Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 5

Ge­dan­ken

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Kon­zen­tra­ti­on ist die Ein­en­gung der Ge­dan­ken­gän­ge auf ei­ne be­stimm­te Sa­che. Das war an­schei­nend das Pro­blem: die Ein­en­gung und die be­stimm­te Sa­che. Es woll­te ihr nicht ge­lin­gen, die­sem sim­plen Grund­satz nach­zu­kom­men.

An­na Nell saß in ih­rem Zim­mer und ver­such­te sich an dem Bio­lo­gie­re­fe­rat, das sie am kom­men­den Mon­tag im Un­ter­richt hal­ten soll­te. Doch es fiel ihr schwer, sich dar­auf zu kon­zen­trie­ren. Im­mer wie­der schweif­ten ih­re Ge­dan­ken ab, dreh­ten sich um ih­ren Freund Vik­tor und um die Ge­scheh­nis­se der letz­ten Wo­chen.

Ge­dan­ken­ver­lo­ren schau­te sie sich in dem neu­ge­stal­te­ten Raum um, tipp­te mit dem Stift auf die Schreib­tisch­plat­te. Erst vor ein paar Wo­chen hat­te ihr Va­ter das Zim­mer ganz nach ih­ren Wün­schen re­no­viert. Auch den neu­en Schreib­tisch hat­te er selbst ge­baut. Für ihn als Schrei­ner­meis­ter war das wahr­schein­lich kei­ne gro­ße Sa­che. Aber An­na spür­te sehr wohl, wie viel Lie­be er in all die klei­nen De­tails ge­steckt hat­te. Ge­nau wie in das ge­sam­te Zim­mer, das sie sich mit ih­rer zwei Jah­re äl­te­ren Schwes­ter Le­na teil­te.

Zur­zeit konn­te An­na es samt Schreib­tisch und al­ters­schwa­chem Com­pu­ter für sich al­lein be­an­spru­chen, um in Ru­he ih­re Schul­auf­ga­ben zu er­le­di­gen, denn Le­na be­fand sich bei der Ar­beit. Sie ab­sol­vier­te ei­ne Aus­bil­dung zur Fri­seu­rin, ih­rem Wunsch­be­ruf. Nichts für mich, dach­te An­na, aber für Le­na ge­nau das Rich­ti­ge.

Der Ge­dan­ke an die gro­ße Schwes­ter ent­lock­te ihr ein klei­nes Schmun­zeln, weil die sich mit ih­ren neun­zehn Jah­ren nun end­lich von den al­ten Boy-Band-Pos­tern aus der Bra­vo ver­ab­schie­det hat­te. Die Grou­pie-Zeit hat­te bei Le­na halt ziem­lich lan­ge an­ge­dau­ert. Jetzt aber strahl­ten die Wän­de in frisch ge­stri­che­nem Weiß, das nur hier und da von ein paar son­nen­gel­ben Ak­zen­ten un­ter­bro­chen wur­de.

Über An­nas Bett hing ein gro­ßes Ge­mäl­de, wel­ches Vik­tors Zwil­lings­schwes­ter ihr zum sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt hat­te. Je­der, der das Zim­mer be­trat, wur­de au­gen­blick­lich von dem selbst­ge­mal­ten Bild ma­gisch in den Bann ge­schla­gen. Von sei­nem un­wi­der­steh­li­chen Char­me, den fan­tas­ti­schen Fa­r­ben und dem mys­ti­schen Mo­tiv mit den zwei Son­nen, die wie selbst­ver­ständ­lich in ver­ein­ter Um­ar­mung hin­ab auf einen plät­schern­den Bach in ei­ner traum­haft hel­len Lich­tung schie­nen. Au­ßer An­na und ihr Bru­der wuss­te in der Fa­mi­lie nie­mand, dass die­se Lich­tung, bis auf die zwei­te Son­ne, kei­nes­wegs ei­ner Fan­ta­sie ent­sprang.

