Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 7
Überraschung
ОглавлениеAm Sonntagabend saß Anna wieder einmal am Schreibtisch und versuchte sich an den restlichen Hausaufgaben für den kommenden Schultag. Als sie erneut in Träumereien abdriftete, fing sie zu kichern an. Ihr Nacken kribbelte und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Viktors warmes Bett, seine Leidenschaft und all die Dinge, die er mit ihr tat und wie er sie mit ihr tat, weckten in ihr eine schier unermessliche Lust. Und sie hatte dabei nicht nur das Bedürfnis, diese Lust zu stillen, sondern sie auch an ihn weiterzugeben. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen ließ Anna Grenzen überschreiten, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.
Da sie befürchtete, Viktor könnte aufs Neue in ihrem Kopf herumstöbern, verschanzte sie eilig ihren Geist. Sie liebte ihn wirklich sehr, aber er brauchte ja nicht alles von ihr zu wissen. Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, damit Ordnung darin zu schaffen, und es gelang ihr.
Der Gedanke an die Schule versetzte Anna allerdings wie üblich einen Stich. Eigentlich ging sie gern dorthin. Es würde ihr nur noch viel besser gefallen, wenn es dort nicht so furchtbar viele Sprösslinge steinreicher Leute gäbe, die mit ihren sündhaft teuren Klamotten hochnäsig durch die Gänge stolzierten und sie mit anmaßenden Gesten bedachten. Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben! Das verleidete ihr oft den Spaß.
»Gott, wie ich diese oberflächlichen Angebertypen und Tussen hasse!«
… Prompt tauchte das Bild von Janine Tronso vor ihrem geistigen Auge auf – wie herablassend die Anna in der letzten Volleyballstunde behandelt hatte:
»Los, gib mir den Ball rüber, Schätzchen! Ich muss Aufschläge üben!«
Anna gab ihr den Ball. Und wie! So könnte man es jedenfalls nennen. Sie pfefferte den Ball nämlich recht hart an den Kopf dieser blöden Kuh und rannte danach einfach hinaus. Wahrscheinlich hatte Janine nicht einmal mitbekommen, dass Anna diejenige gewesen war, die ihr den Ball an den Kopf geschmettert hatte. Denn, nachdem der besagte Ball einen ordentlichen Treffer bei Janine gelandet hatte, war die zwar mit jaulendem Gezeter hintenübergekippt, hatte unterdessen allerdings nicht einmal in Annas Richtung geschaut. Augenscheinlich hatte diese dämliche Pute erwartet, dass man ihr den verfluchten Volleyball ehrfurchtsvoll in die ausgesteckten, »begnadeten« Hände legte, während sie sich auf den bescheuerten Abschlag konzentrierte. …
»Grrr! Was für eine blöde Oberkuh!«
Verärgert über sich selbst, weil sie sich immer wieder über dieses unausstehliche Mädchen aufregte, schüttelte Anna abermals den Kopf und tröstete sich damit, dass nur noch fünf Schultage bis zu den Herbstferien vor ihr lagen.
Und da Annas Vater ihre Mutter dazu hatte überreden können, zu zweit eine Woche lang Urlaub auf der Nordseeinsel zu machen, würde Anna exakt diese Zeit ganz allein mit Viktor verbringen.
Das machte sie gleich doppelt glücklich, denn der Mutter ging es endlich wieder gut. Seit Theresas Klinikaufenthalt war zwar schon einige Zeit vergangen, aber Anna würde niemals vergessen, wie sehr sie sich währenddessen gesorgt hatte.
In Vorfreude auf die kommende Herbstferienwoche mit Viktor malte sie sich aus, was sie alles unternehmen könnten. Ihre Überlegungen reichten von Sightseeing in der Elfenwelt über Kinobesuch bis hin zum Spaziergang am Rhein in Düsseldorf.
