Читать книгу Ein Schritt ins Leere - Agatha Christie - Страница 4
1 Der Unfall
ОглавлениеBobby Jones legte den Ball auf das Tee, lockerte kurz seine Handgelenke, schwang den Schläger langsam zurück, um dann mit blitzartiger Geschwindigkeit durch den Ball zu schlagen.
Flog der Ball jetzt schnurgerade über das Fairway, im hohen Bogen über den Bunker und landete nur einen einfachen Mashie-Schlag vom vierzehnten Loch entfernt?
Nein, das tat er nicht. Übel getoppt, sauste er über den Boden und bohrte sich tief in den Bunker hinein!
Doch keine erwartungsvolle Zuschauermenge stöhnte fassungslos auf. Der einzige Zeuge dieses Schlages zeigte sich nicht im Geringsten überrascht. Was leicht zu erklären war, denn nicht der amerikanische Meistergolfer hatte ihn gespielt, sondern lediglich der vierte Sohn des Gemeindepfarrers von Marchbolt, einem kleinen Küstenort in Wales.
Bobby stieß einen ausgesprochen gotteslästerlichen Ruf aus.
Er war ein freundlich aussehender junger Mann von ungefähr achtundzwanzig Jahren. Selbst sein bester Freund hätte nicht behaupten können, dass er attraktiv war, doch sein Gesicht war ausnehmend sympathisch, und seine braunen Dackelaugen strahlten eine ehrliche Herzlichkeit aus.
»Ich werde von Tag zu Tag schlechter«, murrte er niedergeschlagen.
»Sie hauen zu sehr drauf«, gab sein Golfpartner zurück.
Dr. Thomas war ein Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und einem fröhlichen rosigen Gesicht, der nie einen vollen Schwung ausführte. Er spielte kurze, gerade Schläge die Fairwaymitte hinunter, womit er bessere, aber weniger konstante Spieler meist auf die Plätze verwies.
Jetzt attackierte Bobby seinen Ball aggressiv mit einem Niblick. Beim dritten Mal hatte er Erfolg. Der Ball lag kurz vor dem Grün, das Dr. Thomas mit zwei achtbaren Eisenschlägen erreicht hatte.
»Ihr Loch«, sagte Bobby.
Sie gingen zum nächsten Abschlag.
Der Arzt spielte zuerst – ein schöner, gerader, allerdings nicht sehr weiter Schlag.
Bobby seufzte, legte den Ball aufs Tee, dann noch einmal, lockerte längere Zeit seine Handgelenke, schwang steif nach hinten, schloss die Augen, hob den Kopf, kippte die rechte Schulter nach unten, tat also alles, was er nicht hätte tun sollen – und schlug einen Wahnsinnsball die Mitte des Fairways hinunter.
Mit einem Gefühl der Befriedigung holte er tief Atem. Auf seinem beredten Gesicht machte die allgemein bekannte Tristesse des Golfers dem gleichermaßen wohlbekannten Hochgefühl eines Golfers Platz.
»Jetzt weiß ich, wo es langgeht«, sagte Bobby, was allerdings keineswegs der Wahrheit entsprach.
Ein perfekter Eisenschlag, ein kleiner Chip mit einem Mashie, und Bobby hatte den Ball tot an die Fahne gelegt. Ihm gelang ein Birdie, und Dr. Thomas lag eins auf.
Voller Zuversicht trat Bobby an den sechzehnten Abschlag. Wieder tat er alles, was er nicht hätte tun sollen, doch diesmal geschah kein Wunder. Heraus kam ein bestechender, grandioser, fast übermenschlicher Slice! Der Ball drehte rechtwinklig ab.
»Wenn der gerade geflogen wäre!«, meinte Dr. Thomas.
»Ja, wenn«, wiederholte Bobby verbittert. »Hoppla, ich glaube, ich habe einen Schrei gehört! Hoffentlich wurde niemand von dem Ball getroffen.«
Er spähte nach rechts. Die Lichtverhältnisse waren schwierig. Die Sonne stand im Begriff unterzugehen. Sah man direkt in sie hinein, war kaum noch etwas zu erkennen. Außerdem stieg ein leichter Nebel vom Meer auf. Der Rand des Kliffs lag wenige Hundert Meter entfernt.
»Dahinten führt der Wanderpfad entlang«, sagte Bobby. »Aber so weit kann der Ball unmöglich geflogen sein. Trotzdem habe ich, glaube ich, einen Schrei gehört. Sie auch?«
Der Arzt hatte jedoch nichts vernommen.
Bobby machte sich auf die Suche nach seinem Ball. Ihn aufzuspüren war alles andere als einfach, doch schließlich wurde er fündig. Da er unter einem Stechginsterstrauch feststeckte, war er praktisch unspielbar. Bobby hieb ein paarmal auf ihn ein, dann hob er ihn auf und rief seinem Partner zu, er werde das Loch aufgeben.
Dr. Thomas gesellte sich zu ihm, denn der siebzehnte Abschlag lag am Rand des Kliffs. Für Bobby war er ein Albtraum. Hier musste der Ball über eine Kluft geschlagen werden. Die Entfernung war letztlich gar nicht so groß, doch der Abgrund übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
Die beiden hatten den Wanderpfad überquert, der sich bis dahin direkt am Kliff entlanggeschlängelt hatte und nun landeinwärts zu ihrer Linken verlief. Der Arzt nahm ein Eisen, und der Ball landete knapp auf der anderen Seite.