Bei der Er­in­ne­rung an ih­ren Ge­burts­tag spiel­te An­na ver­son­nen mit der Ket­te, an wel­cher das weiß­gol­de­ne Me­dail­lon mit den hell­blau­en Sa­phi­ren am Rand und den im In­nern ein­gra­vier­ten zwei Son­nen hing. Vik­tor hat­te es ihr ge­schenkt, eben zu je­nem sieb­zehn­ten Ge­burts­tag. Dem wun­der­ba­ren Tag, an dem sie mit ihm zum ers­ten Mal …

So­fort flat­ter­te es in ih­rem Bauch. Zu An­nas Leid­we­sen er­ging es ihr häu­fig so, was ihr re­gel­mä­ßig Pro­ble­me be­rei­te­te, sich auf die Haus­a­r­bei­ten zu kon­zen­trie­ren. Des­halb at­me­te sie er­neut kräf­tig durch.

Doch an­statt end­lich wei­ter an dem Skript zu ar­bei­ten, glitt ihr Blick zum Fens­ter mit den duf­tig zar­ten wei­ßen Or­gan­za­gar­di­nen und den blick­dich­ten cre­me­fa­r­be­nen Vor­hän­gen an der Sei­te. Sie hin­gen dort erst seit dem gest­ri­gen Abend und lie­ßen den Raum sehr viel grö­ßer und hel­ler er­schei­nen als vor­her. Le­na hat­te zu­erst ein biss­chen ge­mault, weil er abends nicht mehr so gut ab­zu­dun­keln wä­re wie mit den al­ten dun­kel­brau­nen Che­nil­le­vor­hän­gen, fand aber das Ge­samt­bild über­zeu­gend. Ty­pisch für ih­re lie­bens­wür­di­ge und un­kom­pli­zier­te Schwes­ter, mein­te An­na.

Schließ­lich schnitt sie wie­der ein­mal den Fa­den zu ih­ren Tag­träu­me­rei­en ab und beug­te sich vom Schreib­tisch­stuhl weit in Rich­tung ih­rer am Bett ste­hen­den Schul­ta­sche hin­un­ter, um sich das Bio-Buch zu an­geln, oh­ne da­bei auf­ste­hen zu müs­sen. Da­bei pur­zel­te sie fast von dem ur­al­ten Stuhl mit Mi­ckey-Mou­se-De­sign, so kip­pel­te der.

Höchs­te Zeit für den wei­ßen hö­hen­ver­stell­ba­ren Pols­ter-Stuhl, den sie sich an­schaf­fen woll­te, über­leg­te sie. Aber ihr Er­spar­tes reich­te noch nicht ganz da­für. So lan­ge durf­te sich Mi­ckey Mou­se noch ei­ner Gna­den­frist er­freu­en, be­vor sie im Sperr­müll ihr En­de fin­den wür­de.

An­na stör­te es nicht son­der­lich, dass ih­re El­tern mehr mit dem Geld haus­hal­ten muss­ten als an­de­re Leu­te. Des­halb mach­te es ihr auch nichts aus, selbst für den neu­en Stuhl auf­kom­men zu müs­sen.

Nur ih­re ei­ge­ne Mit­tel­mä­ßig­keit wa­rf sie manch­mal aus der Bahn. Vik­tor be­haup­te­te zwar be­harr­lich, dass ge­ra­de sie et­was ganz Be­son­de­res wä­re, und schwor so­gar Stein und Bein dar­auf. Doch nag­ten im­mer wie­der Zwei­fel an ihr und ver­un­si­cher­ten sie mit Fra­gen, wie zum Bei­spiel, wes­we­gen je­mand wie er Ge­fal­len an je­man­den wie ihr fin­den konn­te. Nach An­nas Da­für­hal­ten war er nicht nur viel at­trak­ti­ver als sie selbst, son­dern auch tat­säch­lich et­was ganz Be­son­de­res, weil er nur zur Hälf­te ein Mensch war.

Sie lä­chel­te ver­gnügt bei der Vor­stel­lung, ih­re El­tern und Le­na wür­den er­fah­ren, dass Vik­tors Va­ter, an­statt über ein rie­si­ges Fir­men­im­pe­ri­um in Ame­ri­ka zu herr­schen, in Wirk­lich­keit ein wasch­ech­ter Kö­nig war. Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches, wel­ches di­rekt ne­ben der Welt der Men­schen exis­tier­te. Au­ßer ihr kann­te in der Fa­mi­lie nur noch ihr zwan­zig­jäh­ri­ger Bru­der Jens das Ge­heim­nis.

