Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 10
Kaufrausch
Оглавление»Hast du Jens und Lena Bescheid gegeben, dass du weiterhin hier bei mir bleibst?«
»Klar. Jens ist ein bisschen traurig. – Oh, nicht wegen des Babys. Nein, ihm fehlt nur das Ganze hier. Das war halt alles so aufregend damals. Das Gipfeltreffen und so. Er würde gern mal wieder herkommen.«
»Gipfeltreffen?«
Anna kicherte. »Ja, so haben Jens und ich es genannt, als wir uns alle hier bei euch getroffen haben, um uns gegen Kana zusammenzutun: Vitus, seine Wachleute, die ganzen Elfenfürsten, ihr und wir.«
Viktor lachte. »Hübscher Begriff. Den werde ich mir merken. Hm, schade, dass Jens unsere Elfensache vor seiner Silvi geheim halten muss. Aber die beiden können doch jederzeit zu uns nach Hause kommen. Wir wohnen schließlich in der Menschenwelt. Und da Silvi über den ersten Schock hinweg ist, dass mein Schwesterherz der Viola von den Urlaubsfotos so ähnlich sieht, dürfte das Thema Viktoria auch kein Problem mehr sein.«
»Das geht aber nur, wenn Ketu mit dabei ist. Sonst dreht Silvi vielleicht doch wieder durch. Sie ist immer noch tierisch eifersüchtig auf die geheimnisvolle Viola.«
Viktor und Anna lachten verschmitzt.
»Was macht Viktoria eigentlich? Ich hab sie seit Freitag nicht mehr gesehen. Das sind immerhin schon drei Tage.«
»Sie ist bei Ketu.« Er schmunzelte. »Seit er sie seinen Eltern vorgestellt hat, ist sie ziemlich oft dort. Sistra hat mir erzählt, dass er dem Liebesglück so oft wie möglich entflieht und deshalb sogar Extraschichten bei Vitus auf dem Schloss schiebt.«
»Ja, der Ketu, der hat echt lange gebraucht. Wie sagt Mama immer: Was lange währt, wird endlich gut.« Auch Anna schmunzelte. »Ach, apropos Vitus. Wusstest du schon, dass er sein Imperium in Amerika verkauft, um mehr Zeit mit euch zu verbringen? Sorry, die Notlüge ist mir zu Hause einfach so rausgeplatzt, weil mir das Ganze allmählich zu kompliziert wurde. Er ist ja tatsächlich viel mehr mit euch zusammen als früher. Ich hoffe, das geht in Ordnung.«
»Aber sicher doch. Mach dir keinen Kopf.«
»Meine Eltern wollen ihn übrigens kennenlernen. Du und Viktoria sollt ihn demnächst mal mitbringen.«
Sie lagen im Bett, nackt. Anna völlig entspannt auf Viktor. Ihre Haut glühte noch vom vorangegangenen Liebesspiel und er strich ihr zärtlich über den Rücken, während sie sich angeregt über dies und das unterhielten.
»Weißt du was, Anna? Das sagst du Vitus am besten selbst.«
»Oh, kommt er heute? Wann? Nicht, dass es wieder eine dieser peinlichen Situationen gibt. Ich hasse das. Das weißt du ja.«
»Nein, meine Süße, wir werden ihn besuchen.« Er gab Anna einen Klaps auf den Po. »Komm, steh auf. Er hat uns nämlich eingeladen. Die ganze Truppe kommt. Auf dem Schloss findet so etwas Ähnliches wie ein Gipfeltreffen statt.« Zögernd fügte er hinzu: »Vitus hat Geburtstag.«
»Er hat was?« Ihre Stimme wurde schrill. »Heute?«
»Geburtstag. Ja. Heute«, wiederholte er mit einem verlegenen Räuspern.
