Читать книгу Ein Schritt ins Leere - Agatha Christie - Страница 11
8 Das rätselhafte Foto
ОглавлениеSie starrten einander an, versuchten, sich der veränderten Situation anzupassen.
»Es kann niemand anders gewesen sein«, sagte Bobby. »Er war der Einzige, der die Gelegenheit dazu hatte.«
»Es sei denn, der Tote hatte, wie wir gerade sagten, zwei Fotos bei sich.«
»Was wir beide für höchst unwahrscheinlich halten. Wenn zwei Bilder in seiner Tasche gesteckt hätten, dann hätte man beide herangezogen, um ihn zu identifizieren, nicht nur eins.«
»Egal, das lässt sich leicht herausbekommen«, erklärte Frankie. »Wir können bei der Polizei nachfragen. Im Augenblick sollten wir davon ausgehen, dass er nur das eine Foto bei sich trug, das du gesehen und ihm wieder in die Tasche geschoben hast. Als du ihn da unten zurückgelassen hast, war es da, und als die Polizei kam, war es weg, weshalb die einzige Person, die es hätte nehmen und gegen das andere austauschen können, dieser Bassington-ffrench war. Was war das denn für ein Mensch, Bobby?«
Die Stirn in Falten legend, versuchte Bobby angestrengt, sich zurückzubesinnen.
»Ein unauffälliger Bursche. Angenehme Stimme. Ein Gentleman und all das. Ich habe wirklich nichts Besonderes an ihm wahrgenommen. Er meinte, er sei hier in der Gegend fremd – und erzählte irgendetwas davon, dass er sich nach einem Haus umsehen würde.«
»Auch das lässt sich überprüfen«, sagte Frankie. »Wheeler & Owen sind die einzigen Häusermakler im Ort.« Plötzlich überlief sie ein Schauer. »Bobby, hast du mal nachgedacht? Wenn Pritchard hinuntergestoßen wurde, dann muss Bassington-ffrench der Täter sein …«
»Ziemlich gruselig. Er machte so einen netten, sympathischen Eindruck. Aber du weißt, Frankie, wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass Pritchard wirklich hinuntergestoßen wurde.«
»Ich bin mir da ganz sicher.«
»Das warst du doch schon die ganze Zeit.«
»Nein, ich wollte mir nur sicher sein, damit die Sache aufregender wird. Aber jetzt ist es ja mehr oder weniger bewiesen. Wenn es Mord war, dann passt alles zusammen. Dein unerwartetes Auftauchen, das die Pläne des Mörders durcheinandergebracht hat. Dein Fund des Fotos und folglich die Notwendigkeit, dich aus dem Weg zu räumen.«
»Eine Schwachstelle gibt es allerdings«, warf Bobby ein.
»Wieso? Du warst der Einzige, der dieses Foto gesehen hat. Sobald Bassington-ffrench allein bei dem Leichnam war, hat er es einfach ausgetauscht.«
Doch Bobby schüttelte weiterhin den Kopf.
»Nein, das reicht nicht. Nehmen wir mal kurz an, das Foto war so wichtig, dass ich ›aus dem Weg geräumt‹ werden musste, wie du es ausdrückst. Klingt absurd, aber es wäre wahrscheinlich immerhin möglich. Nun, dann hätte es, ganz egal wie, sofort geschehen müssen! Dass ich nach London gefahren bin und die Marchbolt Weekly Times oder die anderen Zeitungen mit dem Bild nie zu Gesicht bekommen habe, war reiner Zufall – darauf hätte niemand setzen können. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass ich sofort aussagen würde: ›Das ist nicht das Foto, das ich gesehen habe.‹ Warum bis nach der Untersuchung mit dem Coroner warten, als sich alles beruhigt hatte?«
»Da ist etwas dran«, räumte Frankie ein.
