Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 11
Spitze
ОглавлениеEs dauerte erheblich länger, zum Schloss zu gelangen, als Anna angenommen hatte. Da reichte es nicht aus, mal eben über einen Bach zu springen. Nein, das war erst der Anfang! Schiere Panik überfiel sie, als Viktor sein schneeweißes Pferd Ariella zu sich rief, sich auf den Rücken des riesenhaften Tieres schwang und sie hinter sich hinaufzog.
Offenbar teilte er Annas Sorge keineswegs, Kleid, Seidenstrümpfe und Schuhe während der Anreise zu ruinieren. Er machte in Allerseelenruhe die kleine Reisetasche an einem seitlich verlaufenden Gurt fest, den Anna bislang gar nicht bemerkt hatte, beugte sich dann tief hinab und flüsterte dem Pferd so leise ins Ohr, dass Anna es gerade noch verstehen konnte:
»Hör gut zu, Ariella. Anna hat Angst um ihre Garderobe. Also reite wie der Teufel, aber reite sanft.«
Danach richtete er sich auf, drehte sich um und musterte Anna mit vergnügt blitzenden Augen, weil sich ihr Kleid weit hochgeschoben hatte und den Blick auf den spitzengesäumten oberen Rand der Seidenstrümpfe freigab. »Oh jaa«, gab er gedehnt von sich, »solche Strümpfe sind eindeutig schöner.«
»Perversling!«
Nachdem sie vergeblich versuchte, das Kleid ein wenig zurechtzuzupfen, wickelte sie sich resigniert fester in Viktors warme Jacke ein. Er lachte amüsiert und hielt Anna dazu an, sich gut festzuhalten. Sie tat aufgeregt, wie ihr geheißen, und klammerte sich mit rasendem Herzen an ihm fest.
»Ogottogott! Ich und reiten! Grundgütiger!«
Anna versteifte sich vor Angst, als sich das Pferd in Bewegung setzte, entspannte sich allerdings bereits nach wenigen Minuten. Ariella schien eher zu gleiten denn zu galoppieren. Es war, als würde das Pferd den Boden kaum berühren, als flögen sie auf ihm dahin. In Viktors dicke Jacke eingehüllt fühlte Anna sich warm und wohlig, trotz ihrer entblößten Beine. Sie kuschelte sich eng an Viktor und genoss in vollen Zügen den kühlen Wind auf ihrem Gesicht.
Sie ritten dem Abendrot entgegen, das sie, stetig näher rückend, zu verschlucken schien. Diese leuchtenden Farben, verbunden mit dem mystischen Dunst der Dämmerung und dem sanften Dahingleiten auf Ariella, versetzten Anna regelrecht in Verzückung. Vor Freude stieß sie Juchzer aus, in die Viktor fröhlich einstimmte.
Allmählich veränderte sich die Landschaft. Die sanften Hügel gingen nach und nach in weite offene Felder und Wiesen über. In der Ferne sah Anna einen See im restlichen Sonnenlicht glitzern.
Nachdem Viktor aufs Neue magische Worte vor sich hin murmelte, die Anna nicht verstand, schwebten sie mit einem Mal an einem breiten Fluss entlang. Ariella schlug einen Bogen und setzte zum Sprung an.
»Himmel, was kommt denn jetzt wieder? Sie kann doch nicht über den Fluss springen!«
Viktor hielt sich nur mit einer Hand an Ariellas Mähne fest und drückte mit der anderen beruhigend Annas Arm, der sich eisern um ihn schlang. Sie kniff die Augen zu und spürte, wie das Tier ganz sacht aufsetzte. Ariella blieb in dem Moment stehen, in welchem Anna die Augen wieder öffnete – und schlagartig stürzte eine weitere neue Welt auf sie ein.
Viktor war bereits geschickt abgesessen. Ohne den Blick abzuwenden von dem faszinierenden Schloss, das im blutroten Abendlicht vor ihnen lag, ließ Anna sich vom Rücken des Pferdes direkt in Viktors Arme gleiten.
