Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 9
Erwartungen
Оглавление»Viktor!«
Anna klammerte sich an ihm fest wie eine Ertrinkende und schaute ihm dabei tief in die Augen, bevor ihr Blick verschwamm und sie rettungslos verloren von einer Welle der Lust fortgespült wurde.
Viktor folgte ihr in den Strudel. Unfähig, sie zu rufen. Unfähig, jemals wieder ein Wort zu sprechen.
»Anna, Anna, Anna!« Das war alles, was er dachte.
Dann brach er über ihr zusammen, zitternd von den Nachbeben, die ihn schüttelten. Auch Annas Körper zuckte noch unter seiner glühenden Haut.
Selbst als sich ihre Atemzüge wieder einem, wie es schien, lebensfähigen Rhythmus näherten, blieben sie noch eine Weile unbeweglich liegen. Viktor, in ihr, das Gesicht in ihrem Haar vergraben. Anna, die ihn nicht freigeben wollte, die Beine um ihn geschlungen, die Finger weiterhin in seinem Rücken verkrallt.
Dann stützte Viktor die Hände rechts und links neben Annas Kopf ab und versank in ihren Augen. Er küsste sie süß und zärtlich, strich mit der Zunge sanft über ihre Lippen, den Hals hinunter und wieder hinauf bis hinter ihr Ohr. Sie sog zischend Luft ein, als er ihr zart ins Ohrläppchen biss.
»Hhmm, du schmeckst so gut, Anna.« Sein Blick folgte seiner Hand, die sich auf eine ihrer festen kleinen Brüste legte. »Und du bist so schön.«
»Oh Gott!«
Ein leises Schmunzeln huschte über sein Gesicht.
»Du weißt, dass ich nach Hause muss, Viktor. Morgen ist letzter Schultag. Ich hab noch ein paar Hausarbeiten zu erledigen, also …«
Er verschloss ihren Mund mit seinem.
»Einen kleinen Moment noch«, dachte er.
»Ach du je! Wahnsinn! – Okay, einen winzigen Moment noch!«
***
Etwa eine Stunde später saß Anna zu Hause in der Küche beim gemeinsamen Abendbrot.
Ihr Vater kaute reichlich mürrisch an einem seiner Standardtoasts und spülte ihn mit einem Schluck Pfefferminztee hinunter. »Warum ist Viktor nicht mitgekommen?«, grummelte er. »Hab ihn schon ein paar Tage nicht mehr gesehen und morgen früh fahren Mama und ich weg.«
»Ja, er lässt sich entschuldigen. Er wäre gern noch mitgekommen, aber Vitus ist zu Besuch. Du weißt ja, Papa, Viktor und seine Schwester freuen sich immer sehr, wenn er da ist. Vielleicht haben sie demnächst ja etwas mehr Zeit. Ich glaube, Vitus hat vor, sein Unternehmen in Amerika zu verkaufen, um mehr in ihrer Nähe zu sein.«
»Das hätte er machen sollen, als seine Kinder noch klein waren«, brummte Johannes.
»Klar, das wäre bestimmt schön gewesen, wenn er früher schon häufiger Zeit für sie gehabt hätte. Aber damals war die Firma noch klein und die musste er erst einmal zum Laufen bringen. Derzeit lohnt es sich wohl, sie abzustoßen. Jedenfalls habe ich es so verstanden. Ist ja auch egal. Sowas interessiert mich nicht. Ich freu mich jedenfalls, dass die beiden ihren Vater endlich mehr zu Gesicht bekommen.«
Anna war dankbar, als Theresa den Gesprächsfaden aufgriff und währenddessen ihren Mann gekonnt anblitzte.
»Also, ich finde das auch schön, Anna. Die zwei sind übrigens sehr gut geraten, meine ich. Besonders dafür, dass sie ohne Mutter aufgewachsen sind und den Vater so selten gesehen haben. Ihr Onkel und ihre Tante haben gute Arbeit geleistet und ihnen offenbar sehr viel Liebe gegeben.«
Nun schaute sie zu Anna. »Wenn Viktors Schwester das nächste Mal mit herkommt, könnten die beiden ja auch gleich ihren Vater mitbringen. Sag ihm doch bitte Bescheid, dass wir ihn gerne kennenlernen möchten.«
Anna trank einen Schluck Tee. »Ja, mach ich. Soll ich dir noch beim Packen helfen?«
»Nein, lass nur. Ich hab alles beisammen.«
Anna wandte sich an ihre Schwester. »Sag mal, Lena, ich muss noch Hausarbeiten machen. Ist das okay?«
»Ja, mach ruhig. Ich treffe mich sowieso mit Steffi. Wir wollen noch irgendwo was trinken gehen.«
Amüsiert fing Anna den Blickwechsel zwischen Lena und Johannes auf. Kinder blieben in den Augen der Eltern eben immer Kinder, überlegte sie.
