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6 Das Ende eines Picknicks
ОглавлениеAm darauffolgenden Tag erhielt Bobby einen Brief ganz anderer Art. Er kam von Badger und war in einer krakeligen Schrift geschrieben, die der teuren Internatsschule, die er besucht hatte, wenig Ehre machte:
Es ist alles geregelt, alter Junge. Hab gestern tatsächlich fünf Autos für insgesamt fünfzehn Pfund bekommen – einen Austin, zwei Morris und zwei Rover. Zurzeit laufen sie zwar nicht, aber ich glaube, wir müssen nur ein bisschen daran herumwerkeln, dann kriegen wir sie wieder hin. Herrgott noch mal, Auto ist schließlich Auto. Solange es den Käufer, ohne mit einer Panne liegen zu bleiben, nach Hause bringt – mehr kann man nicht verlangen. Ich dachte daran, Montag in einer Woche zu eröffnen, und baue auf Dich, lass mich also nicht im Stich, verstanden, alter Junge? Ich muss sagen, die alte Tante Carrie war wirklich ein anständiger Kerl. Einmal hab ich das Fenster eines ihrer Nachbarn eingeschlagen, weil er wegen ihrer Katzen frech zu ihr geworden war, das hat sie mir nie vergessen. Hat mir jedes Jahr zu Weihnachten einen Fünfer geschickt – und jetzt sogar das!
Wir werden garantiert erfolgreich sein. Die Sache ist todsicher. Ich meine, Auto ist schließlich Auto. Die Dinger kriegt man praktisch nachgeschmissen. Ein paar Spritzer Lack rauf, mehr sieht Otto Normalverbraucher sowieso nicht. Das wird ein Bombenerfolg. Vergiss also nicht: Montag in einer Woche. Ich baue auf Dich.
Viele Grüße
Badger
Bobby teilte seinem Vater mit, dass er Montag in einer Woche nach London fahren werde, um eine neue Arbeitsstelle anzutreten.
Seine Beschreibung dieser Arbeit rief beim Pfarrer alles andere als Begeisterungsstürme hervor. Er hatte, das muss dazugesagt werden, bereits Badger Beadons Bekanntschaft gemacht. So hielt er Bobby lediglich einen langen Vortrag darüber, dass es ratsam sei, keine Haftung für irgendetwas zu übernehmen. Da er weder in finanziellen noch in geschäftlichen Dingen ein Experte war, fiel sein Rat inhaltlich zwar recht vage aus, war vom Tenor her jedoch unmissverständlich.
Am Mittwoch jener Woche erhielt Bobby einen weiteren Brief. Er war in einer fremden Handschrift an ihn adressiert. Sein Inhalt überraschte den jungen Mann einigermaßen.
Das Schreiben kam von der Firma Henriquez & Dallo aus Buenos Aires, die ihm, um es auf den Punkt zu bringen, eine Anstellung anbot, und zwar mit einem Jahresgehalt von eintausend Pfund.
Im ersten Augenblick glaubte der junge Mann zu träumen. Tausend Pfund im Jahr. Er las den Brief noch einmal gründlicher. Es wurde erwähnt, dass man einen Navy-Veteranen bevorzuge, und angedeutet, dass eine nicht näher benannte Person Bobby empfohlen habe. Das Angebot müsse unverzüglich angenommen werden und Bobby müsse bereit sein, innerhalb einer Woche nach Buenos Aires abzureisen.
»Oh, verdammt, das kann doch wohl nicht wahr sein!«, ließ Bobby seinen Gefühlen auf eine nicht ganz salonfähige Art freien Lauf.
»Bobby!«
»Entschuldigung, Dad. Hatte ganz vergessen, dass du da bist.«
Mr Jones räusperte sich.
»Ich möchte dich darauf hinweisen …«
Bobby wusste, dass diese in der Regel langwierige Prozedur um jeden Preis vermieden werden musste. Er erreichte sein Ziel mit einer schlichten Erklärung:
»Jemand hat mir tausend im Jahr angeboten.«
Der Pfarrer bekam den Mund nicht wieder zu, weshalb er seinen Sohn erst einmal auf nichts hinweisen konnte.
Das hat ihn so richtig aus dem Tritt gebracht, dachte Bobby zufrieden.
»Mein lieber Bobby, habe ich dich richtig verstanden? Dir hat jemand eintausend Pfund im Jahr angeboten? Eintausend?«, fragte sein Vater schließlich.
»Volltreffer, Dad!«
»Das ist unmöglich«, meinte der Pfarrer.
Diese unverhohlene Ungläubigkeit verletzte Bobby keineswegs. Seine eigene Einschätzung seines Geldwertes unterschied sich nicht übermäßig von der seines Vaters.