»Und dann wäre da noch etwas. Ich bin mir natürlich nicht absolut sicher, aber ich könnte fast schwören, dass Bassington-ffrench, als ich dem Toten das Foto wieder in die Tasche gesteckt habe, nicht da war. Er kam erst circa fünf oder zehn Minuten später.«
»Vielleicht hat er dich die ganze Zeit beobachtet.«
»Ich weiß beim besten Willen nicht, wie er das hätte anstellen sollen«, erwiderte Bobby langsam. »Es gibt eigentlich nur eine Stelle, von wo aus man direkt nach unten sehen kann. Danach kommt ein ausgewaschener Felsvorsprung, da ist der Blick versperrt. Es gibt nur diese eine Stelle, und als Bassington-ffrench auftauchte, hörte ich ihn sofort. Dort unten hallt jeder Schritt wider. Vielleicht ist er ganz in der Nähe gewesen, aber über den Rand hinuntergespäht hat er nicht, das kann ich beschwören.«
»Dann wusste er also deiner Ansicht nach nicht, dass du das Foto gesehen hattest?«
»Ich habe keine Ahnung, wie er es hätte wissen können.«
»Und er kann auch keine Angst gehabt haben, dass du ihn beobachtet hast – bei dem Mord, meine ich –, denn das wäre, wie du sagst, absurd. Du hättest es nie und nimmer für dich behalten. Es muss irgendetwas ganz anderes dahinterstecken.«
»Ich verstehe nur nicht, was.«
»Etwas, was sie erst nach der Untersuchung durch den Coroner herausgefunden haben. Ich weiß gar nicht, warum ich immer ›sie‹ sage.«
»Warum nicht? Schließlich scheinen die Caymans da auch irgendwie mit drinzustecken. Ist wahrscheinlich eine ganze Bande. Ich mag Banden.«
»Das ist niveaulos«, sagte Frankie abwesend. »Ein Mord im Alleingang hat viel mehr Format. Bobby!«
»Ja?«
»Was hat Pritchard gesagt, kurz bevor er starb? Weißt du noch, du hast es mir damals auf dem Golfplatz erzählt. Diese komische Frage?«
»›Warum nicht Evans?‹«
»Genau. Vielleicht liegt da der Hund begraben?«
»Das ist doch lächerlich.«
»Es klingt vielleicht so, aber es könnte doch tatsächlich wichtig sein. Bobby, ich bin mir ganz sicher, dass da der Hund begraben liegt. Oh, warte mal, ich bin aber auch wirklich ein Trottel – du hast ja den Caymans gar nicht davon erzählt, stimmt’s?«
»Doch, habe ich, um ehrlich zu sein«, sagte Bobby zögernd.
»Wie bitte?«
»Ja. Ich habe ihnen noch am selben Abend geschrieben. Natürlich habe ich angedeutet, dass es wahrscheinlich völlig unwichtig sei.«
»Und was geschah dann?«
»Cayman schrieb zurück und pflichtete mir höflich bei, dass die Worte belanglos seien, dankte mir aber trotzdem für meine Mühe. Ich fühlte mich ziemlich vor den Kopf gestoßen.«
»Und zwei Tage später kam der Brief von dieser komischen Firma, der dich nach Südamerika locken sollte?«
»Ja.«
»Also«, sagte Frankie, »was willst du denn mehr? Erst versuchen sie es damit, du schlägst das Angebot aus, und als Nächstes schleichen sie dir hinterher und schütten dir in einem günstigen Augenblick eine Unmenge Morphium in deine Bierflasche.«
»Dann stecken die Caymans also tatsächlich mit drin?«
»Natürlich stecken die Caymans mit drin!«
»Ja«, sagte Bobby nachdenklich. »Wenn deine Rekonstruktion richtig ist, dann müssen sie mit drinstecken. Unserer momentanen Theorie zufolge ist es also so abgelaufen: Mr X wird vorsätzlich das Kliff hinuntergestoßen, vermutlich von BF – entschuldige die Abkürzung. Es ist wichtig, dass Mr X nicht korrekt identifiziert werden kann, weshalb ihm das Porträt von Mrs C in die Tasche geschoben und das Porträt der schönen Unbekannten entwendet wird. Ich wüsste zu gern, wer sie ist.«
»Bitte bleib bei der Sache«, ermahnte Frankie ihn.
»Mrs C wartet ab, bis das Foto veröffentlicht wird, tritt als tieftraurige Schwester auf und identifiziert Mr X als ihren von fremden Gestaden zurückgekehrten Bruder.«
»Du glaubst also nicht, dass er tatsächlich ihr Bruder war?«
»Keinen Augenblick! Weißt du, es hat mich die ganze Zeit verwundert. Die Caymans gehören einer ganz anderen Klasse an. Der Tote war – also, das klingt jetzt ganz furchtbar, als wäre ich ein uralter, pensionierter Anglo-Inder, aber der Tote war ein Pukka Sahib.«
»Was die Caymans ganz entschieden nicht sind.«
»Ganz entschieden nicht.«
»Und genau in dem Moment, wo aus Sicht der Caymans alles glatt über die Bühne gegangen ist – der Leichnam wurde erfolgreich identifiziert, das Urteil lautete auf Tod durch Unfall, alles in Butter –, tauchst du auf und vermasselst ihnen die Tour«, sagte Frankie grübelnd.