Die dunkelgrauen Schieferschindeln vieler kleiner Türmchen, Zwischendächer und Bögen schimmerten in den schummrigen letzten Strahlen der Abendsonne. Das Schloss war teilweise aus wuchtigen hellrosa und grauen Natursteinen gebaut, zum anderen Teil im Fachwerkstil. Kein Disney-Schloss oder Neuschwanstein, dennoch atemberaubend schön.
Das Bauwerk erinnerte Anna an die Burg Eltz, die sie als Kind, während einer Klassenfahrt, besichtigt hatte. Nur dieses Schloss hier war größer und noch dazu viel, viel heller. Es überstrahlte den Sonnenuntergang.
Anna zitterten die Knie. Sie wusste nicht, ob es an der abenteuerlichen Anreise zu Pferde oder dem sich ihr bietenden, geradezu berückenden Anblick lag.
»Das ist einfach märchenhaft!«
Dicht an Viktor geschmiegt genoss sie das vor ihr liegende Bild und versuchte, ihre Sinne beisammen zu halten, so beeindruckt war sie.
»Ja, nicht wahr?«, stimmte er zu. »Deshalb hab ich Ariella angewiesen, uns hier absitzen zu lassen. Sie bringt unsere Tasche schon mal vor. So können wir den Aufgang zu Fuß nehmen und die Aussicht aufs Schloss noch ein bisschen genießen.«
Sein Blick glitt zu Annas Füßen. »Allerdings ist dein Schuhwerk nicht gerade für Kopfsteinpflaster geschaffen. Hm.«
Mit gespitzten Lippen tat er so, als müsste er angestrengt darüber nachdenken, wie dieses Problem zu lösen wäre. Dann hob er Anna kurzerhand auf seine Arme und trug sie lachend den Weg hinauf.
Als sie sich näherten, erkannte Anna, dass beinahe aus jedem der zahlreichen Fenster ein warmes Licht drang. Im Schutze des Schlosses sorgte nicht nur die Windstille für geheimnisvolle Ruhe. Anna glaubte, neben Viktors Atem auch das Flüstern der Mauern hören zu können – so, als wollten die sie begrüßen und ihr von den Jahrhunderten ihres Daseins erzählen. – Ein magischer Augenblick. Er wurde noch verstärkt, als Viktor sie vorsichtig absetzte und meinte: »Es mag dich, Anna.«
Lächelnd nahm er sie bei der Hand und führte sie durch einen hohen steinernen Torbogen auf den Schlosshof. Das Eingangstor hingegen bestand aus dunklem Holz. Seine zwei wuchtigen, beeindruckend großen Flügel waren weit geöffnet. Das edle Schnitzwerk in Höhe der ringförmigen goldenen Türklopfer ähnelte ein bisschen der Gravur auf Annas Armreif, den Vitus ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Keine Wachen?«, fragte sie.
»Oh doch, sogar sehr viele. Aber die brauchen nicht hier draußen herumzustehen. Du kennst doch ein paar von ihnen, insbesondere Ketu. Ihre Sinne sind so geschärft, sie bemerken Unregelmäßigkeiten aus weiter Entfernung und sie sind schnell.«
»Ja, ich erinnere mich.«
Drinnen ging für Anna das Staunen weiter. Sie traten in eine große Empfangshalle mit Kassettendecke aus dunklem edlem Holz. An den Wänden steckten brennende Fackeln in Messinghalterungen und tauchten den Raum in ein sonderbares, geheimnisvoll flackerndes Licht. Ihre Schritte hallten auf dem fast weißen, blankpolierten Marmorboden wider. Mit seiner imposanten Höhe und den zahlreichen schmalen hoch aufragenden Fenstern erinnerte Anna die Halle an eine Kathedrale und flößte ihr gehörigen Respekt ein.
Viktor schob sie am Arm weiter, klopfte dann an eine dunkle, wiederum reich beschnitzte Holztür und öffnete sie. Warmes Licht und viele Stimmen strömten ihnen entgegen. Am Ende des Raumes konnte Anna ein Feuer in einem gewaltigen Kamin aus hellem Marmor lodern sehen. Das Knistern und Knacken des Feuers drang, trotz des Stimmengewirrs, bis an ihr Ohr. An der weiß getünchten, mit kunstvollen Stuckarbeiten verzierten Decke funkelten sechs riesige Kronleuchter und mitten im Raum stand eine lange Tafel mit weißem Damast, Tafelsilber, feinstem Porzellan und Kristall – und unendlich vielen Kerzen darauf.