»Nur ’ne Cola, oder so. Und auch nicht lange. Schließlich muss ich morgen wieder arbeiten, Papa«, setzte Lena deshalb auch nach.
Johannes’ Miene hellte sich deutlich auf. »Schon gut, Liebes. Du bist erwachsen. Grüß Steffi bitte von uns.«
Während des gesamten Abendessens hatte Jens kein Wort gesagt. In letzter Zeit erschien ihr der große Bruder überhaupt ziemlich still.
»Alles okay mit dir? Wo ist Silvi?«
Jens schluckte schwer und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Na gut, lass uns gleich drüber sprechen, ja? Komm einfach zu mir ins Zimmer.«
Jens sah Anna mit ruhigen grauen Augen an. Sein Mundwinkel zuckte minimal, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Das sollte wohl ein Ja bedeuten. Eigentlich konnte Anna ihren Bruder mental genauso gut verstehen wie er sie, aber in den letzten Tagen hatte er sich seltsam verhalten und in sich selbst verschanzt.
***
Später stand er mit verschränkten Armen in ihrem Zimmer.
»Was ist los, Jens? Du bist so komisch.«
Während Anna ihre Hände in die Hüften stemmte, sah sie ihrem Bruder direkt in die Augen.
… Seit die beiden sich per Gedanken verständigen konnten, hatten sie ein äußerst inniges Verhältnis zueinander entwickelt.
Früher war das komplett anders gewesen. Jens hatte sich immer einen Heidenspaß daraus gemacht, Anna zu ärgern, zu hänseln und zu gängeln, wo und wann er nur konnte. Aber das war Vergangenheit. …
Jens senkte die Lider und betrachtete ausgiebig seine Socken. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich unwohl in seiner Haut fühlte.
»Jetzt komm schon. Spuck es aus!«, drängte sie weiter.
Kräftig schnaufend hob er den Blick. Die Unsicherheit darin wandelte Annas Neugierde in Besorgnis.
»Also gut. Es ist so, äh. Silvi ist, äh …«, er gab sich einen Ruck, »… schwanger. Sie ist schwanger. Fast siebte Woche.« Es folgte mehrmaliges Räuspern. Anna aber schwieg. »Sag doch was«, flüsterte er hinterher, weil sie ihn weiterhin sprachlos ansah.
Sie brauchte einen Augenblick, um den ersten Schock zu verdauen, wollte sie doch auf keinen Fall etwas Falsches sagen. Nur war das nicht so einfach.
»Ist das denn so schlimm?«, fragte sie ihn. »Ich meine, klar, ihr hattet das bestimmt nicht geplant. Aber so schlimm kann es doch trotzdem nicht sein. Silvi ist zwanzig, genau wie du. Außerdem ist sie mit ihrer Lehre fertig, hat einen festen Arbeitsplatz. Du hast deine Ausbildung auch so gut wie beendet und wirst übernommen. Ihr liebt euch, wollt zusammenbleiben, es sei denn, in den letzten paar Tagen hätte sich daran was geändert. Es ist ein bisschen früh, okay, aber ansonsten wärt ihr in der Lage, euch um ein Kind zu kümmern. Oder wollt ihr es nicht?«
»Doch, doch, wir wollen es. Ganz am Anfang, ja, da war es anders. Da haben wir schon drüber nachgedacht, es, na ja, es wegmachen zu lassen. Ganz kurz nur. Das war wirklich nur ein kurzer, verlockender Gedanke. Ganz nach dem Motto: Wir tun mal so, als wäre nix passiert. Dann haben wir allerdings festgestellt, dass wir das beide niemals tun könnten.«
Er schüttelte den Kopf. »Nur, es kommt halt so unvermittelt und viel zu früh. Wir wollten noch so viel unternehmen: Reisen, die erste gemeinsame Wohnung und solche Dinge. Gerade jetzt, wo ich mit meiner Ausbildung auch fast fertig bin.« Jens sah Anna wieder an. »Ach, Anna.«
