Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 7

Über­ra­schung

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Am Sonn­tag­abend saß An­na wie­der ein­mal am Schreib­tisch und ver­such­te sich an den rest­li­chen Haus­auf­ga­ben für den kom­men­den Schul­tag. Als sie er­neut in Träu­me­rei­en ab­drif­te­te, fing sie zu ki­chern an. Ihr Nacken krib­bel­te und ein woh­li­ger Schau­er lief ihr über den Rü­cken. Vik­tors war­mes Bett, sei­ne Lei­den­schaft und all die Din­ge, die er mit ihr tat und wie er sie mit ihr tat, weck­ten in ihr ei­ne schier un­er­mess­li­che Lust. Und sie hat­te da­bei nicht nur das Be­dürf­nis, die­se Lust zu stil­len, son­dern sie auch an ihn wei­ter­zu­ge­ben. Die­ses ge­gen­sei­ti­ge Ge­ben und Neh­men ließ An­na Gren­zen über­schrei­ten, von de­nen sie gar nicht ge­wusst hat­te, dass es sie gab.

Da sie be­fürch­te­te, Vik­tor könn­te aufs Neue in ih­rem Kopf her­um­stö­bern, ver­schanz­te sie ei­lig ih­ren Geist. Sie lieb­te ihn wirk­lich sehr, aber er brauch­te ja nicht al­les von ihr zu wis­sen. Sie schüt­tel­te den Kopf, als ver­such­te sie, da­mit Ord­nung dar­in zu schaf­fen, und es ge­lang ihr.

Der Ge­dan­ke an die Schu­le ver­setz­te An­na al­ler­dings wie üb­lich einen Stich. Ei­gent­lich ging sie gern dort­hin. Es wür­de ihr nur noch viel bes­ser ge­fal­len, wenn es dort nicht so furcht­bar vie­le Spröss­lin­ge stein­rei­cher Leu­te gä­be, die mit ih­ren sünd­haft teu­ren Kla­mot­ten hoch­nä­sig durch die Gän­ge stol­zier­ten und sie mit an­ma­ßen­den Ges­ten be­dach­ten. Als gä­be es nichts Wich­ti­ge­res im Le­ben! Das ver­lei­de­te ihr oft den Spaß.

»Gott, wie ich die­se ober­fläch­li­chen An­ge­ber­ty­pen und Tus­sen has­se!«


… Prompt tauch­te das Bild von Ja­ni­ne Tron­so vor ih­rem geis­ti­gen Au­ge auf – wie her­ab­las­send die An­na in der letz­ten Vol­ley­ball­stun­de be­han­delt hat­te:

»Los, gib mir den Ball rü­ber, Schätz­chen! Ich muss Auf­schlä­ge üben!«

An­na gab ihr den Ball. Und wie! So könn­te man es je­den­falls nen­nen. Sie pfef­fer­te den Ball näm­lich recht hart an den Kopf die­ser blö­den Kuh und rann­te da­nach ein­fach hin­aus. Wahr­schein­lich hat­te Ja­ni­ne nicht ein­mal mit­be­kom­men, dass An­na die­je­ni­ge ge­we­sen war, die ihr den Ball an den Kopf ge­schmet­tert hat­te. Denn, nach­dem der be­sag­te Ball einen or­dent­li­chen Tref­fer bei Ja­ni­ne ge­lan­det hat­te, war die zwar mit jau­len­dem Ge­ze­ter hin­ten­über­ge­kippt, hat­te un­ter­des­sen al­ler­dings nicht ein­mal in An­nas Rich­tung ge­schaut. Au­gen­schein­lich hat­te die­se däm­li­che Pu­te er­war­tet, dass man ihr den ver­fluch­ten Vol­ley­ball ehr­furchts­voll in die aus­ge­steck­ten, »be­gna­de­ten« Hän­de leg­te, wäh­rend sie sich auf den be­scheu­er­ten Ab­schlag kon­zen­trier­te. …


»Grrr! Was für ei­ne blö­de Oberkuh!«

Ver­är­gert über sich selbst, weil sie sich im­mer wie­der über die­ses un­aussteh­li­che Mäd­chen auf­reg­te, schüt­tel­te An­na aber­mals den Kopf und trös­te­te sich da­mit, dass nur noch fünf Schul­ta­ge bis zu den Herbst­fe­ri­en vor ihr la­gen.