Sie waren alle da, saßen an dem edel gedeckten Tisch und sahen ihnen erfreut entgegen. Alle Fürsten: die Iren, die Norden, Jeomi und seine Söhne, Estra und Isinis nebst Kindern. Aber auch Viktoria und Ketu, Sistra und die übrigen vier Elitewachen, außerdem ein paar Elfen, die Anna nicht kannte.
Vitus strahlte übers ganze Gesicht. »Ah, da seid ihr ja! Herzlich willkommen!«
Mit ausgebreiteten Armen kam er ihnen entgegen. Er roch nach Wald, Tabak, Kaminfeuer und zudem schwach nach schlichter Seife. Dieser ihr bereits vertraute Duft und Viktors wärmende Sonne trugen enorm zu Annas Beruhigung bei, schlug ihr doch das Herz vor Aufregung bis zum Hals.
Ihre Gratulation tat Vitus mit einer lapidaren Handbewegung ab. »Ach danke, aber es ist keine große Leistung, älter zu werden. Das einzig Gute daran sind die Geschenke sowie Familie und Freunde, die zu Besuch kommen.«
… Anna wusste, dass Vitus seine wahren Gefühle zurückhielt, denn er hatte achtzehn Jahre lang keine Feier zu seinem Geburtstag mehr ausgerichtet. Immer war er unterwegs gewesen, um seine Kinder zu schützen. Nie konnte er Freunde zu sich einladen. Selbst die Zwillinge hatten vor ein paar Wochen das erste Mal den königlichen Schlossboden betreten. Diese Geburtstagsfeier war also sozusagen eine Premiere. Mit jeder Faser ihres Herzens nahm sie Vitus’ unbändige Freude darüber wahr. …
Auf das Stichwort »Geschenke« hin überreichten ihm Anna und Viktor die in buntes Papier eingeschlagenen Bücher. Sie freuten sich, als Vitus die Verpackung aufriss und den Inhalt mit glühenden Augen begutachtete.
»Das gibt ein paar wunderbare Stunden in der Bibliothek bei Rotwein oder Brandy und einer schönen dicken Zigarre.«
Er legte die Bücher auf einen kleinen Tisch zu den anderen Geschenken. Sein Blick aus meergrünen Augen wanderte von Viktor zu Anna.
»Vielen Dank, euch beiden.« Er umarmte sie noch einmal. Dann schob er Anna etwas von sich, um sie sorgfältig in Augenschein zu nehmen. »Du siehst bezaubernd aus. Atemberaubend.«
Anna stieg die Röte ins Gesicht und flüsterte rasch ein: »Oh, danke.« Ihr war bekannt, dass Vitus mit falscher Bescheidenheit nichts anfangen konnte.
Viktor lockerte die Situation auf, indem er auffordernd die Arme ausstreckte. »Hey, und was ist mit mir? Ich trage Lederschuh und feinen Zwirn.«
Lachend präsentierte der Vater dem Sohn seine nackten Füße. Als Viktor daraufhin schmollte, erklärte Vitus feierlich: »Das ist das Privileg des Königs und Geburtstagskindes. Jetzt kommt an den Tisch. Das Essen wird gleich aufgetragen. Ich hoffe, du magst Lammnierenragout, Kochfisch und saure Kutteln, Anna?«
Sie stutzte kurz, verengte dann die Augen. »Du willst mich auf den Arm nehmen.«
Vitus zuckte mit den Achseln. »Schade, bin ich so durchschaubar?«
Anna grinste. »Jemand wie du, der seine Seele für Pizza verkaufen würde, steht nicht unbedingt auf Schafsinnereien und Pansen.«
Alle lachten. Es folgte ein großes Hallo und Händeschütteln, bis sie beide endlich gegenüber von Viktoria und Ketu saßen. Vitus nahm am Kopfende Platz und hatte so seine Kinder direkt neben sich sitzen.