»Wir sind zum Geburtstag deines Vaters eingeladen und du sagst mir das um …«, sie griff sich ihr Handy von der Kommode, »… um neun Uhr, am Morgen seines Geburtstages?« Annas Augen verengten sich zu Schlitzen. Viktor zuckte merklich zusammen, als er hellblaue Blitze daraus hervorschießen sah. »Wann, Viktor Müller, wann sollen wir dort sein?«
»Erst am Abend. So um sechs, sieben.«
Sie richtete sich auf, bohrte dabei, offenkundig absichtlich, ihr Knie in seinen Oberschenkel und kam damit seiner Männlichkeit bedrohlich nahe. Viktor stieß zischend Luft aus, sagte aber nichts.
»Ich hab nichts anzuziehen – und kein Geschenk. Ich …« Wieder Blitze! »Wieso hast du das getan? Du wusstest das doch bestimmt schon viel länger!«
»Reine Taktik, Anna. Das musste sein!«
»Warum?« Sie schien außer sich zu sein. »Los! Sag’s!«
Auf seine Ellenbogen gestützt, um sich ihr nicht ganz so unterlegen zu fühlen, versuchte er sich an einer Antwort und holte tief Luft: »Weil du dir sonst viel zu viele Gedanken wegen der Geschenke und Klamotten und sonst noch was gemacht hättest. Und weil ich weiß, dass du dich bestimmt für sein Geschenk zu deinem Geburtstag revanchieren wollen würdest, und ich nicht will, dass du dein Spargeld für den neuen Schreibtischstuhl dafür ausgibst. Und – weil ich wiederum weiß, dass Vitus das auf keinen Fall haben würde wollen und dass er mir, wenn er es rauskriegen würde, dafür den Kopf abreißen würde. Darum!«
Anna kniete immer noch halb auf Viktor und starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist doch kompletter Blödsinn!«
Doch Viktor streckte seine Hände nach ihr aus, zog sie wieder an sich und strich ihr besänftigend übers Haar.
»Kein Blödsinn. Pass auf. Ich dachte, wir fahren gleich los, in so ein großes Einkaufscenter, weißt du? Wir frühstücken da und shoppen ein bisschen. Da finden wir bestimmt was Hübsches für dich zum Anziehen und ein Geschenk für Vitus. Ich hab schon im Internet nachgeguckt. Da gibt’s ein ganz Großes in Oberhausen. Das ist gar nicht so weit weg von hier. Es heißt Centrum, glaub ich.«
»Centro«
»Wie bitte?«
Anna seufzte: »Centro, Viktor. Das Shoppingcenter nennt sich Centro.«
»Ach ja, genau.«
»Du willst also mit mir nach Oberhausen düsen und mir dort was zum Anziehen kaufen?« Offenbar war das eher eine Feststellung denn eine Frage.
»Ich war noch nie mit dir einkaufen. Das macht bestimmt Spaß. Solche Centros gibt es in der Elfenwelt nicht. Da ist alles anders, sehr anders. Und hier in der Menschenwelt haben Viktoria und ich das Meiste per Internet bestellt. Deswegen fänd ich es total spannend, mit dir shoppen zu gehen. Bitte, Anna, sei nicht mehr böse.«
Sie verzog jedoch missmutig das Gesicht. »Ich bin kein Modepüppchen, das man mit Kleidern und Schmuck behängt, um es damit gefügig zu machen«, gab sie schnippisch zu Bedenken.
»Was?« Er war entsetzt. »Anna, aber ich würde doch nie …«
Sie biss sich auf die Lippe, ehe sie mit einem Mal losprustete.
»Du machst dich über mich lustig, Anna Nell«, stellte Viktor erleichtert fest. »Du machst dich tatsächlich über mich lustig. Na warte!« Mit einer blitzartigen Bewegung warf er sich auf sie und sah sie mit funkelnden Augen an. »Tja, tut mir sehr leid, Kleines, aber wir werden wohl eine Stunde weniger zum Shoppen zur Verfügung haben. Und das ist allein deine Schuld.«
***
Annas letzte Besuche im Centro lagen schon einige Zeit zurück: Einmal mit Jens und seiner Freundin und einmal mit Lena und deren Freundin.