Und da An­nas Va­ter ih­re Mut­ter da­zu hat­te über­re­den kön­nen, zu zweit ei­ne Wo­che lang Ur­laub auf der Nord­see­in­sel zu ma­chen, wür­de An­na ex­akt die­se Zeit ganz al­lein mit Vik­tor ver­brin­gen.

Das mach­te sie gleich dop­pelt glü­ck­lich, denn der Mut­ter ging es end­lich wie­der gut. Seit The­resas Kli­ni­k­auf­ent­halt war zwar schon ei­ni­ge Zeit ver­gan­gen, aber An­na wür­de nie­mals ver­ges­sen, wie sehr sie sich wäh­rend­des­sen ge­sorgt hat­te.

In Vor­freu­de auf die kom­men­de Herbst­fe­ri­en­wo­che mit Vik­tor mal­te sie sich aus, was sie al­les un­ter­neh­men könn­ten. Ih­re Über­le­gun­gen reich­ten von Sight­see­ing in der El­fen­welt über Ki­no­be­such bis hin zum Spa­zier­gang am Rhein in Düs­sel­dorf.

Es wur­de höchs­te Zeit, mal et­was an­de­res zu se­hen, über­leg­te sie. Selbst nach dem Sieg über Ka­na und Kaoul hat­te es für An­na fast nur die Schu­le, ihr Zu­hau­se oder das Reet­dach­haus ge­ge­ben. Auch war sie der viel zu schnel­len Au­to­fahr­ten mit Vik­tor über­drüs­sig ge­wor­den. Viel­leicht soll­te sie sich end­lich da­zu durch­rin­gen, den Füh­rer­schein zu ma­chen. Wenn da nur nicht im­mer ih­re Ner­vo­si­tät wä­re.

Er­schro­cken horch­te An­na in sich hin­ein.

»Puh, kein Vik­tor, dem Him­mel sei Dank! Das hät­te wie­der ei­ne Straf­pre­digt ge­ge­ben, von we­gen Selbst­be­wusst­sein und so.«

An­na seufz­te. Wenn sie sich nicht bald zu­sam­men­riss, stün­de sie mor­gen mit lee­ren Hän­den vor »Mis­ter Ich–bin–ein–ar­ro­gan­ter–Geo–Leh­rer–und–Blond­chen–Has­ser Bion­da«. An­na ver­dreh­te die Au­gen. Sie fand ih­ren Erd­kun­de­leh­rer na­mens Bion­da ein­fach nur ät­zend und war froh, dass ihr, ne­ben dem heiß­ge­lieb­ten Deutsch-Leis­tungs­kurs, we­nigs­tens der Bio­lo­gie­un­ter­richt ei­ni­ger­ma­ßen Spaß mach­te.

Der Bio­leh­rer, Herr Zitt, war zwar ziem­lich streng, aber nicht so schreck­lich alt und knö­chern wie vie­le an­de­re, ins­be­son­de­re Herr Bion­da. Al­ler­dings be­saß er ei­ne untrüg­li­che Ab­nei­gung ge­gen Un­pünkt­lich­keit al­ler Art, was ihr schon ein paar­mal »Aus­sper­rung« vom Un­ter­richt ein­ge­bracht hat­te.

Die Er­in­ne­rung, wie sie am Mon­tag­mor­gen zur ers­ten Stun­de vor der ver­schlos­se­nen Klas­sen­tür ge­stan­den hat­te, nur ein ganz paar Mi­nu­ten zu spät, ließ sie schmun­zeln.


