunkelhaarige junge Frau, die eine Zigarette rauchte. Sie trug einen roten Rock, eine kurze grüne Jacke und eine leuchtend blaue Baskenmütze und war, trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Äffchen eines Leierkastenmannes – große, traurige dunkle Augen und eine gerunzelte Stirn – ausgesprochen attraktiv.
Mitten in seiner Entschuldigung hielt er inne.
»Mensch, das bist ja du, Frankie!«, sagte er. »Ich hab dich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Na, ich dich aber auch nicht. Setz dich und erzähle.«
Bobby grinste.
»Meine Fahrkarte hat die falsche Farbe.«
»Das macht doch nichts«, meinte Frankie zuvorkommend. »Ich übernehme den Rest.«
»Allein bei dem Gedanken schwillt mir vor lauter Empörung der Kamm«, erwiderte Bobby. »Wie könnte ich denn eine Dame für mich bezahlen lassen?«
»Das scheint das Einzige zu sein, wofür wir heutzutage gut sind«, gab Frankie zurück.
»Ich bezahle den Rest selbst«, sagte Bobby heroisch, als ein stämmiger Mann in Blau an der Tür zum Gang auftauchte.
»Lass mich das machen«, sagte Frankie.
Sie lächelte den Schaffner freundlich an, der daraufhin an seine Mütze tippte und ein Loch in ihr weißes Kärtchen knipste.
»Mr Jones ist gerade auf ein Schwätzchen vorbeigekommen«, sagte sie. »Das macht doch nichts, oder?«
»Geht in Ordnung, Eure Ladyschaft. Ich nehme an, der Herr bleibt nicht allzu lange.« Er hüstelte taktvoll. »Ich komme erst hinter Bristol wieder«, fügte er bedeutsam hinzu.
»Was ein Lächeln nicht alles bewirken kann«, sagte Bobby, als der Kontrolleur verschwunden war.
Lady Frances Derwent schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ich bin mir nicht so sicher, dass es das Lächeln war«, sagte sie. »Viel eher, glaube ich, ist es Vaters Gewohnheit, auf seinen Reisen jedem Schaffner fünf Shilling Trinkgeld zuzustecken.«
»Ich dachte, du hättest Wales endgültig den Rücken gekehrt, Frankie.«
Frankie seufzte.
»Du weißt doch, wie es ist, mein Lieber. Du weißt doch, wie muffig Eltern sein können. Das und der Zustand der Badezimmer und nichts zu tun und niemand, mit dem man sich treffen kann – und die Leute fahren heutzutage einfach nicht aufs Land und bleiben ein paar Tage dort! Alle meinen, sie wollten Geld sparen und könnten nicht so weit reisen. Na ja, ich meine, was soll eine junge Dame da tun?«
Bobby erkannte das Problem und schüttelte traurig den Kopf.
»Aber«, fuhr Frankie fort, »nach der Sause gestern Nacht dachte ich mir, schlimmer könnte es selbst zu Hause nicht kommen.«
»Was ist denn passiert?«
»Nichts. Genau wie auf jeder anderen Sause auch, nur noch weniger. Um halb neun sollte es im Savoy losgehen. Einige sind um Viertel nach neun vorgefahren, und natürlich sind wir mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen, aber gegen zehn waren wir dann endlich unter uns. Wir aßen zu Abend, und ein bisschen später zogen wir weiter ins Marionette – es ging das Gerücht, dass es dort eine Razzia geben würde, aber nichts dergleichen geschah. Es war einfach sterbenslangweilig, und nach ein paar Drinks ging es dann in den Bullring, aber da war es noch öder, wir also weiter zu einer Kaffeebude und dann zu einem Fish- ’n’ -Chips-Laden, und dann dachten wir, wir könnten zu Angelas Onkel zum Frühstück fahren und sehen, ob ihn der Schlag treffen würde, aber die Sache – langweilte ihn lediglich, und dann verpuffte unser Elan irgendwie, und wir haben uns zerstreut und sind nach Hause gegangen. Ehrlich, Bobby, das reicht einfach nicht.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Bobby, einen Anflug von Neid unterdrückend.
Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich jemals vorstellen können, ein Klubmitglied des Marionette oder des Bullring zu sein.
Seine Beziehung zu Frankie war recht ungewöhnlich.