Es wurde höchste Zeit, mal etwas anderes zu sehen, überlegte sie. Selbst nach dem Sieg über Kana und Kaoul hatte es für Anna fast nur die Schule, ihr Zuhause oder das Reetdachhaus gegeben. Auch war sie der viel zu schnellen Autofahrten mit Viktor überdrüssig geworden. Vielleicht sollte sie sich endlich dazu durchringen, den Führerschein zu machen. Wenn da nur nicht immer ihre Nervosität wäre.
Erschrocken horchte Anna in sich hinein.
»Puh, kein Viktor, dem Himmel sei Dank! Das hätte wieder eine Strafpredigt gegeben, von wegen Selbstbewusstsein und so.«
Anna seufzte. Wenn sie sich nicht bald zusammenriss, stünde sie morgen mit leeren Händen vor »Mister Ich–bin–ein–arroganter–Geo–Lehrer–und–Blondchen–Hasser Bionda«. Anna verdrehte die Augen. Sie fand ihren Erdkundelehrer namens Bionda einfach nur ätzend und war froh, dass ihr, neben dem heißgeliebten Deutsch-Leistungskurs, wenigstens der Biologieunterricht einigermaßen Spaß machte.
Der Biolehrer, Herr Zitt, war zwar ziemlich streng, aber nicht so schrecklich alt und knöchern wie viele andere, insbesondere Herr Bionda. Allerdings besaß er eine untrügliche Abneigung gegen Unpünktlichkeit aller Art, was ihr schon ein paarmal »Aussperrung« vom Unterricht eingebracht hatte.
Die Erinnerung, wie sie am Montagmorgen zur ersten Stunde vor der verschlossenen Klassentür gestanden hatte, nur ein ganz paar Minuten zu spät, ließ sie schmunzeln.
… Sie hatte um Einlass klopfen und bitten müssen, bevor ihr Herr Zitt mit belustigter Miene die Tür aufschloss, sie einließ und daraufhin gnadenlos zu den Hausarbeiten befragte. Leider erwischte er sie bei solchen Aktionen häufig auf dem falschen Fuß. Gerade an diesem Montag war es besonders schlimm gewesen und ihre ach so lieben Mitschüler, speziell Janine, hatten sich mal wieder ausgiebig auf Annas Kosten amüsiert. …
So etwas sollte auf keinen Fall noch einmal passieren.
Das restliche Bio-Referat und die Auswertung der Statistik über die Städtebevölkerung im Ruhrgebiet genossen nun erste Priorität.
Außerdem stellte Anna sich Wecker und Handy, um sicherzustellen, dass sie am nächsten Morgen pünktlich zur ersten Stunde in Bio erscheinen würde.
***
Nach dem Frühstück suchte Viktor auf dem Sofa bei den Killers Entspannung, aber selbst seine derzeitige Lieblingsmusik konnte ihm die schlechte Laune nicht vertreiben. Ständig musste er an den vergangenen Abend denken, an welchem er recht viele Gedankenfetzen aufgeschnappt hatte, die Annas Schutzmaßnahmen wohl entfleucht waren.
Seine Laune verdüsterte sich noch mehr, weil er sich fragte, wieso sie ihm nichts von ihrem Ärger mit den Lehrern und Mitschülern erzählt hatte. Er konnte es nicht leiden, wenn sie sich ihm gegenüber verschloss. Erst recht konnte er es nicht leiden, wenn Anna mal wieder an sich zweifelte oder sich gar minderwertig fühlte. Das war ein Zustand, den es unbedingt zu ändern galt, überlegte er, und suchte fieberhaft nach einer Lösung.