… Sie hat­te um Ein­lass klop­fen und bit­ten müs­sen, be­vor ihr Herr Zitt mit be­lus­tig­ter Mie­ne die Tür auf­schloss, sie ein­ließ und dar­auf­hin gna­den­los zu den Haus­a­r­bei­ten be­frag­te. Lei­der er­wi­sch­te er sie bei sol­chen Ak­ti­o­nen häu­fig auf dem falschen Fuß. Ge­ra­de an die­sem Mon­tag war es be­son­ders schlimm ge­we­sen und ih­re ach so lie­ben Mit­schü­ler, spe­zi­ell Ja­ni­ne, hat­ten sich mal wie­der aus­gie­big auf An­nas Kos­ten amü­siert. …


So et­was soll­te auf kei­nen Fall noch ein­mal pas­sie­ren.

Das rest­li­che Bio-Re­fe­rat und die Aus­wer­tung der Sta­tis­tik über die Städ­te­be­völ­ke­rung im Ruhr­ge­biet ge­nos­sen nun ers­te Pri­o­ri­tät.

Au­ßer­dem stell­te An­na sich We­cker und Han­dy, um si­cher­zu­stel­len, dass sie am nächs­ten Mor­gen pünkt­lich zur ers­ten Stun­de in Bio er­schei­nen wür­de.

***

Nach dem Früh­stück such­te Vik­tor auf dem So­fa bei den Kil­lers Ent­span­nung, aber selbst sei­ne der­zei­ti­ge Lieb­lings­mu­sik konn­te ihm die schlech­te Lau­ne nicht ver­trei­ben. Stän­dig muss­te er an den ver­gan­ge­nen Abend den­ken, an wel­chem er recht vie­le Ge­dan­ken­fet­zen auf­ge­schnappt hat­te, die An­nas Schutz­maß­nah­men wohl ent­f­leucht wa­ren.

Sei­ne Lau­ne ver­düs­ter­te sich noch mehr, weil er sich frag­te, wie­so sie ihm nichts von ih­rem Är­ger mit den Leh­rern und Mit­schü­lern er­zählt hat­te. Er konn­te es nicht lei­den, wenn sie sich ihm ge­gen­über ver­schloss. Erst recht konn­te er es nicht lei­den, wenn An­na mal wie­der an sich zwei­fel­te oder sich gar min­der­wer­tig fühl­te. Das war ein Zu­stand, den es un­be­dingt zu än­dern galt, über­leg­te er, und such­te fie­ber­haft nach ei­ner Lö­sung.

Mit ei­nem Mal hell­te sich sei­ne Stim­mung wie­der auf. »Na war­te, Fräu­lein Nell«, sprach er vor sich hin. »Wenn du mir nicht sagst, was da los ist, dann schaue ich mir die gan­ze Sa­che ein­fach mal aus der Nä­he an.«

Er sprang von der Couch und stieg in die ihm so ver­hass­ten Con­ver­ses. Schu­he wa­ren ein­deu­tig ein Man­ko in der Men­schen­welt. Doch weil die nun ein­mal da­zu­ge­hör­ten, igno­rier­te er das be­en­gen­de Ge­fühl an den Fü­ßen, schnapp­te sich Au­to­sch­lüs­sel und Le­der­ja­cke, be­vor er zur Trep­pe hoch rief: »Ich fah­re noch schnell durch die Wasch­an­la­ge, Vik­to­ria! Bin gleich wie­der da!«

Er konn­te noch einen Blick auf das ver­wun­der­te Ge­sicht sei­ner Schwes­ter er­ha­schen, als die­se mit ei­nem vor Fa­r­be trie­fen­den Pin­sel in der Hand zur Trep­pe hin­un­ter­schau­te. Fah­rig strich sie sich mit dem Hand­rü­cken über die Stirn, oh­ne zu be­mer­ken, wie dort ein di­cker grü­ner Klecks zu­rück­b­lieb.