Sobald sie sich niedergelassen hatten, öffneten sich die Türen rechts und links der Tafel und das Essen wurde von beiden Seiten an sie herangetragen. Die Bediensteten gaben die Speisen nach dem Wunsch der Gäste auf und füllten Weißwein in die herrlich funkelnden Kristallgläser.
Anna trank einen Schluck. Er schmeckte spritzig und leicht.
»Hhm. Lecker!«
»Iss lieber erst mal was, Kleines. Wir hatten nur das Käsebrötchen heute Vormittag. Da ist Alkohol gefährlich.«
Anna gluckste. Viktors Ermahnung hätte durchaus auch von ihrem Vater stammen können. Aber er hatte ja recht. Also machte sie sich hungrig über die feine Kürbissuppe mit gerösteten Pinienkernen, Croutons und knusprig gebratenen Speckstreifen gefolgt von Herbst-Salat mit Orangenspalten und Entenbrust her. Sie spülte die Köstlichkeiten mit kleinen Schlucken des ebenso köstlichen Weines hinunter.
Beim Lammfilet in Kräuterkruste mit verschiedenen Gemüsen und Mandelbällchen bekam sie erste Schwierigkeiten, ihre Portion aufzuessen. Der leichte Rotwein, der dazu gereicht wurde, half ihr dabei.
Es folgten diverse Desserts zur Auswahl: Zabaione, Schokotörtchen mit flüssigem Kern, Himbeer-Parfait und Zitronensorbet. Dazu Eiswein.
Alles sah appetitlich aus und duftete verführerisch, aber Annas Magen streikte, so satt war sie. Verwundert musste sie feststellen, dass alle anderen begeistert von den Nachspeisen nahmen, und zwar reichlich.
Die Frage, wieso Elfen eigentlich ständig mit einen derart großen Appetit gesegnet waren, stellte sie erst einmal zurück. Sie jedenfalls hatte eindeutig mehr als genug gegessen und bat deshalb nur um einen Espresso. Derweil trank sie ein Schlückchen von dem süßen Wein, der ihrer Zunge schmeichelte. Der Espresso kam sofort.
»Kräuterlamm, Himbeer-Parfait, Espresso – klingt und schmeckt eher menschlich als elfisch!«
Augenblicklich trat Stille ein. Alle blickten in Annas Richtung, wenn auch größtenteils mit belustigtem Gesichtsausdruck.
»Entschuldigung«, murmelte sie kleinlaut, als sie begriff, dass ihre Gedanken von allen anderen wahrgenommen worden waren. »Ich wollte euch nicht zu nahe treten.«
Vitus ergriff lachend das Wort: »Wer sagt denn, dass Espresso oder Eis menschliche Erfindungen sind, Anna?«
»Die Italiener!«, rutschte es ihr heraus.
»Ja, die Elfen und Menschen des Südens haben so manche Gaumenfreude auf dem Speiseplan«, schmunzelte Vitus. »Es ist so, Anna: Wir leben zwar sorgsam getrennt von der Menschenwelt. Trotzdem gibt es vieles, was sich im Laufe der Jahrtausende vermischt hat. Schließlich ist immer mal wieder einer von uns zu den Menschen gegangen. Auch wenn wir hier keine Pizzerien betreiben, so haben wir dennoch viele Rezepte von den Menschen übernommen und ihnen dafür, selbstverständlich unbemerkt, unsere überlassen. Das ist natürlich nicht nur bei Kochrezepten so. Man kann von den Menschen und ihrer Wissbegierde sehr viel lernen. Wir leben hier nicht wie im Mittelalter, Anna.«
Stirnrunzelnd besah sie sich die Lüster unter der Decke. Sie verströmten warmes Licht, das den riesigen Raum schimmernd erhellte. Es waren keine Kerzen, die das geschliffene Kristall zum Funkeln brachten, aber auch keine Glühbirnen, bemerkte Anna bei näherer Betrachtung. Plötzlich drehte sich alles. Wahrscheinlich, weil sie so lange hochgestarrt hatte, schätzte sie und schüttelte energisch den Kopf, um das Karussell daraus zu vertreiben. Da fiel ihr wieder ein, aus welchem Grund sie nach oben geguckt hatte.