Mit einem Mal hellte sich seine Stimmung wieder auf. »Na warte, Fräulein Nell«, sprach er vor sich hin. »Wenn du mir nicht sagst, was da los ist, dann schaue ich mir die ganze Sache einfach mal aus der Nähe an.«
Er sprang von der Couch und stieg in die ihm so verhassten Converses. Schuhe waren eindeutig ein Manko in der Menschenwelt. Doch weil die nun einmal dazugehörten, ignorierte er das beengende Gefühl an den Füßen, schnappte sich Autoschlüssel und Lederjacke, bevor er zur Treppe hoch rief: »Ich fahre noch schnell durch die Waschanlage, Viktoria! Bin gleich wieder da!«
Er konnte noch einen Blick auf das verwunderte Gesicht seiner Schwester erhaschen, als diese mit einem vor Farbe triefenden Pinsel in der Hand zur Treppe hinunterschaute. Fahrig strich sie sich mit dem Handrücken über die Stirn, ohne zu bemerken, wie dort ein dicker grüner Klecks zurückblieb.
»Waschanlage? Warum?«
Achselzuckend kehrte sie in ihr Zimmer zurück, während Viktor die Haustür zuzog.
Keine halbe Stunde später lag er wieder auf dem Sofa und lächelte selbstzufrieden in sich hinein, als seine Schwester zu ihm trat.
»Na, du hast ja gute Laune«, bemerkte sie neugierig. »Willst du mir vielleicht verraten, wieso? Und wieso musste dein blitzblank funkelnder Mercedes überhaupt in die Waschanlage?« Mit vor der Brust verschränkten Armen zog sie eine Braue in die Höhe.
»Och, ich hatte halt Langeweile, Schwesterlein. Außerdem war das Auto nicht blitzblank, sondern es hatte die Wäsche dringend nötig.«
»Pah, das ich nicht lache. Pass auf, dass du dein vierrädriges Schätzchen nicht aus Versehen mit ins Bett nimmst. Anna könnte es dir übel nehmen. – Mal im Ernst. Was hast du vor?«
Viktor erzählte seiner Schwester zuerst von Annas Problemen und grinste dann spitzbübisch, als er ihr sein Vorhaben offerierte.
***
Hätte sie gekonnt, sie hätte Herrn Bionda mit Blicken getötet, so wütend war sie. Aber er war nun einmal ihr Lehrer und besaß somit den längeren Arm, durchfuhr es Anna unwillig. So saß sie frustriert, mit zornrotem Kopf auf ihrem Klassenstuhl und versuchte, sich mit üblen Mordgedanken von der Erinnerung an die Demütigung durch den Erdkundelehrer abzulenken. Doch das misslang ihr gründlich. Missmutig ließ sie alles noch einmal Revue passieren:
… Wie so häufig hatte Herr Bionda sie vor der ganzen Klasse drangenommen und sich dabei süffisant über ihre Geografie-Hausarbeiten hergemacht.
Mit einem genüsslichen Grinsen im Gesicht studierte er Annas Heft, um dann ganze Passagen ihrer Statistikanalyse laut vorzulesen:
»Ja, hören Sie nur, wie Fräulein Nell in ihrer nett naiven Weise dieses Problem angegangen ist. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet, Fräulein Nell. Tja, Sie sind der Problemstellung mit Ihren artigen Ausführungen doch recht nahegekommen. Durchaus sieben Punkte wert. Das ist doch schon mal was, nicht wahr? Besonders, wenn man die Note Ihrer letzten Klausur bedenkt.«
»Nur nicht heulen, Anna! Das will der doch bloß!«
Anna hob den Kopf und starrte dem Lehrer direkt in die wässrigen Augen. Dabei versuchte sie, ihre Stimme zu beherrschen, fand allerdings, dass sie ein klein wenig zu hoch klang.
»Oh, vielen Dank, Herr Bionda«, bemerkte sie knapp.
»Bionda du bist ein blödes, arrogantes Schweinearschloch!«
Sie hörte ihre Mitschüler leise kichern, nur Janine beließ es natürlich nicht bei einem einfachen Kichern, sondern brüllte vor Lachen. …
»Warum müssen eigentlich ausgerechnet die allerschlimmsten meiner sogenannten Mitschüler dieselben Hauptfächer belegen wie ich? Himmelherrschaftszeiten! Und will diese Scheißstunde denn nie zu Ende gehen?«
Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte der erlösende Gong.