Als Kinder hatten seine Brüder und er mit den Kindern oben im Schloss gespielt. Jetzt, wo sie alle erwachsen waren, sahen sie sich nur noch selten. Wenn sie sich begegneten, duzten sie sich allerdings weiterhin. In den seltenen Fällen, in denen Frankie zu Hause war, gingen Bobby und seine Brüder zum Tennisspielen aufs Schloss. Frankie und ihre beiden Brüder wurden jedoch nie ins Pfarrhaus eingeladen. Man schien stillschweigend davon auszugehen, dass es ihnen kein Vergnügen bereiten würde. Andererseits wurden immer Extratennisspieler gebraucht. Doch möglicherweise herrschte zwischen ihnen trotz des Duzens eine gewisse Gezwungenheit. Die Derwents waren, eventuell, eine Spur freundlicher, als sie es hätten sein müssen, um zu demonstrieren, dass zwischen ihnen »keine Unterschiede« herrschten. Die Jones dagegen waren ein wenig förmlich, ganz als wären sie fest entschlossen, nicht mehr Freundschaft einzufordern, als ihnen angeboten wurde. Inzwischen hatten die beiden Familien bis auf gewisse Kindheitserinnerungen nichts mehr gemeinsam. Und doch mochte Bobby Frankie sehr gern und freute sich immer, wenn das Schicksal sie, so selten es auch geschah, zusammenführte.
»Ich habe das alles derartig satt«, sagte Frankie mit matter Stimme. »Du nicht?«
Bobby dachte nach.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Wie schön, mein Lieber.«
»Ich meine, ich würde jetzt nicht sagen, dass ich euphorisch wäre«, sagte Bobby, bestrebt, einen bedrückten Eindruck zu machen. »Euphorische Leute kann ich überhaupt nicht ausstehen.«
Schon das bloße Wort ließ Frankie erschaudern.
»Ich weiß«, murmelte sie. »Schreckliche Menschen.«
Sie sahen sich verständnisvoll an.
»Übrigens«, sagte Frankie plötzlich, »was hat es eigentlich mit diesem Mann auf sich, der am Kliff abgestürzt ist?«
»Dr. Thomas und ich haben ihn gefunden. Wie hast du denn davon erfahren, Frankie?«
»Aus der Zeitung. Hier.«
Sie deutete auf eine kleine Notiz mit der Überschrift »Tödlicher Unfall im Seenebel«:
Das Opfer der tragischen Ereignisse von Marchbolt wurde am späten gestrigen Abend mit Hilfe einer Fotografie, die er bei sich trug, identifiziert. Wie sich herausstellte, zeigt das Foto Mrs Leo Cayman. Mrs Cayman wurde verständigt und begab sich umgehend nach Marchbolt, wo sie den Verstorbenen als ihren Bruder, Alex Pritchard, identifizierte. Mr Pritchard war erst kürzlich, nach einem zehnjährigen Aufenthalt außerhalb Englands, aus Siam zurückgekehrt. Er hatte sich zu einer Wanderung aufgemacht. Die Untersuchung durch den Coroner findet morgen in Marchbolt statt.
Bobbys Gedanken kehrten zurück zu dem seltsam ergreifenden Gesicht auf dem Foto.
»Ich glaube, ich werde bei der Untersuchung aussagen müssen«, meinte er.
»Wie aufregend. Ich komme und höre dir zu.«
»Ich denke nicht, dass es besonders aufregend wird. Wir haben ihn lediglich gefunden, verstehst du.«
»War er schon tot?«
»Nein, da noch nicht. Er starb etwa eine Viertelstunde später. Zu dem Zeitpunkt war ich allein mit ihm.«
Er hielt inne.
»Ziemlich gruselig«, sagte Frankie mit dem prompten Verständnis, das Bobbys Vater abgegangen war.
»Er hat natürlich nichts mehr gespürt …«
»Nein?«
»Aber trotzdem, na ja, er sah fürchterlich lebendig aus, verstehst du, so jemand halt – ziemlich scheußliche Art abzutreten, bei einem bisschen Nebel einfach einen Schritt ins Leere zu machen.«
»Ich weiß, was du meinst, Bobby«, sagte Frankie, und wieder klang es mitfühlend und verständnisvoll. »Hast du seine Schwester gesehen?«
»Nein. Ich war zwei Tage in London. Habe mich mit einem Freund getroffen – wir wollen zusammen eine Autowerkstatt betreiben. Du kennst ihn übrigens. Badger Beadon.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Du wirst dich doch wohl noch an den guten alten Badger erinnern. Er schielt.«
Frankie legte die Stirn in Falten.
»Er hat eine fürchterlich alberne Lache – hähähä, so ungefähr«, half Bobby ihr auf die Sprünge.
Frankies Stirn lag noch immer in Falten.
»Als wir klein waren, fiel er einmal vom Pony«, fuhr Bobby fort. »Steckte kopfüber im Schlamm, sodass wir ihn an den Beinen rausziehen mussten.«
»Oh«, sagte Frankie, plötzlich von Erinnerungen überflutet. »Jetzt weiß ich wieder. Er hat gestottert.«
»Tut er immer noch«, sagte Bobby, zufrieden, dass er ihrem Gedächtnis hatte nachhelfen können.