Sie nahm ihren Bruder in den Arm. »Mannomann, Jens, du fühlst dich besch…eiden, was? Aber denk noch mal nach. Wie ich schon sagte, willst du ja weiterhin mit deiner Silvi zusammenbleiben, oder?« Er nickte stumm. »Da habt ihr doch noch ein ganzes Leben, um alles Mögliche zu unternehmen. Sieh dir mal Mama und Papa an. Die sind glücklich, obwohl du schon so früh unterwegs warst.«
»Bitte, Jens, sei nicht so traurig! Das ist was echt Schönes! Vielleicht kann ›Klein-Jens‹ oder ›Klein-Silvi‹ sogar Gedanken lesen. Das ist total spannend! Findest du nicht auch?«
Jens drückte seine Schwester an sich und vergrub sein Gesicht in ihr Haar. »Stimmt schon, Schwesterherz. Es ist spannend. Und wir sollten uns freuen.«
»Du musst es Mama und Papa sagen.«
Er seufzte. »Ja, das muss ich wohl. Aber erst nach ihrem Urlaub. Ich will ihnen den Spaß nicht verderben. Schließlich haben sie uns immer gepredigt, wir sollten mit dem Kinderkriegen nicht zu früh anfangen. Sie haben sich nach Mamas Krankheit wirklich ein paar schöne, sorglose Tage auf der Insel verdient. Danach ist es immer noch früh genug.«
»Ja, das ist gut. – Habt ihr schon ein Foto?«
Jens strahlte. »Ja, ich hab ’ne Kopie gemacht. Schau her.« Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche, daraus das Ultraschallbild und präsentierte es voller Stolz.
Anna betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. »Ähm«, machte sie ratlos.
Jens lachte und kreiste mit dem Finger zielsicher einen kleinen Fleck inmitten der Schatten, Punkte, Linien und Wellen ein.
»Oh, Jens, das ist einfach überwältigend. Ein Baby. So was Verrücktes.« Sie lächelte, wurde dann aber wieder ernst. »Wieso ist es eigentlich passiert? Ihr habt doch sicher verhütet.«
»Das wissen wir auch nicht so genau. Silvi meint, sie hätte die Pille regelmäßig genommen und das glaub ich ihr natürlich. Sie hat allerdings einen überempfindlichen Magen und Darm. Kriegt schnell Durchfall, wenn sie was Falsches isst oder sich aufregt. Manchmal übergibt sie sich sogar. Wir denken, dass es daran liegen muss. War blöd von uns, nicht vorher darüber nachzudenken.«
»Hm.«
… Anna erinnerte sich an die Insel-Urlaubswoche mit Jens im vergangenen Sommer. Daran, wie sehr Silvi sich später aufgeregt hatte, weil Jens und Anna spontan ein ihnen seinerzeit völlig unbekanntes Mädchen namens Viola ins Ferienhaus aufgenommen hatten. Damals wussten sie ja noch nicht, dass es Viktoria war. Nach dem Urlaub hatte Anna versucht, Silvi zu beruhigen, weil die fürchterlich eifersüchtig war. Nun kamen ihr arge Zweifel, ob es ihr wirklich so gut gelungen war, wie sie angenommen hatte. Was, wenn ausgerechnet diese Sache Silvi derart auf den Magen geschlagen war? …
Augenblicklich musste Anna an Viktors »Vorsichtsmaßnahmen« denken. Nach wie vor bestand er auf die Verwendung von Kondomen, obwohl sie schon lang genug die Pille nahm. Eigentlich wollte sie darauf drängen, diese Dinger endgültig wegzulassen. Sie wollte wissen, wie es sich ohne anfühlte. Jetzt hatte sie allerdings Bedenken.
»Das passiert nicht bei jedem, Anna«, erklärte Jens, der ihre Gedanken offensichtlich erkannt hatte. »Normalerweise ist die Pille eine sichere Sache, sonst würde man sich hier in Deutschland nicht dauernd über zu geringe Geburtenraten beklagen.« Er grinste und sie grinste zurück. »Ich fahre jetzt zu Silvi. Danke fürs Zuhören und dein Verständnis. Das hat mir echt gutgetan.«
»Kein Problem. Grüß Silvi lieb von mir.«
Sie gaben sich gegenseitig einen Kuss auf die Wange und er verließ das Zimmer.