Bobby holte tief Atem und schlug ab. Der Ball sauste durch die Luft und verschwand in der Tiefe.
»Jedes verflixte Mal«, sagte er bitter. »Jedes Mal verzapfe ich den gleichen Bockmist.«
Er trat an den Rand der Kluft und spähte hinab. Weit unten glitzerte die See, doch nicht jeder Ball versank in ihren Tiefen. Oben fiel der Fels senkrecht ab, ging dann jedoch in eine Böschung über.
Langsam schritt Bobby am Steilhang entlang. Er kannte eine Stelle, an der man relativ leicht nach unten kam. Die Caddys flitzten dort des Öfteren hinunter und tauchten schnaufend, aber triumphierend mit dem verschwundenen Ball wieder auf.
Plötzlich erstarrte er und rief seinem Golfpartner zu:
»Doktor, kommen Sie doch mal her. Was, meinen Sie, ist das?«
Gut zwölf Meter unter ihnen lag ein dunkles Bündel, das aussah wie ein Haufen alter Kleider.
Der Arzt atmete einmal kräftig durch.
»Mein Gott«, sagte er. »Da ist jemand abgestürzt. Wir müssen zu ihm hinunter.«
Seite an Seite kraxelten die beiden den Felsen hinab, wobei der sportlichere Bobby dem Arzt half. Schließlich erreichten sie das ominöse dunkle Bündel. Es war ein circa vierzig Jahre alter Mann, der zwar bewusstlos war, aber noch atmete.
Der Arzt kniete sich hin und untersuchte ihn, tastete seine Gliedmaßen ab, fühlte ihm den Puls, zog die Augenlider hoch. Dann blickte er zu Bobby auf, dem ganz blümerant zumute war, und schüttelte langsam den Kopf.
»Da kann man nichts mehr machen«, sagte er. »Armer Kerl, sein letztes Stündlein hat geschlagen. Hat sich das Rückgrat gebrochen. Tja. Wahrscheinlich war er mit diesem Pfad nicht vertraut und fiel, als der Nebel kam, über die Felskante. Ich habe dem Gemeinderat schon mehr als einmal gesagt, dass hier ein Geländer hingehört.«
Er erhob sich.
»Ich gehe Hilfe holen«, sagte er. »Werde veranlassen, dass man den Leichnam nach oben schafft. Aber es wird dunkel sein, ehe wir wieder zurück sind. Bleiben Sie hier?«
Bobby nickte.
»Und man kann wirklich gar nichts mehr für ihn tun?«, fragte er.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Überhaupt nichts. Es wird nicht lange dauern – der Puls sinkt rapide. Er hat höchstens noch zwanzig Minuten. Vielleicht kommt er zum Schluss noch einmal kurz zu Bewusstsein, aber höchstwahrscheinlich nicht. Trotzdem …«
»Selbstverständlich«, sagte Bobby schnell. »Ich bleibe hier. Machen Sie sich auf den Weg. Und falls er zu sich kommt, gibt es keine Arznei oder so …« Er zögerte.
Wieder schüttelte der Arzt den Kopf.
»Er wird keine Schmerzen haben«, sagte er. »Überhaupt keine Schmerzen.«
Er wandte sich ab und kletterte schnell wieder das Kliff hinauf. Bobby sah ihm nach, bis er oben mit einem Winken verschwand.
Bobby machte ein, zwei Schritte entlang der schmalen Felsbank, setzte sich auf einen Vorsprung und zündete sich eine Zigarette an. Die Sache hatte ihn mitgenommen. Bisher war er noch nie mit einer Krankheit, geschweige denn mit dem Tod in Berührung gekommen.
Was für ein selten dämliches Pech man doch haben konnte! Ein paar Nebelschwaden an einem wunderschönen Abend, ein falscher Schritt – und schon war es vorbei mit dem Leben. Gesund wirkte der gut aussehende Mann auch, war wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag krank gewesen. Die Blässe des nahenden Todes konnte nicht die tiefe Bräune seiner Haut verbergen. Ein Mensch, der sein Leben in der freien Natur verbracht hatte, vielleicht sogar im Ausland. Bobby musterte ihn genauer – sein kastanienbraunes gekräuseltes Haar, das an den Schläfen einen Anflug von Grau zeigte, die große Nase, der kräftige Kiefer, die weißen Zähne hinter den leicht geöffneten Lippen. Dann die breiten Schultern und die schmalen, sehnigen Hände. Die Beine waren in einem absonderlichen Winkel verdreht. Bobby erschauderte und lenkte seinen Blick noch einmal auf das Gesicht. Ausgesprochen sympathisch, humorvoll, entschlossen, aufgeweckt. Die Augen, dachte er, waren vermutlich blau …
Genau an diesem Punkt seiner Überlegungen öffneten sich diese Augen plötzlich.
Sie waren tatsächlich blau – ein klares, tiefes Blau – und sahen Bobby direkt an. Der Blick hatte nichts Unstetes oder Verschleiertes, wirkte vollkommen wach. Die Augen waren aufmerksam, schienen jedoch gleichzeitig eine Frage zu stellen.
Schnell stand Bobby auf und trat näher an den Mann heran. Noch ehe er ihn erreichte, sprach der andere. Seine Stimme war nicht schwach, sondern klar und voll.
»Warum nicht Evans?«, sagte er.
Dann überlief ihn ein seltsamer kleiner Schauer, die Lider fielen zu, die Kinnlade sank herab …
Der Mann war tot.