»Ich denke mal, ihr habt hier keine Kernkraftwerke, oder?«
Das allgemeine Gelächter schien ihre Frage zu beantworten.
»Nein, Anna«, sprach nun Estra mit seiner dunklen Stimme. »Wir haben unsere eigenen Energiequellen und Methoden. Sie stehen in Effizienz und Wirksamkeit den menschlichen in nichts nach, sind jedoch erheblich sauberer, könnte man sagen, was eindeutig ein großer Vorteil für unsere Welt ist.«
Saubere Energien? Anna war begeistert, was Estra zu bemerken schien, denn er antwortete, bevor sie überhaupt hatte fragen können: »Nein, nein, das funktioniert nicht, Anna. Man kann diese Energien nicht in die Menschenwelt übertragen, tut mir leid. Das klappt nur hier bei uns.«
»Schade«, meinte sie enttäuscht.
»Sind wir hier auf einem Wissenschaftsseminar oder auf einer Geburtstagsfeier?«, schaltete sich Aedama ein und verdrehte die Augen, ehe sie munter in die Hände klatschte. »Schluss jetzt! Lieber Vitus, wir danken dir für das köstliche Mahl. Ich denke, wir sind nun alle satt und könnten daher ein wenig Bewegung vertragen.«
»Nichts dagegen, schöne Frau. Doch vorher stoßen wir auf unser aller Wohl an.« Sie tranken, dann wischte sich Vitus den Mund an seiner weißen Damast-Serviette ab und stand auf. »Lasst uns nach nebenan gehen.«
Stühle rückten über den kostbar schimmernden parkettähnlichen Holzboden. Als Anna aufstand, wurde ihr ein bisschen schwummrig. Die verschiedenen Weingläser waren stets aufgefüllt worden. Da hatte sie wohl den Überblick verloren.
»Huch! Ich glaub, ich hab einen Schwips!«
Viktor war sofort zur Stelle, nahm sie lächelnd beim Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Trink ab jetzt lieber Wasser, Kleines. Es wird noch ein langer Abend.«
Aus irgendeinem ihr unerklärlichen Grund ärgerte sie sich über seine Bemerkung. Und dann fiel ihr ein, weswegen: Er hatte sie heute schon den ganzen Tag bevormundet. – Das Einkaufszentrum. Das Kleid. Die Seidenstrümpfe. Das Alles! Und auch das Verschweigen von Vitus’ Geburtstag samt Feier.
»Macho!«
»Jaja!«, grummelte sie, sodass Viktor erstaunt eine Braue hochzog.
»Wenn du mich für einen Macho hältst, dann solltest du wohl besser alleine gehen.«
Er ließ sie los. Als sie bedrohlich zu schwanken begann, hielt Viktor sie eilig wieder fest und hob mit nun süffisantem Gesichtsausdruck die zweite Braue.
»Meinetwegen kannst du gerne noch eine ganze Flasche Wein in dich reinkippen, Anna. Du scheinst ja super damit zurechtzukommen«, bemerkte er und schob sie vor sich her in den Nebenraum.
»Mist, ich kann mich nicht richtig kontrollieren und du nervst mich!«
Er blieb stehen und schaute sie böse an. »Tja, tut mir ausgesprochen leid, wenn ich dich nerve. Übrigens kannst du dich offenbar mehr als nur nicht richtig kontrollieren, sondern eher überhaupt nicht. Deine Gedanken sind doch bestimmt nicht für die gesamte Gesellschaft hier gedacht, oder?«, raunte er ihr verärgert zu.
Sie kaute auf ihrer Zunge, spürte die Röte in sich aufsteigen und biss sich dann auf die Unterlippe.
»Sorry, okay? Ich trinke ab jetzt nur noch Wasser«, flüsterte sie bockig zurück. »Aber es ist anstrengend, mit jemandem zusammen zu sein, der immer recht haben will.«
Viktors Steilfalte war da, eine sehr tiefe Steilfalte, wie sie feststellen musste. Doch er sagte nichts. Sie hörte ihn nur in ihrem Kopf: »Soso, immer recht haben wollen. Das denkst du also von mir?«
Anna bemühte sich um Konzentration.