»Wasch­an­la­ge? War­um?«

Ach­sel­zu­ckend kehr­te sie in ihr Zim­mer zu­rück, wäh­rend Vik­tor die Haus­tür zu­zog.

Kei­ne hal­be Stun­de spä­ter lag er wie­der auf dem So­fa und lä­chel­te selbst­zu­frie­den in sich hin­ein, als sei­ne Schwes­ter zu ihm trat.

»Na, du hast ja gu­te Lau­ne«, be­merk­te sie neu­gie­rig. »Willst du mir viel­leicht ver­ra­ten, wie­so? Und wie­so muss­te dein blitz­blank fun­keln­der Mer­ce­des über­haupt in die Wasch­an­la­ge?« Mit vor der Brust ver­schränk­ten Ar­men zog sie ei­ne Braue in die Hö­he.

»Och, ich hat­te halt Lan­ge­wei­le, Schwes­ter­lein. Au­ßer­dem war das Au­to nicht blitz­blank, son­dern es hat­te die Wä­sche drin­gend nö­tig.«

»Pah, das ich nicht la­che. Pass auf, dass du dein vier­räd­ri­ges Schätz­chen nicht aus Ver­se­hen mit ins Bett nimmst. An­na könn­te es dir übel neh­men. – Mal im Ernst. Was hast du vor?«

Vik­tor er­zähl­te sei­ner Schwes­ter zu­erst von An­nas Pro­ble­men und grins­te dann spitz­bü­bisch, als er ihr sein Vor­ha­ben of­fe­rier­te.

***

Hät­te sie ge­konnt, sie hät­te Herrn Bion­da mit Bli­cken ge­tö­tet, so wü­tend war sie. Aber er war nun ein­mal ihr Leh­rer und be­saß so­mit den län­ge­ren Arm, durch­fuhr es An­na un­wil­lig. So saß sie frus­triert, mit zorn­ro­tem Kopf auf ih­rem Klas­sen­stuhl und ver­such­te, sich mit üb­len Mord­ge­dan­ken von der Er­in­ne­rung an die De­mü­ti­gung durch den Erd­kun­de­leh­rer ab­zu­len­ken. Doch das miss­lang ihr gründ­lich. Miss­mu­tig ließ sie al­les noch ein­mal Re­vue pas­sie­ren:


… Wie so häu­fig hat­te Herr Bion­da sie vor der gan­zen Klas­se dran­ge­nom­men und sich da­bei süf­fi­sant über ih­re Geo­gra­fie-Haus­a­r­bei­ten her­ge­macht.

Mit ei­nem genüss­li­chen Grin­sen im Ge­sicht stu­dier­te er An­nas Heft, um dann gan­ze Pas­sa­gen ih­rer Sta­tis­ti­k­ana­ly­se laut vor­zu­le­sen:

»Ja, hö­ren Sie nur, wie Fräu­lein Nell in ih­rer nett na­i­ven Wei­se die­ses Pro­blem an­ge­gan­gen ist. Das hät­te ich gar nicht von Ih­nen er­war­tet, Fräu­lein Nell. Tja, Sie sind der Pro­blem­stel­lung mit Ih­ren ar­ti­gen Aus­füh­run­gen doch recht na­he­ge­kom­men. Durch­aus sie­ben Punk­te wert. Das ist doch schon mal was, nicht wahr? Be­son­ders, wenn man die No­te Ih­rer letz­ten Klau­sur be­denkt.«

»Nur nicht heu­len, An­na! Das will der doch bloß!«

An­na hob den Kopf und starr­te dem Leh­rer di­rekt in die wäss­ri­gen Au­gen. Da­bei ver­such­te sie, ih­re Stim­me zu be­herr­schen, fand al­ler­dings, dass sie ein klein we­nig zu hoch klang.

»Oh, vie­len Dank, Herr Bion­da«, be­merk­te sie knapp.