»Das müssen absolute Trottel sein«, stimmte er ihm von Herzen zu.
»Wer, äh, sind diese Leute?«
Bobby reichte ihm den Brief. Der Pfarrer, nach seinem Kneifer tastend, beäugte ihn misstrauisch. Schließlich las er ihn zweimal sorgfältig durch.
»Höchst bemerkenswert«, sagte er schließlich. »Höchst bemerkenswert.«
»Geisteskranke«, erklärte Bobby.
»Ach, mein Junge. Letztlich ist es doch großartig, Engländer zu sein. Ehrlichkeit. Dafür stehen wir. Die Navy hat dieses Ideal in die ganze Welt getragen. Eine von Engländern beherrschte Welt. Diese südamerikanische Firma erkennt den Wert eines jungen Mannes mit unerschütterlicher Integrität, auf dessen Treue seine Arbeitgeber bauen können. Man kann sich stets darauf verlassen, dass ein Engländer sich an die Regeln hält …«
»Und auf dem Pfad der Tugend wandelt«, ergänzte Bobby.
Der Pfarrer sah seinen Sohn unsicher an. Die Redewendung, eine vorzügliche Maxime, hatte ihm tatsächlich auf der Zunge gelegen, aber irgendetwas an Bobbys Ton sagte ihm, dass es nicht ganz aufrichtig gemeint war.
Der junge Mann wirkte jedoch absolut ernst.
»Aber davon mal ganz abgesehen, Dad«, sagte er. »Warum gerade ich?«
»Was meinst du damit, warum gerade du?«
»Es gibt eine Menge Engländer in England«, sagte Bobby. »Anständige, untadelige Burschen. Warum fiel die Wahl gerade auf mich?«
»Wahrscheinlich hat dich dein früherer Kommandant empfohlen.«
»Ja, so wird es wohl gewesen sein«, erwiderte Bobby zweifelnd. »Aber eigentlich ist es auch egal, denn ich kann die Stelle ja sowieso nicht annehmen.«
»Du kannst sie nicht annehmen? Mein lieber Junge, was meinst du damit?«
»Nun, ich bin ja schon vergeben, verstehst du. An Badger.«
»An Badger? Badger Beadon? Unsinn, mein lieber Bobby. Das hier ist seriös.«
»Ich gebe zu, es ist nicht ganz einfach«, seufzte Bobby.
»Irgendeine kindische Abmachung, die du mit dem jungen Beadon getroffen hast, ist jetzt absolut ohne Belang.«
»Für mich nicht.«
»Der junge Beadon ist vollkommen verantwortungslos. Er hat seinen Eltern, soweit ich weiß, bereits sehr viel Kummer und Kosten bereitet.«
»Er hat einiges Pech gehabt. Badger ist so verteufelt gutgläubig.«
»Pech, Pech! Ich würde sagen, der junge Mann hat in seinem ganzen Leben noch keinen Finger krumm gemacht.«
»Unsinn, Vater. Er ist doch früher immer um fünf Uhr morgens aufgestanden, um diese scheußlichen Hühner zu füttern. Es war wirklich nicht seine Schuld, dass sie alle Pipp bekamen oder Krupp oder was immer es war.«
»Ich habe diese Idee mit der Werkstatt nie gebilligt. Die reinste Narretei. Du musst sie aufgeben.«
»Unmöglich, Sir. Ich habe meine Hand darauf gegeben. Ich kann den alten Badger nicht im Stich lassen. Er zählt auf mich.«
Das Gespräch nahm seinen Fortgang. Der Pfarrer, Badger gegenüber voreingenommen, war nicht imstande, ein diesem jungen Mann gegebenes Versprechen als bindend zu betrachten. Er erachtete Bobby als starrsinnig und um jeden Preis entschlossen, sich, in Gesellschaft eines der denkbar schlimmsten Zeitgenossen, dem Müßiggang hinzugeben. Bobby seinerseits wiederholte stur und alles andere als originell, dass er »den alten Badger nicht im Stich lassen« könne.
Schließlich verließ der Pfarrer wütend das Zimmer, und Bobby setzte sich auf der Stelle hin und schrieb an die Firma Henriquez & Dallo, dass er ihr Angebot ablehnen müsse.
Er seufzte. Er ließ sich hier eine Gelegenheit entgehen, die nie wiederkehren dürfte. Doch er sah keine Alternative.
Später, auf dem Golfplatz, erzählte er Frankie davon. Aufmerksam hörte sie ihm zu.
»Du hättest nach Südamerika gehen müssen?«
»Ja.«
»Hättest du das gern gemacht?«
»Ja, warum nicht?«
Frankie seufzte.