»Puh, Feierabend! Nichts wie weg!«
Augenblicklich griff Anna nach ihrer Tasche und wandte sich zum Gehen, ohne weiter auf Mitklässler oder Lehrer zu achten. Sie wusste, dass sie wieder oder eher noch ein gerötetes Gesicht hatte, denn sie war ja immer noch fuchsteufelswild. Gerade, als sie die Tür erreichte, hielt sie eine Hand sanft am Arm fest.
»Hey, mach dir nix draus, Anna. Die sind doch alle total daneben.«
Paul Kiener, ein großer, dünner Junge mit ein paar kleinen Pickeln im freundlichen Gesicht, mausgrauen Augen, kurzen sandfarbenen Haaren und einem immerwährenden Lächeln stand neben ihr. Im Gegensatz zu den meisten anderen war Paul stets nett zu ihr, aber so gar nicht ihr Typ. Besonders unangenehm fand Anna seine Freundlichkeit, seitdem sie ihre »spezielle Gabe« entdeckt hatte und seine Gefühle ihr gegenüber wahrnehmen konnte.
»Oh je, Paul, ich mag dich ja auch, aber nicht so, wie du dir das wünschst.«
»Lass mal, Paul, es geht schon«, erwiderte sie hastig und machte sich von ihm los, um schnell das Weite zu suchen. Hinter ihr ertönte aufs Neue das spöttische Gelächter von Janine und deren Freunden.
Wieder oder immer noch feuerrot verließ Anna fluchtartig das Schulgebäude. Draußen richtete sie den wutgesenkten Kopf auf, schloss die Augen und sog die frische, kühlende Luft ein, so, als könnte sie damit die vergangene Horrorstunde aus ihrem Hirn vertreiben.
»Na, wenigstens habe ich dreizehn Punkte für das Bio-Referat bekommen.«
»Herzlichen Glückwunsch, Anna.«
Völlig perplex wandte sie sich der Stimme zu und blinzelte ungläubig bei dem, was sie hörte und sah:
Da stand er! Lässig an die Tür seines schicken, funkelnd glänzenden Cabrios gelehnt, die langen Beine an den Fußknöcheln überkreuzt, die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkt, schlicht mit schwarzer Jeans und schwarzem Hemd bekleidet. Viktor sah einfach umwerfend aus.
Er breitete die Arme aus und zeigte seine Grübchen. »Was ist, Kleines, krieg ich keinen Kuss?«
Zunächst zögerte sie, weiterhin ungläubig staunend. »Viktor? Ich … Was machst du denn hier? Das ist aber …« Die letzten Schritte rannte sie, sprang ihm vor Freude ungestüm in die Arme und küsste ihn leidenschaftlich.
»Das ist ja eine Überraschung! Ist das schön, dass du hier bist! Endlich ein einigermaßen gescheiter Mensch – wenn auch nur halb.«
Nach dem Kuss rückte Viktor ein wenig von ihr ab und runzelte die Stirn. »Soso, du hältst mich also für nur einigermaßen gescheit und nur halb?«, meinte er ernst. Doch dann lächelte er wieder, hob mit einem Finger ihr Kinn an, weil sie den Kopf sinken ließ, und erwiderte ihren Kuss, und zwar äußerst besitzergreifend.
Er löste seine Lippen von ihren, behielt jedoch sein Gesicht dicht an Annas, sodass sein Atem sie streifte. Leuchtend dunkelblaue Augen drohten sie zu verschlingen, ehe Viktors Blick an ihr vorbei – geradewegs zum Eingangsportal der Schule wanderte und er breit zu grinsen begann. »Scheint ja echt eine tolle Show zu sein, die wir denen liefern, Anna.«
Sie folgte seinem blitzenden Blick und hielt den Atem an, als sie alle dort herumlungern sah. All ihre »hochgeliebten« Mitschüler, sogar ein paar Lehrer, die staunend herübergafften.