»Nein, natürlich nicht. So meinte ich das ja gar nicht. Ich weiß nicht, Viktor. Tut mir leid! Ehrlich!«
Sein Blick wurde wieder weich. Er schloss sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Lass uns später drüber reden, Kleines. Ich würde gerne einen Espresso trinken. Möchtest du auch noch einen?«
In dem wunderschönen Salon waren alle Möbel an die Seite geschoben worden. Anna machte es sich neben Viktor, Viktoria und Ketu auf einem antik und wertvoll anmutenden lindgrünen Sofa an der Längswand bequem. Gerade eben noch hatte sie Viktorias recht besorgte Miene erhascht, doch als Anna sie erneut anblickte, strahlte Viktoria übers ganze Gesicht. Trotzdem, Anna musste einsehen, dass Viktor leider recht gehabt und wohl nicht nur seine Schwester den vorherigen Gedanken- und Wortwechsel mit ihm wahrgenommen hatte, weshalb sie sich schuldbewusst ihre Schuhe besah.
Dann aber stimmten die irischen Elfen mit Geige, Flöte und Gitarre und vier kehligen, klaren Stimmen ein fröhliches Trinklied an und Annas Trübsal verflog auf der Stelle. Den anderen schien das Lied bekannt zu sein, weil sie schon nach ein paar Akkorden der Instrumente mit in den Gesang einfielen. Die Musik legte sich wie Balsam auf Annas aufgebrachte Seele und entlockte ihr ein kleines Lächeln.
Wie Viktor trank auch Anna keinen Wein oder Ähnliches mehr, sondern begnügte sich mit Fruchtschorle und Wasser, wodurch ihre jetzt ausgelassene Stimmung keineswegs geschmälert wurde. Sie streifte sich die hohen Schuhe von den Füßen und versuchte, gemeinsam mit Viktor und Vitus bei dem komplizierten Stepptanz mitzumachen, den Frang und Caela zu Durells Geige und Aedamas Flötenspiel zum Besten gaben.
***
Um fast zwei Uhr lag Anna, mit den Schuhen in der Hand, zusammengerollt auf einem der Sofas und schlummerte selig. Vorsichtig hob Viktor sie auf die Arme und trug sie nach oben in sein Zimmer. Dem Zimmer, das schon immer seines war, in welchem er aber erst vor Kurzem zum ersten Mal geschlafen hatte.
Er legte Anna sanft auf sein riesiges Bett mit einem goldenen Himmel, der sich über die vier Pfosten spannte, und nahm ihr, weil er sie nicht wecken wollte, nur behutsam die Brille ab, bevor er sie einfach zudeckte. Das Kleid könnte man bügeln, überlegte er mit ein bisschen Angst vor seiner eigenen Courage. Schließlich wusste er ja, was sich unter diesem Kleid verbarg. Aber Anna war so müde, sie sollte schlafen.
Gerade öffnete er seine Hose, als sie die Augen aufschlug und ihre Gedanken nicht verbarg:
Da stand er. Mit diesen mahagonifarbenen Lichtreflexen im wirren Haar, den intensiv leuchtenden Augen, den geöffneten Knöpfen von Hemd und Hose – und sah einfach unglaublich sexy aus in dem weichen Licht der elfischen Nachttischlampe.
Als er bemerkte, dass sie aufgewacht war und vor allen Dingen, was in ihr vorging, murmelte er schmunzelnd ein paar Worte, von denen er wusste, dass Anna sie nicht verstand. Seine nächsten Sätze würde sie umso besser verstehen: »Ich wollte dich nicht aufwecken. Du warst so süß, wie du da eingerollt wie ein Kätzchen auf dem Sofa lagst. Da hab ich dich hochgetragen. Aber, wenn das so ist …« Er hielt inne und sah sie fragend an. »Es sei denn … Ich will dich natürlich nicht … Ich meine …«
Anna sagte zunächst nichts, schlug stattdessen die Bettdecke zur Seite, stand langsam auf, schlenderte zu ihm und drehte ihm den Rücken zu. »Könntest du mir bitte bei dem Kleid helfen. Ich komme nicht an den Reißverschluss.«
»Wirklich? Heute Mittag ging es aber noch ganz gut, oder?«
»Na ja, das muss am Wein liegen. Der hat wohl meine Arme schrumpfen lassen.« Sie hob ihr Haar und beugte ihren Kopf vor.