»Bion­da du bist ein blö­des, ar­ro­gan­tes Schwei­ne­arsch­loch!«

Sie hör­te ih­re Mit­schü­ler lei­se ki­chern, nur Ja­ni­ne beließ es na­tür­lich nicht bei ei­nem ein­fa­chen Ki­chern, son­dern brüll­te vor La­chen. …

»War­um müs­sen ei­gent­lich aus­ge­rech­net die al­ler­schlimms­ten mei­ner so­ge­nann­ten Mit­schü­ler die­sel­ben Haupt­fä­cher be­le­gen wie ich? Him­mel­herr­schafts­zei­ten! Und will die­se Scheiß­stun­de denn nie zu En­de ge­hen?«

Nach ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit er­tön­te der er­lö­sen­de Gong.

»Puh, Fei­er­abend! Nichts wie weg!«

Au­gen­blick­lich griff An­na nach ih­rer Ta­sche und wand­te sich zum Ge­hen, oh­ne wei­ter auf Mit­kläss­ler oder Leh­rer zu ach­ten. Sie wuss­te, dass sie wie­der oder eher noch ein ge­röte­tes Ge­sicht hat­te, denn sie war ja im­mer noch fuchs­teu­fels­wild. Ge­ra­de, als sie die Tür er­reich­te, hielt sie ei­ne Hand sanft am Arm fest.

»Hey, mach dir nix draus, An­na. Die sind doch al­le to­tal da­ne­ben.«

Paul Kie­ner, ein gro­ßer, dün­ner Jun­ge mit ein paar klei­nen Pi­ckeln im freund­li­chen Ge­sicht, maus­grau­en Au­gen, kur­z­en sand­fa­r­be­nen Haa­ren und ei­nem im­mer­wäh­ren­den Lä­cheln stand ne­ben ihr. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten an­de­ren war Paul stets nett zu ihr, aber so gar nicht ihr Typ. Be­son­ders un­an­ge­nehm fand An­na sei­ne Freund­lich­keit, seit­dem sie ih­re »spe­zi­el­le Ga­be« ent­deckt hat­te und sei­ne Ge­füh­le ihr ge­gen­über wahr­neh­men konn­te.

»Oh je, Paul, ich mag dich ja auch, aber nicht so, wie du dir das wünschst.«

»Lass mal, Paul, es geht schon«, er­wi­der­te sie has­tig und mach­te sich von ihm los, um schnell das Wei­te zu su­chen. Hin­ter ihr er­tön­te aufs Neue das spöt­ti­sche Ge­läch­ter von Ja­ni­ne und de­ren Freun­den.

Wie­der oder im­mer noch feu­er­rot ver­ließ An­na flucht­ar­tig das Schul­ge­bäu­de. Drau­ßen rich­te­te sie den wut­ge­senk­ten Kopf auf, schloss die Au­gen und sog die fri­sche, küh­len­de Luft ein, so, als könn­te sie da­mit die ver­gan­ge­ne Hor­ror­stun­de aus ih­rem Hirn ver­trei­ben.

»Na, we­nigs­tens ha­be ich drei­zehn Punk­te für das Bio-Re­fe­rat be­kom­men.«

»Herz­li­chen Glü­ck­wunsch, An­na.«

Völ­lig per­plex wand­te sie sich der Stim­me zu und blin­zel­te un­gläu­big bei dem, was sie hör­te und sah:

Da stand er! Läs­sig an die Tür sei­nes schi­cken, fun­kelnd glän­zen­den Ca­bri­os ge­lehnt, die lan­gen Bei­ne an den Fuß­knö­cheln über­kreuzt, die mus­ku­lö­sen Ar­me vor der brei­ten Brust ver­schränkt, schlicht mit schwa­r­zer Jeans und schwa­r­zem Hemd be­klei­det. Vik­tor sah ein­fach um­wer­fend aus.

Er brei­te­te die Ar­me aus und zeig­te sei­ne Grüb­chen. »Was ist, Klei­nes, krieg ich kei­nen Kuss?«

Zu­nächst zö­ger­te sie, wei­ter­hin un­gläu­big stau­nend. »Vik­tor? Ich … Was machst du denn hier? Das ist aber …« Die letz­ten Schrit­te rann­te sie, sprang ihm vor Freu­de un­ge­stüm in die Ar­me und küss­te ihn lei­den­schaft­lich.