An­na schüt­tel­te hef­tig den Kopf, weil sie im Geis­te schon wie­der zu Vik­tor ab­drif­te­te, und rief sich da­her leicht ver­är­gert zur Rä­son. Am En­de wür­de die­ses un­säg­li­che Re­fe­rat doch nicht fer­tig, be­vor Vik­tor sie fürs rest­li­che Wo­chen­en­de ab­hol­te.

Sie leg­te den Stift zur Sei­te, rück­te ih­re Bril­le zu­recht und rutsch­te ein we­nig vor, um auf dem Bild­schirm ih­ren bis­lang ver­fass­ten Text durch­zu­ge­hen. Er­neut wa­ckel­te und kip­pel­te es ver­däch­tig un­ter ih­rem Po, was al­ler­dings statt Ver­är­ge­rung nur Vor­freu­de auf den neu­en Stuhl her­vor­rief.

Sie wür­de mit Le­na re­den müs­sen, dass künf­tig auf kei­nen Fall eins ih­rer Haa­r­fär­be­mo­del­le dar­auf Platz neh­men dürf­te. Le­n­as Fa­rb­ex­pe­ri­men­te hat­ten so man­chen häss­li­chen Fleck auf Mi­ckey Mou­se hin­ter­las­sen. So et­was woll­te An­na für die Zu­kunft tun­lichst ver­mei­den. Mit dem schi­cken wei­ßen und zu­dem fle­cken­lo­sen Stuhl wür­de das Zim­mer in ih­ren Au­gen per­fekt aus­se­hen. Na­tür­lich nicht so per­fekt wie Vik­tors.

Sie seufz­te und nahm re­si­gniert die Fin­ger von der Ta­s­ta­tur, weil sie schon wie­der an ihn dach­te und ihr das Schrei­ben da­durch schwer­fiel.

Wenn sie sich nicht all­mäh­lich be­eil­te, wür­de das nichts mehr mit dem Re­fe­rat. Au­ßer­dem be­fürch­te­te sie, Vik­tor könn­te be­mer­ken, was in ih­rem Kopf vor sich ging. Ob­wohl er nur ei­ne Hal­bel­fe war, hat­te er sei­ne em­pa­thi­schen und te­le­pa­thi­schen Fä­hig­kei­ten in der letz­ten Zeit der­art ver­fei­nert, dass sie ih­re Ge­dan­ken- und Ge­fühls­welt kaum noch vor ihm ver­ber­gen konn­te.

Zwar war auch sie in­zwi­schen in der La­ge, sei­ne Ge­dan­ken zu er­spü­ren, aber so wie ihm wür­de es ihr wohl nie­mals ge­lin­gen. Es grenz­te oh­ne­hin an ein Wun­der, dass sie und so­gar Jens über solch el­fi­sche Ga­ben ver­füg­ten.

Bis­lang hat­te sie über den Grund da­für kaum nach­ge­dacht. Auch jetzt fehl­te die Zeit da­zu. Al­so straff­te sie end­gül­tig die Schul­tern, um sich dem Re­fe­rat zu wid­men und noch da­zu den Geist vor ih­rem heiß­ge­lieb­ten Freund zu ver­schlie­ßen.

Zu spät! Das war An­na be­reits klar, noch ehe sie Vik­tors Samt­stim­me im Kopf ver­nahm.

»Es heißt Phy­sio­lo­gie nicht Py­sio­lo­gie, An­na. Du ver­schreibst dich je­des Mal bei die­sem Wort«, ta­del­te er sie.

An­na ver­dreh­te lä­chelnd die Au­gen.