»Wie auch immer«, sagte sie entschieden. »Ich glaube, du hast richtig gehandelt.«
»Wegen Badger, meinst du?«
»Ja.«
»Ich konnte den alten Vogel doch nicht im Stich lassen, oder?«
»Nein, aber pass auf, dass der alte Vogel, wie du ihn nennst, dich nicht rupft.«
»Oh, da passe ich schon auf! Aber mir stößt schon nichts zu. Ich besitze ja kein Vermögen.«
»Das hört sich ziemlich gut an«, sagte Frankie.
»Wieso?«
»Ich weiß nicht. Es klingt so, als wäre man frei und ohne Verantwortung. Wenn ich’s mir recht überlege, besitze ich eigentlich auch kein großes Vermögen. Ich meine, Vater finanziert meinen Unterhalt, mir steht eine beträchtliche Anzahl von Häusern zur Verfügung, auch Kleidung und Personal und hässlicher Familienschmuck, und in Geschäften kann ich auf Kredit kaufen, aber in Wirklichkeit gehört das alles der Familie, nicht mir.«
»Ja, aber trotzdem …«
Bobby hielt inne.
»Ach, ich weiß, das ist etwas ganz anderes.«
»Ja«, sagte Bobby, »das ist es.«
Plötzlich fühlte er sich sehr niedergeschlagen.
Schweigend gingen sie zum nächsten Abschlag.
»Ich fahre morgen nach London«, sagte Frankie, während Bobby seinen Ball aufs Tee legte.
»Morgen? Oh, und ich wollte dir gerade ein Picknick vorschlagen.«
»Ich wäre gern gekommen. Aber es ist schon alles arrangiert. Vater hat nämlich wieder einen Gichtanfall.«
»Du sollest hierbleiben und ihn pflegen«, sagte Bobby.
»Er wünscht keine Pflege. Das Ganze regt ihn fürchterlich auf. Am liebsten mag er noch den zweiten Diener. Der ist verständnisvoll und stört sich nicht daran, wenn er mit Gegenständen beworfen und ›verdammter Narr‹ geschimpft wird.«
Bobby toppte den Abschlag, und der Ball trudelte in den Bunker.
»Pech gehabt«, sagte Frankie und spielte einen schönen geraden Ball, der darüber hinwegflog. »Übrigens könnten wir ja mal in London irgendetwas zusammen machen. Fährst du bald wieder hin?«
»Montag. Aber, na ja, das hat doch keinen Zweck, oder?«
»Wie, das hat keinen Zweck?«
»Na ja, ich werde die meiste Zeit als Mechaniker arbeiten. Ich meine …«
»Trotzdem«, erklärte Frankie, »denke ich mal, dass du genauso in der Lage sein wirst, zu einer Cocktailparty zu kommen und dir einen Schwips anzutrinken, wie meine anderen Freunde auch.«
Bobby schüttelte bloß den Kopf.
»Wenn du willst, gebe ich auch eine Bier-und-Würstchen-Party«, sagte Frankie aufmunternd.
»Hör mal, Frankie, was für einen Zweck soll das denn haben? Ich meine, du kannst doch nicht deine Bekanntenkreise mischen. Wir bewegen uns in völlig unterschiedlichen Welten.«
»Ich versichere dir, dass meine Kreise sehr gemischt sind.«
»Du willst mich nicht verstehen.«
»Du kannst meinetwegen sogar Badger mitbringen. Das nenne ich wahre Freundschaft.«
»Irgendwie bist du Badger gegenüber voreingenommen.«
»Um ehrlich zu sein, es ist sein Gestotter. Wenn Leute stottern, fange ich auch immer an zu stottern.«
»Hör mal, Frankie, es hat keinen Zweck, und das weißt du auch. Hier oben ist es in Ordnung. Es gibt nicht viel zu tun, und ich schätze mal, ich bin besser als gar keine Gesellschaft. Ich meine, du bist immer fürchterlich anständig zu mir und so, und dafür bin ich dir auch dankbar. Aber, ich weiß, dass ich bloß ein Nichts bin, ich meine …«
»Wenn du damit fertig bist, deinen Minderwertigkeitskomplex vor mir auszubreiten«, sagte Frankie kühl, »könntest du ja vielleicht mal versuchen, mit einem Niblick statt mit einem Putter aus dem Bunker herauszukommen.«
»Habe ich – oh, verdammt!« Er steckte den Putter in seine Tasche zurück und nahm sich den Niblick. Mit boshafter Genugtuung sah Frankie zu, wie er fünfmal hintereinander auf den Ball eindrosch. Sandwolken stoben auf.