Beim Anblick von Annas Nacken schluckte Viktor schwer. »Ja, ich sehe schon. Damit bekommst du dein Kleid auf keinen Fall auf.«
Viktor trat dicht an sie heran, legte eine Hand auf ihre Schulter. Er wusste, dass sein Atem an ihren Nackenhärchen kitzelte, denn sie zitterte – in süßer Erwartung – genau wie er. Aus diesem Grunde steigerte er ihr und sein Verlangen, indem er federleichte Küsse auf ihren entblößten Nacken hauchte und danach quälend langsam den Reißverschluss ihres Kleides aufzog, bis es raschelnd zu Boden glitt. Als er sie zu sich umdrehte, verschlug es ihm den Atem.
»Himmel noch eins, Anna, du bist so schön!«
»Dito«, flüsterte sie und stürzte sich auf ihn. Ihre Küsse waren berauschend und fordernd, während sie ihm das Hemd von den Schultern zerrte.
»Bitte! Nimm mich! Jetzt sofort! Auf der Stelle!«
Sein Blut raste, raubte ihm die Sinne. Dennoch hörte er ihre köstlichen Gedanken, spürte ihren köstlichen Körper und zitterte in köstlicher Erwartung. Mit einer für ihn selbst überraschenden Vehemenz riss er ihre Arme hoch, hielt sie mit einer Hand fest und schob Anna an die Wand neben dem Bett. Seine Finger glitten über den dünnen Stoff der Spitzendessous. Sie waren überall. Anna stöhnte laut, während sie am Reißverschluss seiner Hose herumnestelte, bis die zu Boden fiel.
»Halt dich an mir fest.« Seine Stimme war rau und animalisch.
Viktors Finger wanderten unter das Spitzenhöschen und brachten Anna zum ersten Höhepunkt, der in heftigen Wellen über sie hinwegfegte.
Sie schrie auf und verlangte gleichzeitig nach mehr. Viktor konnte nicht mehr denken. Er zerrte das Höschen herunter, umfasste ihre Hüften, hob sie an und drang mit einem Stoß in sie ein. Wieder schrie sie auf und schlang gleichzeitig die Beine um ihn. Er füllte sie aus, bewegte sich erst ganz langsam in ihr, bis seine Selbstbeherrschung wie ein dünner Faden riss.
Er war wie wahnsinnig, ja, fast schon grob, doch Anna forderte ihn auf, weiterzumachen. Offenbar genoss sie seine hitzige Begierde und krallte ihre Finger in seinen Rücken. Nach Luft und Erlösung ringend trieben sie gemeinsam dem Gipfel entgegen und fanden Erfüllung in einer gewaltigen Explosion.
Ihre Herzen rasten, sie stöhnten immer noch, durchlebten das süße Nachzucken und waren nicht in der Lage, sich zu regen, bis Viktor Anna unter größter Kraftanstrengung hochhob und zum Bett trug.
Ihr Blick war nach wie vor verschleiert, als er sie mit Küssen bedeckte.
»Du lieber Gott, Viktor, was war das denn?«
»Das, meine Süße, war meine Reaktion auf Seidenstrümpfe und sündige Spitze auf deiner Haut.« Er grinste frech.
»Schade, ich glaube, du hast das Höschen zerrissen.« Sie streckte sich genüsslich aus. »Hab ich gesagt, dass ich nie wieder mit dir einkaufen gehe? Vielleicht überlege ich mir das ja doch noch«, nuschelte sie und schlief auf der Stelle ein.
Viktor deckte sie sorgfältig zu, legte sich zu ihr und betrachtete sie noch ein Weilchen, bis auch ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen.