Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 5
Gedanken
ОглавлениеKonzentration ist die Einengung der Gedankengänge auf eine bestimmte Sache. Das war anscheinend das Problem: die Einengung und die bestimmte Sache. Es wollte ihr nicht gelingen, diesem simplen Grundsatz nachzukommen.
Anna Nell saß in ihrem Zimmer und versuchte sich an dem Biologiereferat, das sie am kommenden Montag im Unterricht halten sollte. Doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, drehten sich um ihren Freund Viktor und um die Geschehnisse der letzten Wochen.
Gedankenverloren schaute sie sich in dem neugestalteten Raum um, tippte mit dem Stift auf die Schreibtischplatte. Erst vor ein paar Wochen hatte ihr Vater das Zimmer ganz nach ihren Wünschen renoviert. Auch den neuen Schreibtisch hatte er selbst gebaut. Für ihn als Schreinermeister war das wahrscheinlich keine große Sache. Aber Anna spürte sehr wohl, wie viel Liebe er in all die kleinen Details gesteckt hatte. Genau wie in das gesamte Zimmer, das sie sich mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Lena teilte.
Zurzeit konnte Anna es samt Schreibtisch und altersschwachem Computer für sich allein beanspruchen, um in Ruhe ihre Schulaufgaben zu erledigen, denn Lena befand sich bei der Arbeit. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Friseurin, ihrem Wunschberuf. Nichts für mich, dachte Anna, aber für Lena genau das Richtige.
Der Gedanke an die große Schwester entlockte ihr ein kleines Schmunzeln, weil die sich mit ihren neunzehn Jahren nun endlich von den alten Boy-Band-Postern aus der Bravo verabschiedet hatte. Die Groupie-Zeit hatte bei Lena halt ziemlich lange angedauert. Jetzt aber strahlten die Wände in frisch gestrichenem Weiß, das nur hier und da von ein paar sonnengelben Akzenten unterbrochen wurde.
Über Annas Bett hing ein großes Gemälde, welches Viktors Zwillingsschwester ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Jeder, der das Zimmer betrat, wurde augenblicklich von dem selbstgemalten Bild magisch in den Bann geschlagen. Von seinem unwiderstehlichen Charme, den fantastischen Farben und dem mystischen Motiv mit den zwei Sonnen, die wie selbstverständlich in vereinter Umarmung hinab auf einen plätschernden Bach in einer traumhaft hellen Lichtung schienen. Außer Anna und ihr Bruder wusste in der Familie niemand, dass diese Lichtung, bis auf die zweite Sonne, keineswegs einer Fantasie entsprang.
Bei der Erinnerung an ihren Geburtstag spielte Anna versonnen mit der Kette, an welcher das weißgoldene Medaillon mit den hellblauen Saphiren am Rand und den im Innern eingravierten zwei Sonnen hing. Viktor hatte es ihr geschenkt, eben zu jenem siebzehnten Geburtstag. Dem wunderbaren Tag, an dem sie mit ihm zum ersten Mal …
Sofort flatterte es in ihrem Bauch. Zu Annas Leidwesen erging es ihr häufig so, was ihr regelmäßig Probleme bereitete, sich auf die Hausarbeiten zu konzentrieren. Deshalb atmete sie erneut kräftig durch.
Doch anstatt endlich weiter an dem Skript zu arbeiten, glitt ihr Blick zum Fenster mit den duftig zarten weißen Organzagardinen und den blickdichten cremefarbenen Vorhängen an der Seite. Sie hingen dort erst seit dem gestrigen Abend und ließen den Raum sehr viel größer und heller erscheinen als vorher. Lena hatte zuerst ein bisschen gemault, weil er abends nicht mehr so gut abzudunkeln wäre wie mit den alten dunkelbraunen Chenillevorhängen, fand aber das Gesamtbild überzeugend. Typisch für ihre liebenswürdige und unkomplizierte Schwester, meinte Anna.
Schließlich schnitt sie wieder einmal den Faden zu ihren Tagträumereien ab und beugte sich vom Schreibtischstuhl weit in Richtung ihrer am Bett stehenden Schultasche hinunter, um sich das Bio-Buch zu angeln, ohne dabei aufstehen zu müssen. Dabei purzelte sie fast von dem uralten Stuhl mit Mickey-Mouse-Design, so kippelte der.
Höchste Zeit für den weißen höhenverstellbaren Polster-Stuhl, den sie sich anschaffen wollte, überlegte sie. Aber ihr Erspartes reichte noch nicht ganz dafür. So lange durfte sich Mickey Mouse noch einer Gnadenfrist erfreuen, bevor sie im Sperrmüll ihr Ende finden würde.
Anna störte es nicht sonderlich, dass ihre Eltern mehr mit dem Geld haushalten mussten als andere Leute. Deshalb machte es ihr auch nichts aus, selbst für den neuen Stuhl aufkommen zu müssen.
Nur ihre eigene Mittelmäßigkeit warf sie manchmal aus der Bahn. Viktor behauptete zwar beharrlich, dass gerade sie etwas ganz Besonderes wäre, und schwor sogar Stein und Bein darauf. Doch nagten immer wieder Zweifel an ihr und verunsicherten sie mit Fragen, wie zum Beispiel, weswegen jemand wie er Gefallen an jemanden wie ihr finden konnte. Nach Annas Dafürhalten war er nicht nur viel attraktiver als sie selbst, sondern auch tatsächlich etwas ganz Besonderes, weil er nur zur Hälfte ein Mensch war.
Sie lächelte vergnügt bei der Vorstellung, ihre Eltern und Lena würden erfahren, dass Viktors Vater, anstatt über ein riesiges Firmenimperium in Amerika zu herrschen, in Wirklichkeit ein waschechter König war. König des westlichen Elfenreiches, welches direkt neben der Welt der Menschen existierte. Außer ihr kannte in der Familie nur noch ihr zwanzigjähriger Bruder Jens das Geheimnis.
Anna schüttelte heftig den Kopf, weil sie im Geiste schon wieder zu Viktor abdriftete, und rief sich daher leicht verärgert zur Räson. Am Ende würde dieses unsägliche Referat doch nicht fertig, bevor Viktor sie fürs restliche Wochenende abholte.
Sie legte den Stift zur Seite, rückte ihre Brille zurecht und rutschte ein wenig vor, um auf dem Bildschirm ihren bislang verfassten Text durchzugehen. Erneut wackelte und kippelte es verdächtig unter ihrem Po, was allerdings statt Verärgerung nur Vorfreude auf den neuen Stuhl hervorrief.
Sie würde mit Lena reden müssen, dass künftig auf keinen Fall eins ihrer Haarfärbemodelle darauf Platz nehmen dürfte. Lenas Farbexperimente hatten so manchen hässlichen Fleck auf Mickey Mouse hinterlassen. So etwas wollte Anna für die Zukunft tunlichst vermeiden. Mit dem schicken weißen und zudem fleckenlosen Stuhl würde das Zimmer in ihren Augen perfekt aussehen. Natürlich nicht so perfekt wie Viktors.
Sie seufzte und nahm resigniert die Finger von der Tastatur, weil sie schon wieder an ihn dachte und ihr das Schreiben dadurch schwerfiel.
Wenn sie sich nicht allmählich beeilte, würde das nichts mehr mit dem Referat. Außerdem befürchtete sie, Viktor könnte bemerken, was in ihrem Kopf vor sich ging. Obwohl er nur eine Halbelfe war, hatte er seine empathischen und telepathischen Fähigkeiten in der letzten Zeit derart verfeinert, dass sie ihre Gedanken- und Gefühlswelt kaum noch vor ihm verbergen konnte.
Zwar war auch sie inzwischen in der Lage, seine Gedanken zu erspüren, aber so wie ihm würde es ihr wohl niemals gelingen. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass sie und sogar Jens über solch elfische Gaben verfügten.
Bislang hatte sie über den Grund dafür kaum nachgedacht. Auch jetzt fehlte die Zeit dazu. Also straffte sie endgültig die Schultern, um sich dem Referat zu widmen und noch dazu den Geist vor ihrem heißgeliebten Freund zu verschließen.
Zu spät! Das war Anna bereits klar, noch ehe sie Viktors Samtstimme im Kopf vernahm.
»Es heißt Physiologie nicht Pysiologie, Anna. Du verschreibst dich jedes Mal bei diesem Wort«, tadelte er sie.
Anna verdrehte lächelnd die Augen.
»Klar, dass du dich wieder einmischen musst, du Besserwisser. Das Rechtschreibprogramm findet das sowieso heraus und ich korrigiere es zum Schluss. Jetzt raus aus meinem Kopf, sofort, sonst sitze ich morgen noch hier!«
»Nicht so schnell, nicht so schnell, Süße. Du hast schließlich angefangen, an unser Erstes Mal zu denken. Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich mich ausgerechnet da zurückhalte. Außerdem habe ich schon wieder was von Mittelmäßigkeit mitbekommen. Du weißt, dass mich das sauer macht, Anna. Ich finde, ich sollte ganz schnell zu dir kommen und dich vom Gegenteil überzeugen. Los, Anna, lass mich dir helfen, dann bist du schneller fertig, bitte, bitte.«
»Viktor Müller, du sollst nicht ständig in meinem Hirn herumwuseln! Das schickt sich nicht! Warst du nicht derjenige, der seinem Vater letztens erst was von Takt und Zurückhaltung erzählt hat? Also bitte, verschwinde aus meinem Kopf und komm frühestens in einer Stunde als gestaltlicher Halbelfe zu mir, verstanden?«
»Menno!«
Anna lachte. Eigentlich sollte sie sich darüber ärgern, dass er ständig ihre Privatsphäre verletzte. Dementgegen freute sich eher und konnte ihm wegen seiner kleinen Gedankenattacken nie böse sein.
***
Viktor saß zu Hause an seinem Laptop und grinste vergnügt in sich hinein. Anna konnte einfach ihren Geist nicht genügend verschließen, um sich gegen ihn abzuschirmen, insbesondere, wenn sie an ihren Hausaufgaben arbeitete. Es bereitete ihm riesigen Spaß, dann immer mal wieder nachzuschauen, was sich in ihrem hübschen Köpfchen abspielte.
Dass Annas Überlegungen häufig um ihr gemeinsames »Erstes Mal« kreisten, freute ihn besonders. Ihm ging es ja genauso. Anders allerdings empfand er die Sache mit ihrem mangelnden Selbstwertgefühl. Daran arbeitete er schon, seit er sie damals im Wald angesprochen hatte. Harte Arbeit, wie er fand.
Aber jetzt hatte sie natürlich recht. Sie musste ihr Referat fertig schreiben. Also ließ er sie schweren Herzens in Ruhe und tröstete sich mit der Aussicht, sie in einer Stunde zu sehen.
Da aber so eine Stunde ganz schön lang werden konnte, überlegte er, was er in dieser Zeit unternehmen sollte.
Eigentlich müsste auch er sich um ernsthafte Dinge kümmern, denn er wollte sich in der Welt der Menschen behaupten und hatte sich dazu durchgerungen, an der Uni Düsseldorf ein Studium zu beginnen.
Zwar war sein High-School-Abschlusszeugnis in Wirklichkeit nur so viel wert wie die Farbe auf dem Papier, aber es genügte, um in der Menschenwelt die erforderliche Schulausbildung nachzuweisen. Das hieß natürlich nicht, er und seine Zwillingsschwester Viktoria hätten in der Elfenwelt überhaupt keine Bildung genossen. Ganz im Gegenteil, sie waren dort jahrelang intensiv sowohl in elfischen als auch in menschlichen Dingen unterrichtet worden.