»Klar, dass du dich wie­der ein­mi­schen musst, du Bes­ser­wis­ser. Das Recht­schreib­pro­gramm fin­det das so­wie­so her­aus und ich kor­ri­gie­re es zum Schluss. Jetzt raus aus mei­nem Kopf, so­fort, sonst sit­ze ich mor­gen noch hier!«

»Nicht so schnell, nicht so schnell, Sü­ße. Du hast schließ­lich an­ge­fan­gen, an un­ser Ers­tes Mal zu den­ken. Du kannst doch nicht von mir er­war­ten, dass ich mich aus­ge­rech­net da zu­rück­hal­te. Au­ßer­dem ha­be ich schon wie­der was von Mit­tel­mä­ßig­keit mit­be­kom­men. Du weißt, dass mich das sau­er macht, An­na. Ich fin­de, ich soll­te ganz schnell zu dir kom­men und dich vom Ge­gen­teil über­zeu­gen. Los, An­na, lass mich dir hel­fen, dann bist du schnel­ler fer­tig, bit­te, bit­te.«

»Vik­tor Mül­ler, du sollst nicht stän­dig in mei­nem Hirn her­um­wu­seln! Das schickt sich nicht! Warst du nicht der­je­ni­ge, der sei­nem Va­ter letz­tens erst was von Takt und Zu­rück­hal­tung er­zählt hat? Al­so bit­te, ver­schwin­de aus mei­nem Kopf und komm frü­hes­tens in ei­ner Stun­de als ge­stalt­li­cher Hal­bel­fe zu mir, ver­stan­den?«

»Men­no!«

An­na lach­te. Ei­gent­lich soll­te sie sich dar­über är­gern, dass er stän­dig ih­re Pri­vat­sphä­re ver­letz­te. De­ment­ge­gen freu­te sich eher und konn­te ihm we­gen sei­ner klei­nen Ge­dan­ke­n­at­ta­cken nie bö­se sein.

***

Vik­tor saß zu Hau­se an sei­nem Lap­top und grins­te ver­gnügt in sich hin­ein. An­na konn­te ein­fach ih­ren Geist nicht ge­nü­gend ver­schlie­ßen, um sich ge­gen ihn ab­zu­schir­men, ins­be­son­de­re, wenn sie an ih­ren Haus­auf­ga­ben ar­bei­te­te. Es be­rei­te­te ihm rie­si­gen Spaß, dann im­mer mal wie­der nach­zu­schau­en, was sich in ih­rem hüb­schen Köpf­chen ab­spiel­te.

Dass An­nas Über­le­gun­gen häu­fig um ihr ge­mein­sa­mes »Ers­tes Mal« kreis­ten, freu­te ihn be­son­ders. Ihm ging es ja ge­nau­so. An­ders al­ler­dings emp­fand er die Sa­che mit ih­rem man­geln­den Selbst­wert­ge­fühl. Dar­an ar­bei­te­te er schon, seit er sie da­mals im Wald an­ge­spro­chen hat­te. Har­te Ar­beit, wie er fand.

Aber jetzt hat­te sie na­tür­lich recht. Sie muss­te ihr Re­fe­rat fer­tig schrei­ben. Al­so ließ er sie schwe­ren Her­zens in Ru­he und trös­te­te sich mit der Aus­sicht, sie in ei­ner Stun­de zu se­hen.

Da aber so ei­ne Stun­de ganz schön lang wer­den konn­te, über­leg­te er, was er in die­ser Zeit un­ter­neh­men soll­te.

Ei­gent­lich müss­te auch er sich um ernst­haf­te Din­ge küm­mern, denn er woll­te sich in der Welt der Men­schen be­haup­ten und hat­te sich da­zu durch­ge­run­gen, an der Uni Düs­sel­dorf ein Stu­di­um zu be­gin­nen.

Zwar war sein High-School-Ab­schluss­zeug­nis in Wirk­lich­keit nur so viel wert wie die Fa­r­be auf dem Pa­pier, aber es ge­nüg­te, um in der Men­schen­welt die er­for­der­li­che Schul­aus­bil­dung nach­zu­wei­sen. Das hieß na­tür­lich nicht, er und sei­ne Zwil­lings­schwes­ter Vik­to­ria hät­ten in der El­fen­welt über­haupt kei­ne Bil­dung ge­nos­sen. Ganz im Ge­gen­teil, sie wa­ren dort jah­re­lang in­ten­siv so­wohl in el­fi­schen als auch in mensch­li­chen Din­gen un­ter­rich­tet wor­den.