»Hat er nicht mal einen Hühnerhof gehabt, der pleiteging?«
»Stimmt.«
»Und dann hat er bei einem Börsenmakler gearbeitet und wurde nach einem Monat rausgeschmissen?«
»So ist es.«
»Und dann hat man ihn nach Australien verfrachtet, und er kam zurück?«
»Ja.«
»Bobby, du steckst doch hoffentlich kein Geld in dieses Geschäftsvorhaben?«
»Ich habe doch gar kein Geld, das ich irgendwo hineinstecken könnte.«
»Das ist auch gut so«, sagte Frankie.
»Natürlich«, fuhr Bobby fort, »hat Badger versucht, jemanden zu finden, der ein bisschen was investieren kann. Aber das ist schwerer, als man denkt.«
»Wenn man sich so umsieht, sollte man meinen, die Leute hätten überhaupt keinen Verstand, aber das stimmt ja gar nicht.«
Es dauerte ein Weilchen, bis Bobby kapierte, was Frankie ihm damit sagen wollte.
»Hör mal, Frankie«, sagte er. »Badger ist einer der Besten, einer der Allerbesten.«
»Das sind sie immer«, versetzte Frankie.
»Wer ist das immer?«
»Die, die nach Australien gehen und wieder zurückkommen. Woher hat er denn das Geld für dieses Geschäft?«
»Eine Tante oder so ist gestorben und hat ihm eine Werkstatt mit Platz für sechs Fahrzeuge samt drei Zimmern darüber vermacht, und seine Familie hat hundert Pfund für Gebrauchtwagen springen lassen. Du würdest dich wundern, wie preisgünstig man Gebrauchtwagen kaufen kann.«
»Ich habe mir einmal einen gekauft«, sagte Frankie. »Ein leidiges Thema. Reden wir nicht darüber. Warum hast du eigentlich bei der Navy aufgehört? Die haben dich doch nicht entlassen, oder? Doch nicht in deinem Alter.«
Bobby errötete.
»Die Augen«, sagte er schroff.
»Jetzt fällt’s mir wieder ein, du hattest ja immer Probleme mit den Augen.«
»Genau. Bei der Prüfung bin ich gerade noch so durchgerutscht. Dann kam der Auslandsdienst – das grelle Licht, verstehst du, da war der Ofen aus. Deshalb musste ich, na ja, aussteigen.«
»Bitter«, sagte Frankie und sah zum Fenster hinaus.
Es entstand eine beredte Pause.
»Trotzdem ist es jammerschade«, brach es aus Bobby heraus. »Eigentlich sind meine Augen nicht schlecht – zumindest werden sie sich nicht verschlechtern, heißt es. Ich hätte problemlos weitermachen können.«
»Sie sehen in Ordnung aus«, sagte Frankie und blickte direkt in ihre ehrliche braune Tiefe.
»Und deshalb«, sagte Bobby, »werde ich mich mit Badger zusammentun.«
Frankie nickte.
Der Speisewagenschaffner öffnete die Tür und verkündete: »Erstes Mittagessen.«
»Sollen wir?«, fragte Frankie.
Sie begaben sich zum Speisewagen.
Als die Zeit näher rückte, da der Fahrkartenkontrolleur wieder auftauchen würde, trat Bobby einen kurzen strategischen Rückzug an.
»Wir wollen schließlich nicht, dass er sein Gewissen zu sehr strapaziert«, sagte er.
Frankie erwiderte, sie erwarte nicht, dass Kontrolleure überhaupt ein Gewissen hätten.
Kurz nach fünf Uhr erreichten sie dann Sileham, den Bahnhof für Marchbolt.
»Unser Wagen holt mich ab«, sagte Frankie. »Ich nehme dich mit.«
»Danke. Dann brauche ich dieses schauderhafte Ding nicht drei Kilometer weit zu schleppen.«
Er versetzte seinem Handkoffer einen verächtlichen Stoß.
»Vier Kilometer, nicht drei«, meinte Frankie.
»Drei, wenn man den Pfad über den Golfplatz nimmt.«
»Den, wo …«
»Ja, wo dieser Mann abgestürzt ist.«
»Ich nehme doch mal an, er wurde nicht hinuntergestoßen?«, fragte Frankie, während sie ihrem Dienstmädchen den Kosmetikkoffer reichte.
»Hinuntergestoßen? Gott bewahre, nein. Wieso?«
»Nun, dann wäre das Ganze entschieden aufregender, oder?«, sagte Frankie beiläufig.