Estra und Isinis, ihr Onkel und ihre Tante, hatten sich geradezu überschlagen, wenn es darum ging, ihnen menschliche Wissenschaften und Kenntnisse, auch in Kunst und Literatur, nahezubringen. Dabei gingen die beiden stets selbst in ihrer Wissbegierde auf und ließen sich im eigenen Unterricht so manches Mal zu staunenden »Oh’s« und »Ah’s« hinreißen.
Viktor liebte seine Zieheltern von ganzem Herzen, waren Viktoria und er doch bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr bei ihnen aufgewachsen und ebenso liebevoll behandelt worden wie deren drei eigenen Kinder.
Während dieser ganzen Zeit bekamen die Zwillinge ihren Vater, König Viniestra Tusterus, genannt Vitus, höchstens ein paar Mal im Jahr zu Gesicht und zudem dessen äußerst reserviertes Verhalten regelmäßig zu spüren.
Erst vor ungefähr zweieinhalb Monaten erfuhren sie endlich den Grund dafür, den Grund für die eigenartige Zurückhaltung des Vaters. Bis dahin ahnten sie nicht, welcher Bedrohung Vitus seit dem Tod seiner Eltern und sie selbst seit ihrer Geburt ausgesetzt waren. Ja, sie hatten nicht ahnen können, wie verzweifelt Vitus all die Zeit, seit dem Tod ihrer Mutter, versucht hatte, Unheil von ihnen fernzuhalten. Größtes Unheil, das ihn aus der Vergangenheit verfolgte und seine Kinder zu verschlingen drohte:
… Vitus lernte als junger Thronerbe des westlichen Elfenreiches die zauberhafte und ein Jahr jüngere Elfenprinzessin eines anderen Landes kennen. Er versprach ihr – geblendet von ihrer Schönheit und mit dem Segen beider Elternpaare – die Ehe. Damals war er erst vierzehn Jahre alt und erkannte nicht, dass die ganze Sache ein einziges Ränkespiel des anderen Königshauses war, nur um deren Reich zu vergrößern. Als er vier Jahre später entdeckte, welch verschlagener, bösartiger Charakter sich hinter der wunderschönen Fassade der Prinzessin Kana verbarg, war es zu spät. Kana dachte gar nicht daran, ihn von der schon bald geplanten Hochzeit zu entbinden.
Derweil verliebte sich Vitus unsterblich in eine Menschenfrau mit dem Namen Veronika Müller. Er liebte sie so sehr, dass er nur mit ihr und seinem ungeborenen Kind, welches sie unter dem Herzen trug, leben wollte und brach deshalb ohne Zögern sein Eheversprechen.
Aus purer Rache töteten Kana und ihre Familie daraufhin Vitus’ Eltern mithilfe einer uralten, grausamen Macht, der Nuurtma. Es hätten wohl noch mehr Elfen den Tod gefunden, wäre Vitus nicht damals schon aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten in der Lage gewesen, diese Macht eigenhändig ins Exil zu verbannen.
Dann musste Vitus den Thron übernehmen. Zu alledem starb auch noch Veronika direkt nach der Geburt der Zwillinge. Kana schwor weitere Rache, wollte ihm seine Kinder nehmen und sie töten.
Vitus hatte in schneller Folge zuerst seine Eltern und dann seine große Liebe verloren. Darüber hinaus sah er sich gezwungen, die geliebten Kinder in die Obhut des Bruders zu geben, damit sie bei ihm, innerhalb des Elfenreiches, behütet aufwachsen konnten.
All die Jahre bewachte er Tag für Tag ruhelos die Grenzen seines Reiches, allein in der Hoffnung, auf diese Art seine Familie beschützen zu können.
Trotz dieser Vorkehrungen war und blieb Kana eine stetige Bedrohung und holte sich zudem die Hilfe eines düsteren Elfenzauberers. …
Bei der Erinnerung daran, dass diese rachsüchtige Frau das Leben seines Vaters fast ruiniert und seiner Schwester und ihm, nicht zuletzt sogar Anna und deren Mutter, den Tod bringen wollte, schwoll in Viktor maßlose Wut an. Diese Wut ballte seine Hände zu Fäusten, staute sich in seiner Kehle und schrie nach Entladung.