Estra und Isi­nis, ihr On­kel und ih­re Tan­te, hat­ten sich ge­ra­de­zu über­schla­gen, wenn es dar­um ging, ih­nen mensch­li­che Wis­sen­schaf­ten und Kennt­nis­se, auch in Kunst und Li­te­ra­tur, na­he­zu­brin­gen. Da­bei gin­gen die bei­den stets selbst in ih­rer Wiss­be­gier­de auf und lie­ßen sich im ei­ge­nen Un­ter­richt so man­ches Mal zu stau­nen­den »Oh’s« und »Ah’s« hin­rei­ßen.

Vik­tor lieb­te sei­ne Zieh­el­tern von gan­zem Her­zen, wa­ren Vik­to­ria und er doch bis zu ih­rem acht­zehn­ten Le­bens­jahr bei ih­nen auf­ge­wach­sen und eben­so lie­be­voll be­han­delt wor­den wie de­ren drei ei­ge­nen Kin­der.

Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit be­ka­men die Zwil­lin­ge ih­ren Va­ter, Kö­nig Vi­nie­stra Tus­te­rus, ge­nannt Vi­tus, höchs­tens ein paar Mal im Jahr zu Ge­sicht und zu­dem des­sen äu­ßerst re­ser­vier­tes Ver­hal­ten re­gel­mä­ßig zu spü­ren.

Erst vor un­ge­fähr zwei­ein­halb Mo­na­ten er­fuh­ren sie end­lich den Grund da­für, den Grund für die ei­gen­ar­ti­ge Zu­rück­hal­tung des Va­ters. Bis da­hin ahn­ten sie nicht, wel­cher Be­dro­hung Vi­tus seit dem Tod sei­ner El­tern und sie selbst seit ih­rer Ge­burt aus­ge­setzt wa­ren. Ja, sie hat­ten nicht ah­nen kön­nen, wie ver­zwei­felt Vi­tus all die Zeit, seit dem Tod ih­rer Mut­ter, ver­sucht hat­te, Un­heil von ih­nen fern­zu­hal­ten. Größ­tes Un­heil, das ihn aus der Ver­gan­gen­heit ver­folg­te und sei­ne Kin­der zu ver­schlin­gen droh­te:


… Vi­tus lern­te als jun­ger Thron­er­be des west­li­chen El­fen­rei­ches die zau­ber­haf­te und ein Jahr jün­ge­re El­fen­prin­zes­sin ei­nes an­de­ren Lan­des ken­nen. Er ver­sprach ihr – ge­blen­det von ih­rer Schön­heit und mit dem Se­gen bei­der El­tern­paa­re – die Ehe. Da­mals war er erst vier­zehn Jah­re alt und er­kann­te nicht, dass die gan­ze Sa­che ein ein­zi­ges Rän­ke­spiel des an­de­ren Kö­nigs­hau­ses war, nur um de­ren Reich zu ver­grö­ßern. Als er vier Jah­re spä­ter ent­deck­te, welch ver­schla­ge­n­er, bös­ar­ti­ger Cha­rak­ter sich hin­ter der wun­der­schö­nen Fas­sa­de der Prin­zes­sin Ka­na ver­barg, war es zu spät. Ka­na dach­te gar nicht dar­an, ihn von der schon bald ge­plan­ten Hoch­zeit zu ent­bin­den.

Der­weil ver­lieb­te sich Vi­tus un­s­terb­lich in ei­ne Men­schen­frau mit dem Na­men Ve­ro­ni­ka Mül­ler. Er lieb­te sie so sehr, dass er nur mit ihr und sei­nem un­ge­bo­re­nen Kind, wel­ches sie un­ter dem Her­zen trug, le­ben woll­te und brach des­halb oh­ne Zö­gern sein Ehe­ver­spre­chen.

Aus pu­rer Ra­che tö­te­ten Ka­na und ih­re Fa­mi­lie dar­auf­hin Vi­tus’ El­tern mit­hil­fe ei­ner ur­al­ten, grau­sa­men Macht, der Nu­urt­ma. Es hät­ten wohl noch mehr El­fen den Tod ge­fun­den, wä­re Vi­tus nicht da­mals schon auf­grund sei­ner au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fä­hig­kei­ten in der La­ge ge­we­sen, die­se Macht ei­gen­hän­dig ins Exil zu ver­ban­nen.