»Das ist ja ei­ne Über­ra­schung! Ist das schön, dass du hier bist! End­lich ein ei­ni­ger­ma­ßen ge­schei­ter Mensch – wenn auch nur halb.«

Nach dem Kuss rück­te Vik­tor ein we­nig von ihr ab und run­zel­te die Stirn. »So­so, du hältst mich al­so für nur ei­ni­ger­ma­ßen ge­scheit und nur halb?«, mein­te er ernst. Doch dann lä­chel­te er wie­der, hob mit ei­nem Fin­ger ihr Kinn an, weil sie den Kopf sin­ken ließ, und er­wi­der­te ih­ren Kuss, und zwar äu­ßerst be­sitz­er­grei­fend.

Er lös­te sei­ne Lip­pen von ih­ren, be­hielt je­doch sein Ge­sicht dicht an An­nas, so­dass sein Atem sie streif­te. Leuch­tend dun­kel­blaue Au­gen droh­ten sie zu ver­schlin­gen, ehe Vik­tors Blick an ihr vor­bei – ge­ra­de­wegs zum Ein­gangs­por­tal der Schu­le wan­der­te und er breit zu grin­sen be­gann. »Scheint ja echt ei­ne tol­le Show zu sein, die wir de­nen lie­fern, An­na.«

Sie folg­te sei­nem blit­zen­den Blick und hielt den Atem an, als sie al­le dort her­um­lun­gern sah. All ih­re »hoch­ge­lieb­ten« Mit­schü­ler, so­gar ein paar Leh­rer, die stau­nend her­über­gaff­ten.

Selbst Herr Bion­da, der wohl ge­ra­de den Heim­weg an­tre­ten woll­te, blieb wie an­ge­wur­zelt ste­hen.

»Ooh!«

»Komm, Sü­ße. Ich dach­te, ich ho­le dich heu­te mal ab. Ich hab auch schon mit dei­ner Ma­ma te­le­fo­niert. Sie hat nichts da­ge­gen, dass du den Nach­mit­tag mit mir ver­bringst. Oder hast du kei­ne Lust?«

An­na tauch­te aus ih­rer Ver­wir­rung auf. »Wie?« Sie brauch­te ein Weil­chen, um sich zu sor­tie­ren. »Oh doch, sehr ger­ne. Das ist sehr auf­merk­sam von dir, hhm, rich­tig nett.«

»Ich bin halt mehr der net­te Typ«, merk­te Vik­tor tro­cken an.

Für einen wei­te­ren zwar kur­z­en, aber aus­ge­spro­chen in­ni­gen Kuss stell­te An­na sich auf die Ze­hen­spit­zen.

»Wow! Das hast du ex­tra ge­macht, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich da­von hal­ten soll, aber ich bin so froh, dass du ge­kom­men bist. Bring mich schnell hier weg.«

Vik­tor öff­ne­te ihr die Bei­fahrer­tür, wo­bei er einen letz­ten, äu­ßerst nach­hal­ti­gen Blick auf die vorm Schu­lein­gang ver­sam­mel­te Schar wa­rf, be­vor er selbst in den Wa­gen stieg. Er lach­te herz­haft. Ver­wun­dert re­gis­trier­te An­na, dass er sich ins­be­son­de­re über das ver­dutz­te rund­li­che Ge­sicht ei­nes ganz be­stimm­ten Mäd­chens köst­lich amü­sier­te.

»Das ist be­stimmt Ja­ni­ne. Hab ich recht?«, hör­te sie ihn in ih­rem Kopf.