»›Warum nicht Evans?‹« Nachdenklich wiederholte Bobby die Frage. »Weißt du, ich verstehe überhaupt nicht, weshalb um alles in der Welt man deswegen Fracksausen haben sollte.«
»Ah! Weil du den Zusammenhang nicht kennst. Das ist, wie wenn man Kreuzworträtsel entwirft. Man schreibt eine Frage hin und glaubt, sie sei so lächerlich einfach, dass jeder sofort die Lösung weiß, und ist dann fürchterlich überrascht, wenn kein Mensch auf die Antwort kommt. ›Warum nicht Evans?‹ muss für sie eine so fürchterlich bedeutungsschwere Frage gewesen sein, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass sie dir absolut nichts gesagt hat.«
»Was für Schwachköpfe.«
»Allerdings. Aber sie könnten auch gedacht haben, wenn Pritchard das gesagt hat, dann hat er vielleicht noch etwas anderes gesagt, was dir zu gegebener Zeit auch wieder einfallen würde. Jedenfalls wollten sie kein Risiko eingehen. Da war es sicherer, dich aus dem Weg zu räumen.«
»Aber sie haben hoch gepokert. Warum haben sie nicht einfach noch einen ›Unfall‹ inszeniert?«
»Nein, nein. Das wäre töricht gewesen. Zwei Unfälle innerhalb von einer Woche? Da hätte man einen Zusammenhang wittern können, und dann hätte man den ersten näher untersucht. Nein, ich glaube, die unverblümte Schlichtheit ihrer Methode ist eigentlich ziemlich clever.«
»Obwohl du gerade gesagt hast, dass Morphium nicht leicht zu beschaffen ist.«
»Das ist es auch nicht. Man muss seinen Namen in Giftbücher eintragen und solche Sachen. Aber das ist natürlich eine Spur. Der Täter muss leichten Zugang zu Morphium gehabt haben.«
»Ein Arzt, eine Krankenschwester oder ein Apotheker«, schlug Bobby vor.
»Nun, ich dachte eher an illegal eingeführtes Rauschgift.«
»Man sollte nicht zu viele verschiedene Arten von Verbrechen in einen Topf werfen.«
»Der größte Vorteil wäre das Fehlen eines Motivs, verstehst du. Dein Tod nützt niemandem etwas. Was wird die Polizei also denken?«
»Dass es ein Verrückter war. Und genau das denkt sie auch.«
»Siehst du. Eigentlich furchtbar einfach.«
Plötzlich lachte Bobby auf.
»Was ist denn so lustig?«
»Ach, der Gedanke daran, wie sie sich krankärgern müssen. Das ganze Morphium – genug, um fünf oder sechs Leute abzuservieren –, und hier liege ich putzmunter und quicklebendig in meinem Bett.«
»Das ist eine der kleinen Ironien des Lebens, mit der sie nicht gerechnet haben«, pflichtete Frankie ihm bei.
»Die Frage ist, was machen wir jetzt?«, wollte Bobby ganz pragmatisch wissen.
»Ach, allerlei«, erwiderte Frankie prompt.
»Wie zum Beispiel?«
»Na ja, herausfinden, wie viele Fotos in der Hosentasche steckten, eins oder doch zwei? Und was es mit Bassington-ffrenchs Haussuche auf sich hatte.«
»Die Sache ist wahrscheinlich lupenrein und absolut sauber.«
»Warum sagst du das?«
»Pass auf, Frankie, denk doch mal kurz nach. Bassington-ffrench muss einfach über jeden Verdacht erhaben sein. Er muss untadelig und absolut sauber sein. Nicht nur darf ihn überhaupt nichts mit dem Toten in Zusammenhang bringen, er muss auch einen triftigen Grund haben, sich hier in der Gegend aufzuhalten. Vielleicht hat er die Sache mit der Haussuche spontan erfunden, aber ich könnte wetten, dass er so etwas in der Art wirklich veranstaltet hat. Es darf nicht einmal gemunkelt werden, dass ein ›geheimnisvoller Fremder in der Nähe der Unfallstelle gesehen wurde‹. Ich glaube, dass er wirklich Bassington-ffrench heißt und ein achtbarer Mensch ist.«
»Ja«, sagte Frankie nachdenklich. »Das klingt ausgesprochen schlüssig. Es wird nicht das Geringste geben, was Bassington-ffrench mit Alex Pritchard in Verbindung bringt. Wenn wir allerdings wüssten, wer der Tote wirklich war …«
»Ja, das wäre dann etwas anderes.«
»Weshalb es äußerst wichtig war, dass der Leichnam nicht erkannt wurde – daher die ganzen Verschleierungsmanöver vonseiten der Caymans. Und doch sind sie ein großes Risiko eingegangen.«