Selbst Herr Bionda, der wohl gerade den Heimweg antreten wollte, blieb wie angewurzelt stehen.
»Ooh!«
»Komm, Süße. Ich dachte, ich hole dich heute mal ab. Ich hab auch schon mit deiner Mama telefoniert. Sie hat nichts dagegen, dass du den Nachmittag mit mir verbringst. Oder hast du keine Lust?«
Anna tauchte aus ihrer Verwirrung auf. »Wie?« Sie brauchte ein Weilchen, um sich zu sortieren. »Oh doch, sehr gerne. Das ist sehr aufmerksam von dir, hhm, richtig nett.«
»Ich bin halt mehr der nette Typ«, merkte Viktor trocken an.
Für einen weiteren zwar kurzen, aber ausgesprochen innigen Kuss stellte Anna sich auf die Zehenspitzen.
»Wow! Das hast du extra gemacht, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber ich bin so froh, dass du gekommen bist. Bring mich schnell hier weg.«
Viktor öffnete ihr die Beifahrertür, wobei er einen letzten, äußerst nachhaltigen Blick auf die vorm Schuleingang versammelte Schar warf, bevor er selbst in den Wagen stieg. Er lachte herzhaft. Verwundert registrierte Anna, dass er sich insbesondere über das verdutzte rundliche Gesicht eines ganz bestimmten Mädchens köstlich amüsierte.
»Das ist bestimmt Janine. Hab ich recht?«, hörte sie ihn in ihrem Kopf.
»Janine? – Oh ja, das stimmt. Das ist Janine Tronso, die ist echt … Moment mal! Ich hab dir nie etwas von ihr erzählt. – Du hast wieder gespinxt, Viktor!«
Sie schlug ihm mit der flachen Hand aufs rechte Bein, was ihm erneut ein Lachen entlockte. Dann ließ er den Motor einmal kurz aufheulen und fädelte sich elegant in den Straßenverkehr ein.
Noch Minuten später schien er sein Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen zu können, obwohl Anna mit verschränkten Armen neben ihm saß, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Als er ihre Miene bemerkte, wurde er ernst. »Ach, komm schon, nicht böse sein. Ich weiß ja, dass ich nicht in deinen Kopf hätte schauen sollen. Aber glaub mir bitte, das wollte ich auch gar nicht. Nur sind mir deine Gedanken gestern Abend einfach so zugeflogen, wie von selbst. Echt.«
Anna dachte über Viktors Erklärungsversuch nach und darüber, wie sie tatsächlich am Abend zuvor vergeblich versucht hatte, ihren Geist abzuriegeln. »Und da hast du dir überlegt, dich heute mal bei meiner Schule vorzustellen, stimmt’s? Natürlich nicht zu Fuß, sondern mit deinem schmucken Cabrio.«
»Stimmt. Selbstverständlich hätte ich auch ohne den Wagen ordentlich Eindruck auf diese Idioten gemacht.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber ich dachte mir halt, mit Auto kommt besser. Ganz nach dem Motto: Wenn schon, denn schon.«
Annas Laune hellte sich auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken, ehe sie wie ein kleines Mädchen kicherte. Dann brach das Lachen aus ihr heraus. »Die blöden Gesichter von Bionda und Janine – einfach unbezahlbar!«, prustete sie. »Das war wirklich sensationell. Oh mein Gott, was sind die sch…«
»Stopp, stopp, Kleines! Über deine Ausdrucksweise, sowohl verbal als auch nonverbal, müssen wir uns dringend unterhalten. Du willst dich doch wohl nicht auf deren Niveau begeben?« Er schmunzelte.