»Hey nicht, Viktor.« Zwei schlanke Arme umschlangen seine Schultern. »Kana ist tot, nur noch ein Häufchen Asche, tief vergraben im Wald. Sie hat bekommen, was sie verdiente, genau wie ihr ekelhafter Zauberfreund Kaoul.« Viktoria gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Grüble nicht so viel darüber. Wir haben ihnen den Garaus gemacht und es ist vorbei. Lass es endlich hinter dir. Schieb deine dunklen Gedanken beiseite. Selbst Vitus ist wieder in der Lage, fröhlich zu sein, manchmal jedenfalls.«
Sie beugte sich zu ihm und blickte ihn aus dunkelblauen Augen, die seinen so ähnelten, milde lächelnd an. »Außerdem verpasst du dein Date mit Anna, wenn du dich nicht bald in Bewegung setzt. Ich dachte, du willst sie heute mit dem Auto abholen. Höchste Zeit, dass du losfährst.«
»Nein, Anna hat gesagt, sie hätte keine Lust auf Autofahren. Hhm, ich glaube, ich fahre ihr zu schnell. Kann das sein?«
Bei dieser Frage lachte Viktoria hell auf. Zwei Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen, so wie bei ihm, wenn er lachte. »Tja, mein Bruderherz, das könnte durchaus möglich sein. Ich nehme an, du hast diese Info direkt aus Annas Köpfchen, denn das hätte sie dir gegenüber bestimmt nie zugegeben.«
»Ja, kann schon sein. Ach egal, dann hole ich sie halt durchs Portal im Wald hierher. Wir können ja immer noch ein bisschen wegfahren.«
»Na also, dann lass uns runtergehen. Da haben wir ja noch genügend Zeit für eine Tasse Kaffee.«
»Wo ist Ketu eigentlich? Hat er Wochenenddienst?«, erkundigte sich Viktor, als sie die Treppe hinuntergingen.
»Nein, er hat frei.« Sie räusperte sich. »Aber er kommt erst später, weil er sich vorher mit Sistra trifft. Sie wollen noch bei ihren Eltern vorbeischauen.«
Viktoria hielt die Lider gesenkt, so, als wollte sie etwas verbergen. Doch bei ihrem Bruder hatte sie mittlerweile so gut wie keine Chance mehr, ein Geheimnis zu wahren. Selbst wenn er nicht ihre Gedanken erforschte, reichte ein Blick in ihr Gesicht. Dieses schmale Gesicht, das seinem so ähnlich sah, stellte er nach einem prüfenden Blick wieder einmal fest:
Seine Zwillingsschwester glich ihm sehr, mit den feinen Zügen, den großen dunkelblauen Augen und dem braunen Haar. Nur Viktors Locken wurden zusätzlich von feinen mahagonifarbenen Strähnen durchzogen.
Viktoria strahlte allerdings eine charmante Weiblichkeit aus, die auch nicht durch den kurzen frechen Haarschnitt, den sie erst seit ein paar Monaten trug, gemindert wurde. Sie war groß und schlank, eine typisch elfische Eigenschaft, und gleichzeitig mit ansprechenden, femininen Kurven gesegnet.
Da Viktor seine Schwester über alle Maßen liebte, konnte er es nicht ertragen, sie traurig zu sehen. Er zog seine geraden Brauen zusammen, wohlwissend, dass sich dadurch eine kleine steile Falte auf seiner Stirn bildete.