»Du vergisst, dass Mrs Cayman ihn so schnell wie menschenmöglich identifiziert hat. Selbst wenn danach noch Bilder von ihm in der Zeitung aufgetaucht wären – du weißt ja, wie unscharf die immer sind –, hätten die Leute lediglich gesagt: ›Komisch, dieser Pritchard, der das Kliff hinuntergestürzt ist, ähnelt Mr X ja wirklich auffallend stark.‹«
»Da muss mehr dahinterstecken«, meinte Frankie scharfsinnig. »Mr X muss jemand gewesen sein, der nicht allzu schnell vermisst wird. Ich meine, er kann kein Mann mit Familie gewesen sein, dessen Frau oder Verwandte sofort zur Polizei gegangen wären und ihn als vermisst gemeldet hätten.«
»Alle Achtung, Frankie. Nein, er muss auf dem Weg ins Ausland gewesen oder vielleicht auch gerade zurückgekehrt sein – er war herrlich braun gebrannt und sah irgendwie aus wie ein Großwildjäger –, und er kann keine engen Verwandten gehabt haben, die über seine Aktivitäten Bescheid wussten.«
»Unsere Schlussfolgerungen sind wirklich beeindruckend«, erklärte Frankie. »Ich hoffe bloß, dass sie nicht alle falsch sind.«
»Höchstwahrscheinlich schon. Aber ich glaube, so weit klingt es ziemlich vernünftig – wenn man die wahnwitzige Unwahrscheinlichkeit des Ganzen einmal außer Acht lässt.«
Mit einer lässigen Geste schob Frankie diese wahnwitzige Unwahrscheinlichkeit beiseite.
»Die Frage ist wirklich: Was machen wir jetzt? Mir will scheinen, wir haben drei Angriffsmöglichkeiten.«
»Na los, Sherlock.«
»Die erste bist du. Einen Anschlag haben sie bereits auf dich verübt. Wahrscheinlich werden sie es erneut versuchen. Dann finden wir vielleicht eine ›heiße Spur‹, wie man so schön sagt. Wenn wir dich als Lockvogel benutzen, meine ich.«
»Nein danke, Frankie«, erwiderte Bobby mit Nachdruck. »Diesmal habe ich Glück gehabt, aber wenn sie bei ihrem nächsten Anschlag zu einem stumpfen Gegenstand greifen, komme ich vielleicht nicht so glimpflich davon. Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft sehr gut auf mich aufzupassen. Die Idee mit dem Lockvogel kannst du vergessen.«
»Genau das hatte ich befürchtet«, seufzte Frankie. »Die jungen Männer sind heutzutage leider völlig degeneriert. Sagt Vater immer. Sie haben überhaupt keine Lust mehr, sich auch nur irgendwie unbehaglich zu fühlen und gefährliche, unangenehme Dinge zu tun. Schade.«
»Jammerschade«, sagte Bobby mit Bestimmtheit. »Und wie sieht der zweite Schlachtplan aus?«
»Wir nehmen die Frage ›Warum nicht Evans?‹ als Ausgangspunkt«, sagte Frankie. »Vermutlich kam der Tote hierher, um sich mit diesem Evans zu treffen, wer auch immer das ist. Wenn wir also Evans finden könnten …«
»Was meinst du«, unterbrach Bobby sie, »wie viele Evans es in Marchbolt gibt?«
»Siebenhundert, würde ich sagen«, räumte Frankie ein.
»Mindestens! Natürlich könnten wir etwas in der Richtung unternehmen, aber ich bezweifle stark, dass es uns weiterbringen würde.«
»Wir könnten eine Liste von allen Evans aufstellen und den aussichtsreichsten Kandidaten einen Besuch abstatten.«
»Und sie was genau fragen?«
»Das ist der wunde Punkt«, sagte Frankie.
»Wir müssen erst ein bisschen mehr in Erfahrung bringen«, meinte Bobby. »Dann könnte sich deine Idee als nützlich erweisen. Und Nummer drei?«
»Dieser Bassington-ffrench. Da haben wir ja schon einen konkreten Anhaltspunkt. Es ist ein ungewöhnlicher Name. Ich werde Vater fragen. Er kennt die Namen des Landadels und ihre verschiedenen Zweige in- und auswendig.«
»Ja, in der Richtung könnten wir etwas unternehmen.«
»Aber auf jeden Fall unternehmen wir etwas?«
»Selbstverständlich. Meinst du, ich lasse mir acht Gran Morphium verabreichen und lege dann die Hände in den Schoß?«
»Genau die richtige Einstellung!«, erklärte Frankie.
»Und außerdem«, sagte Bobby, »wäre da ja noch die Schmach der Magenpumpe zu tilgen.«
»Schluss jetzt. Wenn ich jetzt kein Machtwort spreche, redest du wieder morbide und abstoßend daher.«
»Dir fehlt aber auch jegliches weibliche Mitgefühl«, sagte Bobby.