»Ja­ni­ne? – Oh ja, das stimmt. Das ist Ja­ni­ne Tron­so, die ist echt … Mo­ment mal! Ich hab dir nie et­was von ihr er­zählt. – Du hast wie­der ge­spinxt, Vik­tor!«

Sie schlug ihm mit der fla­chen Hand aufs rech­te Bein, was ihm er­neut ein La­chen ent­lock­te. Dann ließ er den Mo­tor ein­mal kurz auf­heu­len und fä­del­te sich ele­gant in den Stra­ßen­ver­kehr ein.

Noch Mi­nu­ten spä­ter schien er sein Grin­sen nicht aus dem Ge­sicht wi­schen zu kön­nen, ob­wohl An­na mit ver­schränk­ten Ar­men ne­ben ihm saß, die Lip­pen zu ei­nem schma­len Strich zu­sam­men­ge­presst.

Als er ih­re Mie­ne be­merk­te, wur­de er ernst. »Ach, komm schon, nicht bö­se sein. Ich weiß ja, dass ich nicht in dei­nen Kopf hät­te schau­en sol­len. Aber glaub mir bit­te, das woll­te ich auch gar nicht. Nur sind mir dei­ne Ge­dan­ken ges­tern Abend ein­fach so zu­ge­flo­gen, wie von selbst. Echt.«

An­na dach­te über Vik­tors Er­klä­rungs­ver­such nach und dar­über, wie sie tat­säch­lich am Abend zu­vor ver­geb­lich ver­sucht hat­te, ih­ren Geist ab­zu­rie­geln. »Und da hast du dir über­legt, dich heu­te mal bei mei­ner Schu­le vor­zu­stel­len, stimmt’s? Na­tür­lich nicht zu Fuß, son­dern mit dei­nem schmu­cken Ca­brio.«

»Stimmt. Selbst­ver­ständ­lich hät­te ich auch oh­ne den Wa­gen or­dent­lich Ein­druck auf die­se Idi­o­ten ge­macht.« Er zwin­ker­te ihr zu. »Aber ich dach­te mir halt, mit Au­to kommt bes­ser. Ganz nach dem Mot­to: Wenn schon, denn schon.«

An­nas Lau­ne hell­te sich auf. Ih­re Mund­win­kel be­gan­nen zu zu­cken, ehe sie wie ein klei­nes Mäd­chen ki­cher­te. Dann brach das La­chen aus ihr her­aus. »Die blö­den Ge­sich­ter von Bion­da und Ja­ni­ne – ein­fach un­be­zahl­bar!«, prus­te­te sie. »Das war wirk­lich sen­sa­ti­o­nell. Oh mein Gott, was sind die sch…«

»Stopp, stopp, Klei­nes! Über dei­ne Aus­drucks­wei­se, so­wohl ver­bal als auch non­ver­bal, müs­sen wir uns drin­gend un­ter­hal­ten. Du willst dich doch wohl nicht auf de­ren Ni­veau be­ge­ben?« Er schmun­zel­te.

An­na glucks­te. »Nein, das will ich nun wirk­lich nicht. Aber manch­mal hilft es mir da­bei, nicht die Be­herr­schung zu ver­lie­ren. Ge­ra­de heu­te, in der letz­ten Stun­de, war es be­son­ders schlimm.«

»Ja, das ha­be ich mit­be­kom­men«, be­stä­tig­te er nach­denk­lich. »Das tut mir leid, An­na. Die­ser Bion­da scheint ein ech­ter Fies­ling zu sein.« Er sah zu ihr rü­ber. »Du hät­test es mir er­zäh­len sol­len. Du hast ver­sucht, dei­ne Sor­gen vor mir zu ver­heim­li­chen. Das war nicht rich­tig.«