Beide Male, jeweils an einem Samstag, war es ihr dort erheblich zu voll und aufdringlich gewesen. Jetzt, an einem Montag, um halb elf am Vormittag, fand sie es eigentlich recht angenehm. Nach einem »Spätstück« mit überbackenen Käsebrötchen und Cappuccino in einem Bäckerei-Café schauten sie sich um und begutachteten die zahlreichen Geschäfte mit den unzähligen Markensachen.
Anna hielt sich weder für ein Modepüppchen noch für eine Konsummieze, wurde aber dennoch schwach beim Anblick der vielen tollen Klamotten. Von Schwachwerden konnte bei Viktor allerdings keine Rede sein. Er war schlichtweg begeistert.
Weil Anna Kleider und Röcke lieber im Sommer trug – Strumpfhosen und Ähnliches waren ihr nämlich ein Gräuel – suchte sie systematisch nach einer schicken Hose und einem passenden Oberteil, wohingegen Viktor zielsicher auf Kleider zusteuerte.
Auch im nächsten Designer-Store blieb sein Blick wieder einmal an einem Kleid hängen, diesmal an einem dunkelblauen, eleganten und zugleich raffiniert geschnittenen Etuikleid. Als Anna daran vorbeilaufen wollte, hielt er sie am Arm fest. »Also, ich finde das schon ganz schön schön.« Viktor grinste breit.
Sie verdrehte die Augen. »Das ist ein Kleid für Business-Frauen, nicht für siebzehnjährige Schülerinnen.«
»Aber es ist schon ganz schön schön«, beharrte er. »Probier’s doch mal an, Anna, bitte.«
Murrend griff sie nach dem Kleid in ihrer Größe und verschwand damit in der Umkleidekabine. Kritisch besah sie sich im Spiegel. Das geraffte und tief ausgeschnittene Oberteil passte ausgesprochen gut zu dem eng geschnittenen Rock.
»Schöne Farbe und es sitzt wie angegossen. Ist nur ein wenig zu lang.«
Neugierig lugte Viktor durch den Vorhang. »Wow, das ist ja der Hammer, Süße, das steht dir großartig. Das kaufen wir auf alle Fälle.«
»Viktor, nein, dieses Kleid ist viel zu elegant und teuer für mich. Außerdem bräuchte ich eine Strumpfhose, Schuhe und all so’n Zeug dazu. Das dauert doch ewig.«
»Keine Strumpfhose.«
»Was? Wieso? Es ist draußen viel zu kalt für ohne.«
»Natürlich ist es zu kalt. Trotzdem: keine Strumpfhose. Die finde ich nämlich ätzend. Aber es gibt da so lange Seidenstrümpfe, echt sexy. Ich hab die auf so einer Internetseite gesehen. Sowas würden dir super gut stehen.«
Nun stand ihr der Mund am heutigen Tage schon zum zweiten Mal offen. »Viktor Müller, das ist doch nicht dein Ernst? Kommt nicht in Frage! Außerdem ist das Kleid zu lang. Ich bin zu klein dafür.«
»Zieh es aus und gib es mir.«
»Wie bitte?«
»Zieh es aus und gib es mir, Anna«, wiederholte er geduldig. »Wenn du dann fertig bist, treffen wir uns am Ausgang vom Store.«
»Also wirklich, Viktor.«
»Komm schon, Anna. Bitte.«
Sie stieß leise Flüche aus, reichte ihm aber das Kleid durch den Vorhang.
»Danke sehr. Bis gleich.«
Sie trafen sich am Ausgang wieder.
»Hast du das Kleid zurückgehängt?«, erkundigte sie sich.