Dann muss­te Vi­tus den Thron über­neh­men. Zu al­le­dem sta­rb auch noch Ve­ro­ni­ka di­rekt nach der Ge­burt der Zwil­lin­ge. Ka­na schwor wei­te­re Ra­che, woll­te ihm sei­ne Kin­der neh­men und sie tö­ten.

Vi­tus hat­te in schnel­ler Fol­ge zu­erst sei­ne El­tern und dann sei­ne gro­ße Lie­be ver­lo­ren. Dar­über hin­aus sah er sich ge­zwun­gen, die ge­lieb­ten Kin­der in die Ob­hut des Bru­ders zu ge­ben, da­mit sie bei ihm, in­ner­halb des El­fen­rei­ches, be­hü­tet auf­wach­sen konn­ten.

All die Jah­re be­wach­te er Tag für Tag ru­he­los die Gren­zen sei­nes Rei­ches, al­lein in der Hoff­nung, auf die­se Art sei­ne Fa­mi­lie be­schüt­zen zu kön­nen.

Trotz die­ser Vor­keh­run­gen war und blieb Ka­na ei­ne ste­ti­ge Be­dro­hung und hol­te sich zu­dem die Hil­fe ei­nes düs­te­ren El­fen­zau­be­rers. …


Bei der Er­in­ne­rung dar­an, dass die­se rach­süch­ti­ge Frau das Le­ben sei­nes Va­ters fast ru­i­niert und sei­ner Schwes­ter und ihm, nicht zu­letzt so­gar An­na und de­ren Mut­ter, den Tod brin­gen woll­te, schwoll in Vik­tor maß­lo­se Wut an. Die­se Wut ball­te sei­ne Hän­de zu Fäus­ten, stau­te sich in sei­ner Keh­le und schrie nach Ent­la­dung.

»Hey nicht, Vik­tor.« Zwei schlan­ke Ar­me um­schlan­gen sei­ne Schul­tern. »Ka­na ist tot, nur noch ein Häuf­chen Asche, tief ver­gra­ben im Wald. Sie hat be­kom­men, was sie ver­dien­te, ge­nau wie ihr ekel­haf­ter Zau­ber­freund Kaoul.« Vik­to­ria gab ihm einen Kuss auf die Wan­ge. »Grü­b­le nicht so viel dar­über. Wir ha­ben ih­nen den Garaus ge­macht und es ist vor­bei. Lass es end­lich hin­ter dir. Schieb dei­ne dunk­len Ge­dan­ken bei­sei­te. Selbst Vi­tus ist wie­der in der La­ge, fröh­lich zu sein, manch­mal je­den­falls.«

Sie beug­te sich zu ihm und blick­te ihn aus dun­kel­blau­en Au­gen, die sei­nen so äh­nel­ten, mil­de lä­chelnd an. »Au­ßer­dem ver­passt du dein Date mit An­na, wenn du dich nicht bald in Be­we­gung setzt. Ich dach­te, du willst sie heu­te mit dem Au­to ab­ho­len. Höchs­te Zeit, dass du los­fährst.«

»Nein, An­na hat ge­sagt, sie hät­te kei­ne Lust auf Au­to­fah­ren. Hhm, ich glau­be, ich fah­re ihr zu schnell. Kann das sein?«

Bei die­ser Fra­ge lach­te Vik­to­ria hell auf. Zwei Grüb­chen zeig­ten sich auf ih­ren Wan­gen, so wie bei ihm, wenn er lach­te. »Tja, mein Bru­der­herz, das könn­te durch­aus mög­lich sein. Ich neh­me an, du hast die­se In­fo di­rekt aus An­nas Köpf­chen, denn das hät­te sie dir ge­gen­über be­stimmt nie zu­ge­ge­ben.«

»Ja, kann schon sein. Ach egal, dann ho­le ich sie halt durchs Por­tal im Wald hier­her. Wir kön­nen ja im­mer noch ein biss­chen weg­fah­ren.«

»Na al­so, dann lass uns run­ter­ge­hen. Da ha­ben wir ja noch ge­nü­gend Zeit für ei­ne Tas­se Kaf­fee.«

»Wo ist Ke­tu ei­gent­lich? Hat er Wo­chen­end­dienst?«, er­kun­dig­te sich Vik­tor, als sie die Trep­pe hin­un­ter­gin­gen.