Anna gluckste. »Nein, das will ich nun wirklich nicht. Aber manchmal hilft es mir dabei, nicht die Beherrschung zu verlieren. Gerade heute, in der letzten Stunde, war es besonders schlimm.«
»Ja, das habe ich mitbekommen«, bestätigte er nachdenklich. »Das tut mir leid, Anna. Dieser Bionda scheint ein echter Fiesling zu sein.« Er sah zu ihr rüber. »Du hättest es mir erzählen sollen. Du hast versucht, deine Sorgen vor mir zu verheimlichen. Das war nicht richtig.«
»Schau auf die Straße, Viktor.« Sie atmete tief durch. »Du hast ja recht, aber ich bin es so gewohnt. Ich bin nun mal keine Petze, die bei jedem Problemchen weinend zu Mami rennt. Ich habe seit jeher versucht, selbst damit klarzukommen. Das habe ich schließlich schon immer so gemacht. Zu Kindergarten-, Grundschul- und zu ›Böser-Jens‹-Zeiten. Ich bin es eben gewohnt, geärgert und gehänselt zu werden. Das macht mir nichts aus.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht!« Viktor klang wütend. »An so was kann sich keiner gewöhnen! So was macht nämlich jedem was aus! Das ist totaler Bullshit, den du da redest!«
»So viel zum Niveau«, bemerkte Anna spitz und brachte Viktor damit zum Lachen.
Sie freute sich, ihm den Wind aus den Segeln genommen zu haben, wusste jedoch, dass die Angelegenheit damit noch lange nicht vom Tisch war.
»Das war echt süß von dir. Echt süß. Danke!«
Viktor ergriff ihre Hand und führte sie zu seinen Lippen, um jeden Knöchel einzeln zu küssen. Anna schmolz dahin, riss sich aber wieder zusammen, da ihr bewusst wurde, dass sie im Auto saßen und Viktor grundsätzlich zu schnell fuhr.
»Schauen Sie bitte auf die Straße, Herr Müller. Und immer schön auf die Verkehrsregeln achten«, maßregelte sie ihn und er schmunzelte wieder.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«, wollte sie wissen, als sie bemerkte, welchen Weg er einschlug.
»Tja, ich dachte, ich lade dich zur Feier des Tages zum Essen nach Düsseldorf ein.«
»Zur Feier des Tages?«
»Dreizehn Punkte in Bio. Hey, die alleine sind schon eine kleine Feier wert, findest du nicht? Vielleicht könnten wir nach dem Essen auch noch ein wenig am Rhein spazieren gehen. Es ist so schönes Wetter und du sollst mal was anderes sehen als den Wald und das Reetdachhaus. Was meinst du?«
»Ach, Viktor, das hast du also auch alles mitgekriegt. Du sollst doch nicht immer in meinem Kopf herumstöbern. So war das doch gar nicht gemeint.«
»Nein, Anna«, unterbrach er sie, »ich finde, du hast durchaus recht. Nach der Geschichte mit Kana und Kaoul wollte ich dich nur noch ganz nah bei mir haben. Ich glaube, ich hab ein bisschen Paranoia entwickelt, weil ich ja nicht wusste, wie Kanas Brüder auf die ganze Sache reagieren würden.«
Anna sah Viktor verständnislos an.
»Na ja, die südlichen Elfen haben es schließlich ganz schön mit ihrer Rachgier«, erklärte er. »Deswegen war ich in Sorge und wie von Sinnen vor Angst um dich. Aber du hast ja von Vitus gehört, dass das alles unbegründet war. Also, lass dich überraschen und uns was unternehmen.« Er lächelte vergnügt. »Wir haben Zeit. Du hast so gut wie keine Hausarbeiten aufbekommen. Das habe ich nämlich auch mitgekriegt.«
»Okay«, erwiderte sie gedehnt und freute sich.
***
Die Überraschung war ihm gelungen, meinte Anna. Sehr gelungen sogar. Denn nun saß sie völlig unverhofft mit Viktor im Restaurant des Hyatt-Regency-Hotels im Düsseldorfer Hafen.