»Dein Loch«, sagte Bobby und hob seinen Ball auf.
»Das würde ich auch sagen. Womit ich das Spiel gewonnen hätte.«
»Sollen wir noch das Bye spielen?«
»Nein, ich denke nicht. Ich habe noch eine Menge zu tun.«
»Natürlich, das kann ich mir vorstellen.«
Schweigend gingen sie zum Klubhaus.
»Also«, sagte Frankie mit ausgestreckter Hand. »Auf Wiedersehen, mein Lieber. Es war wirklich wunderbar, während ich hier war, Gebrauch von dir machen zu können. Wenn ich mal nichts Besseres zu tun habe, darfst du mir vielleicht wieder unter die Augen treten.«
»Hör mal, Frankie …«
»Vielleicht lässt du dich herab, zu meiner Straßenhändlerparty zu kommen. Perlmuttknöpfe gibt es, glaube ich, bei Woolworth ziemlich billig.«
»Frankie …«
Seine Worte gingen in dem Geräusch des Bentley-Motors unter, den Frankie inzwischen angelassen hatte. Mit einem lässigen Winken fuhr sie davon.
»Verdammt!«, entfuhr es Bobby aus tiefster Seele.
Frankie, überlegte er, hatte sich unverschämt aufgeführt. Vielleicht hatte er sich nicht sehr taktvoll ausgedrückt, aber, Herrgott noch mal, er hatte schließlich nur die Wahrheit gesagt.
Vielleicht hätte er allerdings kein Wort darüber verlieren sollen.
Die nächsten drei Tage kamen ihm unendlich lang vor.
Der Pfarrer hatte Halsschmerzen, weshalb er, wenn er überhaupt etwas sagte, nur flüsterte. Die Anwesenheit seines vierten Sohnes ertrug er ganz eindeutig so, wie es sich für einen Christen ziemte. Ein- oder zweimal zitierte er Shakespeare dahingehend, dass keiner Schlange Zahn so wehtun kann wie der Undank eines Kindes und so weiter.
Am Samstag hatte Bobby das Gefühl, er könne die Last des Lebens zu Hause nicht länger ertragen. Er bat Mrs Roberts, die gemeinsam mit ihrem Mann im Pfarrhaus den Haushalt besorgte, ihm ein Sandwichpaket zusammenzupacken, das er in Marchbolt noch um eine Flasche Bier ergänzte, ehe er zu einem einsamen Picknick aufbrach.
Frankie hatte ihm in den letzten Tagen furchtbar gefehlt. Diese älteren Leute waren wirklich das Letzte. Immer wieder kamen sie mit derselben Leier.
Bobby streckte sich auf einer farnbewachsenen Böschung aus und überlegte hin und her, ob er erst seinen Lunch essen und dann schlafen oder erst schlafen und dann essen sollte.
Während er noch grübelte, erledigte sich die Angelegenheit von selbst, da er, ohne es zu merken, einschlief.
Als er aufwachte, war es halb vier! Bei dem Gedanken daran, wie sehr sein Vater diese Art, den Tag zu verbringen, missbilligen würde, musste Bobby grinsen. Ein ordentlicher Spaziergang über Land – um die zwanzig Kilometer –, das wäre das Richtige für einen gesunden jungen Mann. Es würde zwangsläufig in jenen legendären Ausspruch münden: »Und nun habe ich mir, glaube ich, meinen Lunch redlich verdient.«
Idiotisch, dachte Bobby. Warum sollte man sich seinen Lunch dadurch verdienen, dass man ewig herumläuft, wenn man eigentlich gar keine besondere Lust dazu verspürt? Was wäre der Sinn des Ganzen? Wenn es einem Spaß macht, dann tut man es aus reinem Vergnügen, und wenn es einem keinen Spaß macht, dann wäre man schön dumm, es zu tun.
Woraufhin er über seinen unverdienten Lunch herfiel und ihn mit Genuss verspeiste. Mit einem zufriedenen Seufzer öffnete er die Bierflasche. Ungewöhnlich bitteres Bier, aber ausgesprochen erfrischend.
Als die Flasche leer war, schleuderte er sie ins Heidekraut und legte sich wieder hin.
Wie er sich dort einen faulen Tag machte, kam er sich vor wie ein Gott. Die Welt lag ihm zu Füßen. Bloß eine Redensart, aber eine gute Redensart. Er könnte alles erreichen, alles – wenn er sich nur Mühe gäbe! Pläne von großer Pracht und kühner Tatkraft schossen ihm durch den Kopf.
Erneut wurde er schläfrig. Eine ungeheure Lethargie überkam ihn.
Er schlief ein.
Es war ein tiefer, bleierner Schlaf …