»Heiliges Kanonenrohr!«
Sie hörte Jens vor der Tür laut auflachen, weil er sie natürlich mental wahrgenommen hatte.
Nach der überraschenden Offenbarung ihres Bruders fiel es Anna ausgesprochen schwer, sich noch mit so etwas Banalem wie Schularbeiten zu beschäftigen. Trotzdem setzte sie sich an den Schreibtisch, brauchte allerdings enorm lange, um die Aufgaben zu erledigen. Weitaus mehr Zeit benötigte sie dazu, endlich einzuschlafen.
***
»Mist! Warum muss Bio immer in der ersten Stunde sein? Mist, Mist, Mist!«
Zögernd klopfte Anna an die Klassentür und hörte schon kurz darauf, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte.
»Ah, Fräulein Nell, wie schön, Sie zu sehen«, säuselte Herr Zitt. »Kommen Sie doch herein.« Für einen winzigen Moment glommen Fünkchen in seinen Augen. Offensichtlich war er ziemlich sauer. »Haben Sie vielleicht irgendein Problem mit Ihrem Wecker?«
»Wow! Wie ist der denn drauf? So schlimm ist das ja auch wieder nicht! Die paar Minuten!«
Dennoch war sie verlegen. Außerdem ärgerte sie sich maßlos, weil sich wieder einmal diese dämliche Röte an ihr hochschlich. »Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur Probleme mit dem Aufstehen. Entschuldigen Sie bitte.«
Räuspernd schaute sie ihn an und fragte sich resigniert, was er wohl mit ihr vorhätte. Doch seine Miene war nun wieder freundlich.
»Setzen Sie sich, Anna. Sie haben Glück. Ich hatte noch gar nicht mit dem Unterricht angefangen.«
Herr Zitt wandte sich der Klasse zu. »Also, kommen wir zurück auf unser aktuelles Thema …«
Mit einem tonlosen Seufzer der Erleichterung nahm sie Platz, zog Buch und Unterlagen aus der Tasche und versuchte, möglichst konzentriert dem Unterricht zu folgen. Sorgsam notierte sie mit, kaute zwischendurch nachdenklich am Stift.
Dann ertönte der Gong. Anna packte gerade zusammen, als sie Herrn Zitt ihren Namen rufen hörte: »Fräulein Nell, würden Sie bitte zu mir kommen? Ich hätte Ihnen da noch eine Kleinigkeit zu sagen.«
Innerlich stöhnend folgte sie seiner Aufforderung. Die grinsenden Blicke ihrer Mitschüler klebten ihr förmlich im Nacken, so unangenehm kribbelte es dort. Aber Herr Zitt meinte nur knapp: »Die anderen können durchaus schon gehen. Hopp, hopp!«
»Oh – Gott sei Dank!«
»Fräulein Nell«, begann er, als alle anderen den Klassenraum verlassen hatten. »Ihre Unpünktlichkeit ist nicht länger hinnehmbar. Es muss Ihnen doch möglich sein, ein paar Minuten früher aufzustehen. Oder haben Sie gar ganz andere Probleme?« Er schaute sie besorgt aus seinen dunkelbraunen Augen an.
»Nein, nein, keine Probleme«, erwiderte Anna hastig. »Ich komme halt morgens einfach nur schlecht raus, das ist alles. Aber ich werde mich bessern, versprochen, Herr Zitt. Es tut mir leid.«
»Das will ich hoffen, Anna. Ich habe mich nämlich sehr über Ihr letztes Referat gefreut. Eine wirklich gute Leistung.« Er bedachte sie mit einem anerkennenden Blick. »So konsequent durchüberlegt und sprachlich äußerst ausgefeilt. Trotzdem, ich lege großen Wert darauf, dass Sie mir, Ihren Mitschülern und dem Unterricht Respekt zollen. Und dazu gehört eben auch pünktliches Erscheinen, klar?«
»Äh, klar.«
Seine Mundwinkel zuckten belustigt. »Nun ja, wir werden sehen. Es wäre schön, denn ich könnte mir vorstellen, dass Sie Ihre Leistungen sogar noch steigern.«
Er zögerte. Dann griff er zu seiner Aktentasche und zog einen dicken Hefter heraus. Freundlich lächelnd hielt er ihr das Schriftbündel hin.