»Nein, er hat frei.« Sie räus­per­te sich. »Aber er kommt erst spä­ter, weil er sich vor­her mit Si­stra trifft. Sie wol­len noch bei ih­ren El­tern vor­bei­schau­en.«

Vik­to­ria hielt die Li­der ge­senkt, so, als woll­te sie et­was ver­ber­gen. Doch bei ih­rem Bru­der hat­te sie mitt­ler­wei­le so gut wie kei­ne Chan­ce mehr, ein Ge­heim­nis zu wah­ren. Selbst wenn er nicht ih­re Ge­dan­ken er­forsch­te, reich­te ein Blick in ihr Ge­sicht. Die­ses schma­le Ge­sicht, das sei­nem so ähn­lich sah, stell­te er nach ei­nem prü­fen­den Blick wie­der ein­mal fest:

Sei­ne Zwil­lings­schwes­ter glich ihm sehr, mit den fei­nen Zü­gen, den gro­ßen dun­kel­blau­en Au­gen und dem brau­nen Haar. Nur Vik­tors Lo­cken wur­den zu­sätz­lich von fei­nen ma­ha­go­ni­fa­r­be­nen Sträh­nen durch­zo­gen.

Vik­to­ria strahl­te al­ler­dings ei­ne char­man­te Weib­lich­keit aus, die auch nicht durch den kur­z­en fre­chen Haar­schnitt, den sie erst seit ein paar Mo­na­ten trug, ge­min­dert wur­de. Sie war groß und schlank, ei­ne ty­pisch el­fi­sche Ei­gen­schaft, und gleich­zei­tig mit an­spre­chen­den, fe­mi­ni­nen Kur­ven ge­seg­net.

Da Vik­tor sei­ne Schwes­ter über al­le Ma­ßen lieb­te, konn­te er es nicht er­tra­gen, sie trau­rig zu se­hen. Er zog sei­ne ge­ra­den Brau­en zu­sam­men, wohl­wis­send, dass sich da­durch ei­ne klei­ne stei­le Fal­te auf sei­ner Stirn bil­de­te.

»Hat er dich im­mer noch nicht zu sei­nen El­tern ein­ge­la­den?«

Als Vik­to­ria dies stumm be­stä­tig­te, schüt­tel­te er er­bost den Kopf. »Was für ein Horn­och­se! Sei­ne El­tern wer­den doch längst wis­sen, dass er mit der Prin­zes­sin zu­sam­men ist. Manch­mal ver­ste­he ich ihn nicht. – Ach, komm schon, lass dich da­durch nicht ent­mu­ti­gen. Er liebt dich, das weißt du doch. Den Rest kriegt er auch noch hin. Und wenn sein Kö­nig ihm per­sön­lich in den Arsch tre­ten muss, um ihm zu ver­deut­li­chen, dass er als so­ge­nann­ter ein­fa­cher Wach­mann die Kö­nigs­toch­ter lie­ben darf.«

Mit ei­nem Schmun­zeln sprach er wei­ter: »Und wenn Vi­tus das nicht bald tut, dann eben ich. Jens hilft mir si­cher ger­ne da­bei.«

Nun muss­te sie la­chen. »An­nas Bru­der ist ziem­lich gut dar­in, an­de­ren in den Arsch zu tre­ten. Es dürf­te lus­tig sein, ihm da­bei zu­zu­se­hen.«

»Sag ich doch.«

Er nahm sei­ne Schwes­ter lie­be­voll in den Arm und ging dann mit ihr Hand in Hand in die Kü­che.

***

»An­na, kommst du? Vik­tor ist da!«, rief The­resa.

»Ja, Ma­ma, bin gleich da!«

Schnell wa­rf sie einen letz­ten prü­fen­den Blick in den Spie­gel.