»Nein.« Augenscheinlich amüsiert zog Viktor die Mundwinkel hoch. »Sie machen es kürzer. In einer Stunde können wir es abholen.«
Schon zum dritten Mal stand ihr der Mund offen. »Wie hast du denn das geschafft?« Sie winkte ab. »Ach, vergiss es. Ich kann mir denken, wie du auf Frauen wirkst. Du hast sie mit deinem Halbelfen-Charme eingewickelt, stimmt’s?«
»Es war zwar ein junger Mann«, entgegnete er trocken. »Hat aber trotzdem geklappt. Ich glaube nicht, dass er sich deswegen Hoffnungen macht.« Er lachte frech und schob sie einfach vor sich her. »Weiter geht’s, los, los, ich bin total im Kaufrausch. Da drüben habe ich so einen Wäscheladen gesehen. Die haben bestimmt solche Strümpfe und vielleicht ja auch noch was für unters Kleid.«
Genervt zog sie die Brauen hoch.
»Was?«, fragte er leichthin.
Doch sie schüttelte resigniert den Kopf.
»Langsam dreht er durch!«
»Tu ich nicht. Oh, schau mal, da ist ja auch ein Schuhgeschäft!«
Zwei geschlagene Stunden später hatten sie fast alles zusammen. Nun nannte Anna ein in ihren Augen viel zu kostspieliges, zudem zu damenhaftes Kleid ihr Eigen, dazu ein schwarzes glänzendes Jäckchen; hochhackige – sehr hochhackige – Pumps in passender Farbe; eine – selbstverständlich – farblich abgestimmte Clutch; Glitzerohrringe; hauchzarte Seidenstrümpfe und sündhaft teure schwarze Spitzendessous. Zu allem Überfluss war sie auch noch in einer Parfümerie geschminkt und beduftet worden.
»Er hat mich wie eine Dampfwalze überrollt! Na wenigstens hat er sich auch was gekauft. Und er sieht echt sexy darin aus.«
… Viktor entschied sich für eine dunkelgraue Flanellhose eines edlen Designer-Labels. Die lag lässig auf seinen Hüften und stand ihm ausgesprochen gut. Genau wie das taillierte weiße Hemd. Die Verkäuferin hielt tatsächlich den Atem an, als er aus der Kabine schlenderte. Nur bei den Schuhen blieb er unerbittlich. Auch noch, als sie ihm, trotz schmachtendem Blick, eindringlich riet, schwarze Lederschuhe dazu zu tragen. Er bestand auf seine Chucks. …
Bei der Erinnerung schüttelte Anna wieder einmal den Kopf. Sie sollte in den hohen Dingern durch die Gegend staksen und er würde seine bequemen Turnschuhe tragen. Doch das war derzeit nicht so wichtig, denn sie brauchten ja noch ein Geschenk für Vitus.
»Was schenkt man einem König?«
»Man schenkt ihm was zum Lesen, Anna. Vitus steht auf Bücher, besonders auf ›menschliche‹ Literatur. Komm mit, ich …«
»Du hast da so einen Buchladen gesehen. War klar.«
Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatten, stellten sie diverse Werke zusammen. Viktor erklärte ihr, dass sein Vater alles las, was er an »menschlicher« Literatur in die Finger bekam: Schätzing, Goethe, Brecht, Grisham, Ludlum, Tolstoi …
»Na, wenn das mal keine bunte Mischung ist.«
Weil sie aber selbst auch die Abwechslung liebte und kein Problem damit hatte, erst etwas von Ringelnatz, Jane Austen oder Yeats zu lesen, um danach übergangslos Adler Olsen oder Nora Roberts zu verschlingen, musste sie kichern.
Als Viktor den Wagen aus dem Parkhaus lenkte, nachdem sämtliche Pakete, Taschen und Tüten im Kofferraum verstaut waren, entfuhr Anna ein abgrundtiefer Seufzer der Erleichterung.
Viktor aber blieb gut gelaunt. »So, jetzt haben wir’s. Ab nach Hause und dann ins Märchenland.«
Bei dem Gedanken daran rutschte Anna das Herz in die Hose und ihr Mut sank mit jedem Meter, den sie sich dem Reetdachhaus und damit der Grenze zum Elfenreich näherten. Sie war noch nie auf dem königlichen Schloss gewesen, kannte ohnehin sehr wenig vom Elfenland, eigentlich so gut wie gar nichts. Nur die sogenannte elfische Vorwelt mit der zauberhaften Lichtung und dem Bach, die Viktoria für sie gemalt hatte. Und ein bisschen von der Elfenlandschaft, als sie seinerzeit Kana und Kaoul in die Falle gelockt hatten.
»Warum soll ich mich eigentlich so aufbrezeln?« Mit dieser Frage versuchte sie, ihre innere Unruhe zu verdrängen.
»Weil man sich für Geburtstagsfeiern halt schick macht, Süße. Aber du wirst sie heute mit Sicherheit alle toppen, glaub mir.«
»Wenn ich mir dabei nur nicht die Haxen breche, bei den Schuhen«, gab sie missmutig zurück.
»Ach, das schaffst du schon.«
»Du hast gut reden, mit deinen Turnschuhen. Das ist so ungerecht!«, schimpfte sie. »Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Und diese Strümpfe, oh Gott!«
»Also gut, Süße. Das mit den Schuhen sehe ich ja ein. Ich wollte eigentlich bis zu Hause warten, aber ich sag’s dir besser gleich, damit du nicht ganz so sauer auf mich bist. Ich hab nämlich schon schwarze Treter im Schrank stehen. Es hat mir nur so einen Riesenspaß gemacht, wie die Verkäuferin derart verzweifelt versucht hat, mich von den Schuhen zu überzeugen.« Annas Augen weiteten sich bedrohlich. »Ich hab die blöden Dinger nur einmal getragen«, setzte er schnell fort. »Viktoria hatte sie gekauft und drauf bestanden, dass ich die zum Notar anziehe. Du weißt schon, wegen des Hauskaufs.«
Anna war nach wie vor ziemlich erbost, doch Viktor lächelte sie an.
»Anna, du weißt doch, was ich von Schuhen halte. Die meisten Elfen frieren nicht so schnell und Schuhe engen ein. Das ist ein elfisches Erbe von Vitus an mich. Aber, keine Bange, wenn du High Heels trägst, ziehe ich selbstverständlich auch schicke Schuhe an.«
»Und die Seidenstrümpfe und dieser andere Hauch von Nichts? Was ist damit?« Sie machte ein strenges Gesicht.
»Okay, okay, das geht auf mein Konto.« Er gab sich zerknirscht. »Ich war wohl ein bisschen egoistisch, was das betrifft.«
Nun war es an Anna, breit zu grinsen. »Na, wenigstens gibst du es zu. Aber eines ist dir hoffentlich klar, mein Prinz: Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mit dir shoppen war. Beim allerkleinsten Anzeichen für einen Einkaufsmarathon laufe ich schreiend davon.«
Nachdenklich zog sie die Stirn kraus.
»Wie laufe ich eigentlich weg, wenn ich bei Viktor im Reetdachhaus bin? Wohin? Fünfzig Kilometer! Und durch den Wald komme ich doch gar nicht.«
Auch Viktor runzelte die Stirn, konzentrierte sich dabei weiter auf die Straße. Trotzdem hatte er augenscheinlich mitbekommen, was Anna dachte, weil sie wieder einmal schneller im Denken als im Sichern gewesen war.
»Stimmt, du solltest wirklich wissen, wie du durch die Eingänge, Portale und Schutzbarrieren kommst. Ich werde das mit Vitus besprechen. Da muss es eine Möglichkeit geben.«
»Eine Möglichkeit?«
»Na ja, eigentlich verstößt es gegen die elfischen Gesetze, einem Menschen die Schlüssel zu überlassen. Das liegt ja wohl auf der Hand.«
Bis zu diesem Moment hatte Anna sich nie Gedanken darüber gemacht. Überhaupt hatte sie in letzter Zeit wenig über die Elfen nachgedacht. Nach der ganzen Aufregung um Kana und Kaoul hatte sie ihre Neugierde sozusagen auf Eis gelegt, wollte einfach nur mit Viktor zusammen sein. Alles andere erschien ihr zweitrangig. Jetzt aber drängten sich ihr die Fragen regelrecht auf.
»Das liegt also auf der Hand?«, hakte sie nach.
»Klar, die Elfenwelt ist für Menschen sozusagen tabu. Für gewöhnlich möchten Elfen unter sich sein.« Er lachte. »Vitus war seinerzeit wohl eine Ausnahme.«
Weil er kurz verstummte, erkannte sie, dass ihn das Gespräch gedanklich zu seiner ihm unbekannten verstorbenen Mutter getragen hatte, weshalb sie ihm mitfühlend mit dem Handrücken über die Wange strich.
»Menschen sind nicht immer friedlich«, fuhr Viktor ernst fort, »und viele sind gewinnsüchtig. Wenn sie von unserer Welt erführen, würde die kurz über lang von Goldgräbern und Glücksrittern überschwemmt werden.«
»Na ja, an sich gebe ich dir recht. Allerdings sind auch nicht alle Elfen friedliebend, wie wir neulich erst erfahren mussten.«
»Das stimmt natürlich. Allerdings kämpfen wir lieber nur an einer ›Böse-Elfen-Front‹. Schließlich sind die Wachen dafür ausgebildet. Es zusätzlich mit der gesamten Menschheit aufzunehmen, das wäre allerdings so gut wie unmöglich. Gegenüber den Menschen ist die Anzahl der Elfen geradezu verschwindend gering. Deshalb ist es Gesetz, den Menschen die Existenz der Elfen zu verschweigen. Weil Vitus damals selbst dagegen verstoßen hat, hat er die Regeln hierzu ein wenig gelockert. Doch es obliegt nach wie vor seiner alleinigen Erlaubnis, ob Elfen mit Menschen verkehren dürfen. In den anderen Reichen wird es ähnlich gehandhabt. Tja, also werden wir ihn wegen der Schlüssel zur Elfenwelt fragen müssen.«
»Aber du hast ihn doch gar nicht um Erlaubnis gefragt, als du mir von dir erzählt und mich zur Elfenlichtung mitgenommen hast. Ach ja, und was sind das für Schlüssel?«
»Erstens: Ich bin ein halber Mensch. Vergiss das nicht, Anna. Deshalb verschwimmen die Grenzen bei den Regeln und Normen bei mir ein bisschen. Außerdem wusste ich von Anfang an, dass das Geheimnis bei dir sicher ist.«
Er verzog seinen schönen Mund zu einem Schmunzeln. »Bis auf deinen Ausrutscher bei deinem Bruder, doch Jens gehört ja quasi mit dazu. Und zweitens: Die Schlüssel sind mit Codes vergleichbar, verbunden durch Gedanken und Worte. Jeder Eingang hat seinen eigenen. So wie man verschiedene Passwörter und Pin-Nummern für den Computer, Online-Shops oder für Konten und Kredit- oder Scheckkarten braucht.«
»Das klingt ganz schön kompliziert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann und so einer Verantwortung gewachsen bin.«
Viktor schüttelte den Kopf. »Das ist wieder mal typisch für dich. Du bist so ziemlich der schlauste Mensch, den ich kenne, auch wenn deine blöden Lehrer anderer Meinung sind, jedenfalls ein paar davon. Aber du glaubst wieder mal, du kannst das nicht.« Er machte eine Pause und setzte den Blinker, um von der Autobahn abzufahren. »Wieso solltest du es nicht können, wenn Viktoria und ich es können, he? Deine Fähigkeiten sind fast genauso ausgebildet wie unsere, wenn nicht sogar gleich.«
Sie wurde rot, als er sagte, dass er sie für schlau hielt, und atmete tief durch. »Na ja, vielleicht hast du ja recht. Aber du fragst Vitus nicht heute, nicht an seinem Geburtstag, ja?«
»Nein, nicht heute. Doch später werden wir ihn fragen, gemeinsam.«