Etwas unangenehm fand sie es allerdings schon, sich in einem derart eleganten Hotel aufzuhalten, zumal sie sich ihrer Kleidung bewusst wurde:
Schlichte ausgewaschene Jeans. Dazu eine uralte hellblaue Bluse mit der weißen Strickjacke vom letzten Jahr und zudem reichlich abgetragene graue Chucks. Kein Make-up, keine ordentliche Frisur. Sie hatte sich am Morgen die Haare nur zu einem schnellen Pferdeschwanz zusammengebunden und sich kein bisschen geschminkt, um so noch um Haaresbreite pünktlich zum Biologieunterricht zu erscheinen. Für den Unterricht eine durchaus passende Aufmachung, so meinte sie. Doch in dieser Umgebung fühlte sie sich absolut deplatziert und unwohl.
Die vornehme Atmosphäre des exklusiven Hotels schüchterte sie ein bisschen ein, obwohl ihr das stilvolle warme Ambiente durchaus gefiel. Insbesondere die teilweise großzügig verglaste Fassade des Restaurants, die einen fantastischen Blick auf den Hafen preisgab, den Anna allerdings wegen ihres vermeintlich untauglichen Outfits nicht richtig genießen konnte.
So saß sie mit durchgedrücktem Rücken und gestrafftem Schultern wie ein gespannter Flitzebogen auf ihrem Stuhl.
»Werd doch mal locker, Kleines. Das Essen ist doch super, findest du nicht auch? Und wenn du dich genauer umschauen würdest, dann müsstest du bemerken, dass hier fast alle leger angezogen sind. Außerdem bist du sowieso die mit Abstand schönste Frau im Raum.«
Er griff über den Tisch nach Annas Hand, weil sie wie üblich nicht auf sein Kompliment reagiert hatte. Obwohl er sich maßlos über ihre Skepsis zu ärgern schien, überging er diese höflich.
»Nachtisch?«, erkundigte er sich, als die letzte Muschel von ihrem Teller verschwunden war.
»Auf keinen Fall, ich bin total satt. Das war echt gut, aber mehr geht nicht.«
Sie blickte sich um.
»Na ja, zu underdressed bin ich wohl wirklich nicht. Und Viktors Kompliment lässt sich leicht nachvollziehen. Schließlich bin ich mit Sicherheit um einiges jünger als die anderen Damen hier. – Ach, Schitt! Das hat er bestimmt mitgekriegt.«
Während sie noch peinlich berührt auf der Unterlippe kaute, wischte Viktor sich gerade den Mund an einer weißen Stoffserviette ab, als sich sein Blick merklich verdunkelte und er das Tuch zornig auf den Tisch warf. Seine Augen verengten sich kurz. Dann aber atmete er einmal durch, wohl um sich zu sammeln.
Er gab dem Ober ein Zeichen zum Bezahlen. Der freundliche Mann kam postwendend mit einem Ledermäppchen, in der sich die Rechnung befand, welche Viktor bar beglich. Nachdem er ein reichliches Trinkgeld gegeben hatte, verabschiedeten sie sich höflich, wobei er Anna dann doch etwas grob aus dem Entre des Hotels bugsierte.
»Du bist immer noch sauer?«
»Ja!«, knurrte Viktor.
Draußen drehte er sie unwirsch zu sich und sah ihr in die Augen. Sein Blick war unergründlich. So hatte Anna ihn noch nie erlebt. Er holte tief Luft, bevor er sprach. Die brauchte er offensichtlich, um seine Fassung zu wahren.
»Anna, ich bin es leid. Ich bin es leid, ständig gegen eine Wand zu laufen und gegen Windmühlen zu kämpfen. Ich weiß, man hat dir oft wehgetan. Diese idiotischen Mitschüler und Lehrer, selbst dein Bruder früher. Und das tut mir unendlich leid, das musst du mir glauben. Aber du trägst selbst auch Schuld daran. Du hast dich nämlich nie dagegen gewehrt. Du darfst dir so etwas nicht gefallen lassen, hörst du? Damit muss Schluss sein, verdammt noch mal!«
Er schüttelte sie richtiggehend und sie machte sich daraufhin entsetzt von ihm los, sagte jedoch kein Wort.