»Hat er dich immer noch nicht zu seinen Eltern eingeladen?«
Als Viktoria dies stumm bestätigte, schüttelte er erbost den Kopf. »Was für ein Hornochse! Seine Eltern werden doch längst wissen, dass er mit der Prinzessin zusammen ist. Manchmal verstehe ich ihn nicht. – Ach, komm schon, lass dich dadurch nicht entmutigen. Er liebt dich, das weißt du doch. Den Rest kriegt er auch noch hin. Und wenn sein König ihm persönlich in den Arsch treten muss, um ihm zu verdeutlichen, dass er als sogenannter einfacher Wachmann die Königstochter lieben darf.«
Mit einem Schmunzeln sprach er weiter: »Und wenn Vitus das nicht bald tut, dann eben ich. Jens hilft mir sicher gerne dabei.«
Nun musste sie lachen. »Annas Bruder ist ziemlich gut darin, anderen in den Arsch zu treten. Es dürfte lustig sein, ihm dabei zuzusehen.«
»Sag ich doch.«
Er nahm seine Schwester liebevoll in den Arm und ging dann mit ihr Hand in Hand in die Küche.
***
»Anna, kommst du? Viktor ist da!«, rief Theresa.
»Ja, Mama, bin gleich da!«
Schnell warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.
Das goldblonde Haar fiel ihr glatt und glänzend über die Schulter und die hellblauen Augen leuchteten regelrecht hinter der schlichten Brille. Ihre Haut schimmerte hell und makellos.
Na ja, wenn die Brille nicht wäre, ginge es ja eigentlich, meinte sie, obwohl sie sich etwas zu dick für ihre geringe Größe von einen Meter dreiundfünfzig fand und deshalb leider vergeblich versuchte, drei von den einundfünfzig Kilos loszuwerden.
Dann waren da noch ihre Zähne, die mochte sie auch nicht. Anna musste unwillkürlich kichern, als ihr wieder einfiel, wie Viktor deswegen letztens Zahnarzt mit ihr gespielt hatte, nur um von ihr zu erfahren, welche Zähne denn angeblich schief stehen würden. Sie hatte sie ihm gezeigt. Doch er hatte nur gelacht, sie für kerzengerade und blendendweiß befunden und zudem ihren Mund, nach einem langen, dahinschmelzenden Kuss, bezaubernd genannt.
Die Erinnerung daran und an das, was darauf gefolgt war, ließ ihr Herz wild klopfen und den Atem stocken.
»Nur die Ruhe, Anna!«
Sie schnaufte einmal kräftig durch, verließ ihr Zimmer und strahlte Viktor an, musste allerdings erkennen, dass er bereits mitbekommen hatte, was ihr vorm Spiegel durch den Kopf gegangen war. Amüsiert hob er eine Braue und lächelte schief. Annas Herz erlitt bei diesem Anblick nach wie vor Aussetzer.
»Tief durchatmen!«
»Hallo, Anna, du siehst heute aber wieder zum Anbeißen aus.« Theresa noch einmal freundlich zunickend ging Viktor zu seiner Freundin, um sie zu umarmen und ihr einen kurzen süßen Kuss zu geben. Dabei strich er mit seinem Daumen ganz zart über ihre Wange.
»Nochmal: Tief durchatmen!«
»Ich bringe euch Anna übermorgen wohlbehalten zurück, versprochen«, versicherte er Theresa.
»Das weiß ich, Viktor. Wie wäre es, wenn ihr am Sonntag schon zum Mittagessen kommen würdet? Dann hätten wir dieses Wochenende auch ein wenig von euch, ehe Johannes und ich nächsten Freitag auf die Insel fahren.«
»Das klingt toll, nicht wahr, Anna?«
»Ja klar. Hab ich dir doch gesagt, Mama, dass Viktor das gut finden wird.«
Sie umarmte ihre Mutter und küsste sie auf den Mund. »Also, Tschö. Gib Papa was von dem Kuss ab und grüß Lena, Jens und Silvi. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb. Tschö, Engelchen.«
Auch Viktor nahm Theresa zum Abschied in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. Danach sah er sie noch einmal an. »Schön, dass du wieder gesund bist, Theresa. Man sieht richtig, wie gut es dir mittlerweile geht. Das freut mich. Auf Wiedersehen oder auch Tschö, wie ihr hier so gerne sagt.«
»Danke, Viktor, das ist sehr lieb von dir. Tschö.«