»Das ist eine Ausarbeitung zum Thema Photosynthese. Ich hätte gern, dass Sie es in den Ferien durcharbeiten. Hhm, sagen wir mal so: Es ist eine Art Strafarbeit wegen Ihrer Unpünktlichkeit. Allerdings ist es ein wirklich interessantes Exemplar zum Lernstoff und könnte Ihnen durchaus hilfreich sein. Also, weshalb zeigen Sie mir nicht, dass Sie erstens pünktlich und zweitens fleißig sein können? Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich diesen Stoff während der Herbstferien verinnerlichen.«
»Wann soll ich das denn alles lesen – und verinnerlichen? Ausgerechnet in den Ferien, du Blödmann!«
Annas Ärger erhitzte ihre Wangen. Dennoch nahm sie die Unterlagen wortlos in Empfang. Sie blickte den Lehrer an und wusste, dass ihr dieser Blick nicht so höflich gelungen war, wie eigentlich beabsichtigt.
»Ist das so schlimm, Fräulein Nell? Sie wirken ein wenig gereizt.«
»Nein, nein, schon gut. Auf Wiedersehen, Herr Zitt.«
Mit dem Hefter und ihrer Schultasche unterm Arm machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ fluchtartig den Klassenraum.
»Schnell weg, bevor dem noch irgend so’n Scheiß einfällt. Verdammt, Anna Nell, wieso musst du morgens immer so transuselig sein? Mist, Mist, Mist!«
…
»Sie kommen zu spät!«
»Och nä! Nicht der auch noch!«
»Ja, entschuldigen Sie bitte, aber Herr Zitt wollte nach dem Unterricht noch kurz mit mir sprechen.«
Herr Bionda zog eine Braue hoch. »So, hhm, wollte er? Nun gut, wie dem auch sei. Jetzt, da Sie uns mit Ihrer Gegenwart beehren, können wir ja endlich mit dem Unterricht beginnen.«
Er wandte sich zur Tafel. Anna verdrehte demonstrativ die Augen.
»Gott, ich halte das nicht aus. Dieser arrogante Fatzke!«
Endlich gongte es.
»Bleiben Sie bitte noch hier, Fräulein Nell!«
»Ogottogott! Womit hab ich das nur verdient?«
»Schauen Sie nicht so entrüstet«, begann Herr Bionda. »Ich wollte Ihnen schließlich nur eine kleine Frage stellen.«
Anna blieb stumm und schaute dem Lehrer erwartungsvoll in seine wässrig-grünen Augen, wohl versucht, möglichst nicht genervt, sondern interessiert auszusehen.
Herr Bionda atmete tief durch, ehe er weitersprach: »Sagen Sie, Fräulein Nell, was missfällt Ihnen eigentlich so sehr an meinem Unterricht, dass ich es jedes Mal deutlich spüren kann? Bislang dachte ich, ihn recht abwechslungsreich zu gestalten. Ihnen allerdings scheint nicht daran gelegen zu sein, ihm konzentriert zu folgen, oder irre ich mich da?«
»Was will der denn von mir?«
Anna schluckte. »Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen, Herr Bionda. Natürlich passe ich in Ihrer Stunde auf. Geo ist ein tolles Fach und ich …«
»Mir geht es nicht ums Fach selbst, sondern um meinen Unterricht, Fräulein Nell!«, unterbrach er sie unwirsch und wirkte ungeduldig. »Ich möchte wissen, was Ihnen daran nicht passt.«
»Nein, Herr Bionda, Ihr Unterricht ist wirklich sehr interessant«, log sie beherzt. Und weil sie schon so beherzt war, ging sie sogar in die Offensive: »Aber ich glaube, Sie können mich nicht leiden. Deshalb bin ich immer etwas nervös und irritiert. Na ja …«
Stirnrunzelnd schürzte er die Lippen. »Ich bin in letzter Zeit wohl ein klein wenig rüde mit Ihnen umgesprungen.« Als eine Erwiderung ausblieb, fuhr er fort: »Nun, das tut mir leid. Vielleicht fühlte ich mich hin und wieder von Ihnen provoziert. Anscheinend ein Missverständnis. Aber ich erwarte von Ihnen mehr Respekt und Aufmerksamkeit, verstanden? Ich würde vorschlagen, sie denken während der Herbstferien intensiv über die Sache nach und wir sprechen uns dann noch einmal.« Er räusperte sich und fiel in sein gewohnt selbstgefälliges Grinsen zurück. »Also denn, Sie können gehen. Schöne Ferien.«
»Äh, ja, klar, mach ich. Und danke, Ihnen auch. Auf Wiedersehen.« Anna fragte sich, was der Lehrer nun eigentlich von ihr gewollt hatte, legte diese Frage aber wieder beiseite, weil sie spürte, wie er jeden einzelnen ihrer Schritte bis hin zur Tür verfolgte, und deshalb einfach nur heilfroh war, eben diese Tür endlich hinter sich schließen zu dürfen.
»Na, die haben ja heute reges Interesse an dir.« Paul Kiener lächelte sie wie immer freundlich an.
»Ja, nicht wahr?« Sie sah nur knapp zu ihm rüber. »Ich muss weiter, Paul. Sonst komme ich zur nächsten Stunde auch noch zu spät.«
»Mathe, Deutsch, Kunst – hoffentlich halte ich das durch. – Ob Mama und Papa wohl schon an der Fähre sind? Ich vermisse die Insel, besonders, wenn ich in der Schule bin!«
Schnell warf sie einen Blick aufs Handy und freute sich über die SMS ihres Vaters:
Gut angekommen. Fähre schon in Sicht. Wir lieben dich! Gruß an Viktor.
Kuss – Mama und Papa!
Zu ihrer großen Freude verlief der Rest des Unterrichts ohne weiteren Ärger. Am Deutschunterricht hatte sie ja ohnehin großen Spaß und in Kunst versuchte sie sich zurzeit an einem Aquarell. Die Farben hatte sie nach elfischem Vorbild gewählt.
»Na ja, Viktoria ist die Malerin. Aber es ist trotzdem ganz hübsch.« Sie war sorgsam darauf bedacht, ihren Plan zu verbergen. »Vielleicht könnte ich es Viktor zum Geburtstag schenken. Lang ist es nicht mehr bis dahin.«
Kurz vor Stundenende wusch sie eilig die Pinsel aus, stellte sie in ein ausgespültes, mit ihrem Namen versehenes Nutella-Glas und packte ihr halbfertiges Bild zusammen mit den Malutensilien auf deren Platz ins Regal.
Beim Klang des Schulgongs jubelte sie innerlich.
»Juchuh! – Jetzt ist Viktor-Zeit!«
***
Wieder stand Viktor überraschend vor der Schule an seinem Auto und wartete auf sie. Er lächelte warm, als sie näher kam, und griff nach ihr, um sie fest an sich zu drücken und ausgiebig zu küssen. Danach schob er sie ein Stückchen von sich fort, musterte sie und legte den Kopf schräg. »Du hast da was im Gesicht.« Er strich mit dem Daumen über ihre Wange. »Farbe?«
»Ach, verflixt, ich hab nicht in den Spiegel geguckt. Ich hab nur gedacht …«
»Juchuh! – Viktor-Zeit. Ich weiß.« Er lachte fröhlich, während er sie wieder in seine Arme zog, und flüsterte ihr ins Ohr: »Juchuh! – Anna-Zeit.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und erwiderte seinen Kuss. Zuerst zurückhaltend, doch bald schon sehr viel intensiver.
»Bring mich schnell zu dir nach Hause, Viktor. Ganz schnell!«
Viktors Brauen schossen in die Höhe. »Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.«
»Oh, mit schnell habe ich aber nicht rasen gemeint.«
»Zu spät, Süße.« Er blieb unverändert fröhlich, schickte jedoch rasch ein »Ich rase nie, schon gar nicht mit so kostbarer Fracht« hinterher.
Er hielt ihr die Beifahrertür auf und sie hauchte ihm eine Kusshand zu, als er zur Fahrertür ging.
»Himmel noch mal, du hast völlig recht«, dachte er, als sein Blick zum Schultor schweifte und er sie dort erneut alle stehen und wieder glotzen sah, jedoch diesmal deutlich verhaltener. »Die sind echt sch…«
»Viktor!«
Er grinste frech, stieg ein und fuhr los.