Frustriert fuhr sich Viktor mit der Hand durch seine braunen Mahagoni–Locken. Dann wurde sein Blick wieder weich. Er griff nach ihr, obwohl sie halbherzig versuchte, sich ihm zu entwinden, und nahm sie in den Arm. Sie widersetzte sich ihm nicht. Sie war viel zu verwirrt.
»Ich möchte doch nur, dass du dich endlich so siehst, wie du wirklich bist, meine Süße.« Er küsste sie zärtlich aufs Haar. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. So sehr.« Ihre Stimme zitterte. Dennoch gab sie sich alle Mühe, die aufkommenden Tränen zurückzublinzeln.
»Komm, lass uns zum Rhein gehen. Wir könnten in der Altstadt noch einen Kaffee trinken, was meinst du?«
»Ja, gern«, flüsterte sie erleichtert. »Gute Idee.«
Annas Stimmung hellte sich bei jedem Schritt, den sie mit Viktor Arm in Arm am Rhein entlangschlenderte, wieder auf. Er hatte ihr liebevoll seine Jacke über die Schultern gehängt, weil es unten am Fluss trotz des herrlich sonnigen Herbstwetters recht frisch war.
Sie genoss das wunderschöne Panorama – mit Rheinturm, Landtag, Knie-Brücke, Schlossturm und St. Lambertuskirche – und das rege Treiben an den Kasematten.
Anna mochte diesen Ort im Herzen Düsseldorfs, mit seinen vielen Facetten und Kontrasten:
Links – der Rhein, auf dem hier und da ein paar große Flusskähne rauf und runter schipperten. Zwar flitzte auch hin und wieder ein flottes Motorboot über die Fluten hinweg, doch insgesamt wirkte der Strom auf sie irgendwie ruhig und behäbig, fast träge, obwohl er so breit und reißend und durchaus gefährlich war.
Ein Gegensatz in sich, dachte Anna. Dann richtete sie ihren Blick über den Strom. Dorthin, wo sich hinter den Oberkassler Rheinwiesen die hübschen bunten Häuschen malerisch aneinanderreihten und die Illusion einer gemütlichen Kleinstadt vermittelten.
Sie spazierten an der Uferpromenade entlang, inmitten des lebendigen Getümmels. Überall flanierten Spaziergänger, huschten Rollerblader und Fahrradfahrer um die Wette, torkelten »Junggesellenabschiedler« durch die Reihen und saßen Leute schwatzend mit Getränken in der Hand.
Anna nahm die Kulisse tief in sich auf, wie immer, wenn ihr eine Landschaft, eine Stimmung oder manchmal auch nur ein bestimmtes Licht besonders gefielen. Dann saugte sie den Gesamteindruck auf wie ein Schwamm und entspannte sich herrlich dabei.
Viktor aber schien angespannt zu sein. Sie spürte deutlich seine innere Unzufriedenheit, weil er sich hatte gehenlassen, obwohl er genau wusste, dass er damit nicht an sie herankam. Er hatte einfach nur ein paar schöne, unbeschwerte Stunden mit ihr verbringen wollen und sich stattdessen wie ihr Vormund aufgeführt.
Zutiefst in seine Selbstvorwürfe versunken registrierte er nicht sofort, dass Anna stehen geblieben war und ihn gut gelaunt anlächelte.
»Hör auf zu grübeln, Viktor. Lass uns nicht mehr drüber reden, jedenfalls nicht jetzt.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn fröhlich auf den Mund. »Wir waren im Hyatt essen. Das war toll. Und ich liebe Düsseldorf. Lass uns noch ein Eis essen gehen, ja?«
Sie lachte.