Das gold­blon­de Haar fiel ihr glatt und glän­zend über die Schul­ter und die hell­blau­en Au­gen leuch­te­ten re­gel­recht hin­ter der schlich­ten Bril­le. Ih­re Haut schim­mer­te hell und ma­kel­los.

Na ja, wenn die Bril­le nicht wä­re, gin­ge es ja ei­gent­lich, mein­te sie, ob­wohl sie sich et­was zu dick für ih­re ge­rin­ge Grö­ße von einen Me­ter drei­und­fünf­zig fand und des­halb lei­der ver­geb­lich ver­such­te, drei von den ein­und­fünf­zig Ki­los los­zu­wer­den.

Dann wa­ren da noch ih­re Zäh­ne, die moch­te sie auch nicht. An­na muss­te un­will­kür­lich ki­chern, als ihr wie­der ein­fiel, wie Vik­tor des­we­gen letz­tens Zahn­a­rzt mit ihr ge­spielt hat­te, nur um von ihr zu er­fah­ren, wel­che Zäh­ne denn an­geb­lich schief ste­hen wür­den. Sie hat­te sie ihm ge­zeigt. Doch er hat­te nur ge­lacht, sie für ker­zen­ge­ra­de und blen­dend­weiß be­fun­den und zu­dem ih­ren Mund, nach ei­nem lan­gen, da­hin­schmel­zen­den Kuss, be­zau­bernd ge­nannt.

Die Er­in­ne­rung dar­an und an das, was dar­auf ge­folgt war, ließ ihr Herz wild klop­fen und den Atem sto­cken.

»Nur die Ru­he, An­na!«

Sie schnauf­te ein­mal kräf­tig durch, ver­ließ ihr Zim­mer und strahl­te Vik­tor an, muss­te al­ler­dings er­ken­nen, dass er be­reits mit­be­kom­men hat­te, was ihr vorm Spie­gel durch den Kopf ge­gan­gen war. Amü­siert hob er ei­ne Braue und lä­chel­te schief. An­nas Herz er­litt bei die­sem An­blick nach wie vor Aus­set­zer.

»Tief durch­at­men!«

»Hal­lo, An­na, du siehst heu­te aber wie­der zum An­bei­ßen aus.« The­resa noch ein­mal freund­lich zu­ni­ckend ging Vik­tor zu sei­ner Freun­din, um sie zu um­ar­men und ihr einen kur­z­en sü­ßen Kuss zu ge­ben. Da­bei strich er mit sei­nem Dau­men ganz zart über ih­re Wan­ge.

»Noch­mal: Tief durch­at­men!«

»Ich brin­ge euch An­na über­mor­gen wohl­be­hal­ten zu­rück, ver­spro­chen«, ver­si­cher­te er The­resa.

»Das weiß ich, Vik­tor. Wie wä­re es, wenn ihr am Sonn­tag schon zum Mit­tag­es­sen kom­men wür­det? Dann hät­ten wir die­ses Wo­chen­en­de auch ein we­nig von euch, ehe Jo­han­nes und ich nächs­ten Frei­tag auf die In­sel fah­ren.«

»Das klingt toll, nicht wahr, An­na?«

»Ja klar. Hab ich dir doch ge­sagt, Ma­ma, dass Vik­tor das gut fin­den wird.«

Sie um­arm­te ih­re Mut­ter und küss­te sie auf den Mund. »Al­so, Tschö. Gib Pa­pa was von dem Kuss ab und grüß Le­na, Jens und Sil­vi. Ich hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb. Tschö, En­gel­chen.«

Auch Vik­tor nahm The­resa zum Ab­schied in den Arm und küss­te sie auf bei­de Wan­gen. Da­nach sah er sie noch ein­mal an. »Schön, dass du wie­der ge­sund bist, The­resa. Man sieht rich­tig, wie gut es dir mitt­ler­wei­le geht. Das freut mich. Auf Wie­der­se­hen oder auch Tschö, wie ihr hier so ger­ne sagt.«

»Dan­ke, Vik­tor, das ist sehr lieb von dir. Tschö.«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 2

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