»Schade, dass du bald zur Uni musst. Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, von dir abgeholt zu werden.«
»Ich war sogar heute schon bei der Uni, hab mir kurz angeschaut, was für Pflichtfächer ich belegen muss, und bin gleich wieder abgehauen.«
»Das kannst du nicht machen!«, entrüstete sie sich. »Du musst dahin! So fängt man kein Studium an!«
»Keine Bange, Kleines, ich krieg das schon hin. Ich werde das regeln. Aber auf keinen Fall lasse ich mir von der Uni Düsseldorf meine Anna-Zeit nehmen, nie und nimmer. So lange müssen die eben auf meine Anwesenheit verzichten. Und ich erwarte von dir, dass du das verstehst und mich nicht anmeckerst, hörst du? Das Rumgemeckere hat nämlich Viktoria schon zur Genüge erledigt.«
Zuerst wurde Anna still, verfiel aber rasch in albernes Gelächter. »Weißt du was?«, kicherte sie heiter, als Viktor sie fragend ansah. »Du kannst dich bei meinen sauberen Herren Lehrern Zitt und Bionda hintenanstellen. Die haben nämlich auch große Erwartungen an mich.« Als Viktor immer noch nicht verstand, erzählte sie ihm von der sogenannten Strafarbeit und den Respekterwartungen.
»Die sind ja ganz schön durchgeknallt, was? Aber ich stell mich nicht bei denen hintenan, Anna. Klar soweit?«
Seine Lippen deuteten ein Schmunzeln an. »Beim Wecken könnte ich dir gedanklich helfen, wenn du magst. Du bist morgens wirklich zu süß. Es würde mir Spaß machen, dich wachzudenken. Und diese blöde Ausarbeitung gehen wir die Tage zusammen durch. Photosynthese war eines von Isinis’ Spezialgebieten. Sie fand es ungemein faszinierend und wollte von dem Thema gar nicht mehr ablassen.« Er registrierte, wie Anna auf einmal ernst wurde. »Was ist los?«
»Da gibt es noch eine Sache zum Thema Erwartungen. Ich wollte es dir nicht per Gedanken sagen. Das war mir einfach zu wichtig. Silvi erwartet nämlich ein Baby.«
Viktor schluckte. »Wow!«
»Ja. Wow trifft es ganz gut.«
»Wie geht es ihr und Jens?«
»Mit Silvi hab ich noch nicht gesprochen. Und Jens ist total durch den Wind. Sie wollen das Baby, sind aber noch zu überrascht, um sich so richtig drauf einzulassen und zu freuen.«
»Hm, wissen deine Eltern es schon?«
»Nein, Jens will es ihnen erst nach dem Urlaub sagen. Und das finde ich auch gut so.«
»Ja, das scheint mir das Richtige zu sein.«
»Und? Was hältst du davon?«
Viktor zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, Anna. Das ist deren Sache, oder?« Er sah zu ihr hinüber und verstand. »Oh, du meinst, wenn uns das passieren würde?« Er dachte nach. »Uns passiert das nicht.« Sofort spürte er, dass seine Antwort nicht die von Anna erwartete war. »Glaubst du allen Ernstes, ich würde dich nicht mehr wollen, wenn du ein Kind von mir kriegen würdest? Oder ich würde dich gar dazu zwingen, es wegmachen zu lassen? Schau mich an, Anna. Glaubst du das?«
»Nein«, antwortete sie schlicht, aber bestimmt. »Und guck um Himmelswillen auf die Straße.«
Viktor freute sich über ihr Vertrauen und grinste breit. »Du wolltest eigentlich auf die Kondome verzichten und jetzt hast du Angst davor, stimmt’s?« Ein Hauch Rosa legte sich auf ihre Wangen. Sie nickte stumm. »Oh, Anna, ich liebe dich so sehr. Hör zu, mir machen die Dinger echt nichts aus. Hauptsache wir können zusammen sein. Ob mit oder ohne, das ist mir egal. Ist das denn so wichtig für dich?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte wieder nichts.
»Nur weil es Silvi und Jens passiert ist, muss das uns nicht auch passieren, Anna. Wenn du die Dinger leid bist, dann lassen wir sie ab heute weg.«
Sie runzelte die Stirn. »Ab heute?«
»Na, wer wollte denn so schnell zu mir nach Hause?«
Anna nickte. »Ja, ich«, gab sie kleinlaut zu.
Kopfschüttelnd lächelte er. »Wir können auch was anderes machen, ich …«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort, »das ist eine hervorragende Idee. Ich bin nur etwas durcheinander.« Sie klimperte kokett mit den Wimpern. »Ehrlich gesagt, kann ich es kaum abwarten.«