»Schau auf die Stra­ße, Vik­tor.« Sie at­me­te tief durch. »Du hast ja recht, aber ich bin es so ge­wohnt. Ich bin nun mal kei­ne Pet­ze, die bei je­dem Pro­blem­chen wei­nend zu Ma­mi rennt. Ich ha­be seit je­her ver­sucht, selbst da­mit kla­r­zu­kom­men. Das ha­be ich schließ­lich schon im­mer so ge­macht. Zu Kin­der­gar­ten-, Grund­schul- und zu ›Bö­ser-Jens‹-Zei­ten. Ich bin es eben ge­wohnt, ge­är­gert und ge­hän­selt zu wer­den. Das macht mir nichts aus.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht!« Vik­tor klang wü­tend. »An so was kann sich kei­ner ge­wöh­nen! So was macht näm­lich je­dem was aus! Das ist to­ta­ler Bullshit, den du da re­dest!«

»So viel zum Ni­veau«, be­merk­te An­na spitz und brach­te Vik­tor da­mit zum La­chen.

Sie freu­te sich, ihm den Wind aus den Se­geln ge­nom­men zu ha­ben, wuss­te je­doch, dass die An­ge­le­gen­heit da­mit noch lan­ge nicht vom Tisch war.

»Das war echt süß von dir. Echt süß. Dan­ke!«

Vik­tor er­griff ih­re Hand und führ­te sie zu sei­nen Lip­pen, um je­den Knö­chel ein­zeln zu küs­sen. An­na schmolz da­hin, riss sich aber wie­der zu­sam­men, da ihr be­wusst wur­de, dass sie im Au­to sa­ßen und Vik­tor grund­sätz­lich zu schnell fuhr.

»Schau­en Sie bit­te auf die Stra­ße, Herr Mül­ler. Und im­mer schön auf die Ver­kehrs­re­geln ach­ten«, maß­re­gel­te sie ihn und er schmun­zel­te wie­der.

»Wo fah­ren wir ei­gent­lich hin?«, woll­te sie wis­sen, als sie be­merk­te, wel­chen Weg er ein­schlug.

»Tja, ich dach­te, ich la­de dich zur Fei­er des Ta­ges zum Es­sen nach Düs­sel­dorf ein.«

»Zur Fei­er des Ta­ges?«

»Drei­zehn Punk­te in Bio. Hey, die al­lei­ne sind schon ei­ne klei­ne Fei­er wert, fin­dest du nicht? Viel­leicht könn­ten wir nach dem Es­sen auch noch ein we­nig am Rhein spa­zie­ren ge­hen. Es ist so schö­nes Wet­ter und du sollst mal was an­de­res se­hen als den Wald und das Reet­dach­haus. Was meinst du?«

»Ach, Vik­tor, das hast du al­so auch al­les mit­ge­kriegt. Du sollst doch nicht im­mer in mei­nem Kopf her­um­stö­bern. So war das doch gar nicht ge­meint.«

»Nein, An­na«, un­ter­brach er sie, »ich fin­de, du hast durch­aus recht. Nach der Ge­schich­te mit Ka­na und Kaoul woll­te ich dich nur noch ganz nah bei mir ha­ben. Ich glau­be, ich hab ein biss­chen Pa­ra­noia ent­wi­ckelt, weil ich ja nicht wuss­te, wie Ka­nas Brü­der auf die gan­ze Sa­che re­a­gie­ren wür­den.«

An­na sah Vik­tor ver­ständ­nis­los an.

»Na ja, die süd­li­chen El­fen ha­ben es schließ­lich ganz schön mit ih­rer Rach­gier«, er­klär­te er. »Des­we­gen war ich in Sor­ge und wie von Sin­nen vor Angst um dich. Aber du hast ja von Vi­tus ge­hört, dass das al­les un­be­grün­det war. Al­so, lass dich über­ra­schen und uns was un­ter­neh­men.« Er lä­chel­te ver­gnügt. »Wir ha­ben Zeit. Du hast so gut wie kei­ne Haus­a­r­bei­ten auf­be­kom­men. Das ha­be ich näm­lich auch mit­ge­kriegt.«

»Okay«, er­wi­der­te sie ge­dehnt und freu­te sich.

***

Die Über­ra­schung war ihm ge­lun­gen, mein­te An­na. Sehr ge­lun­gen so­gar. Denn nun saß sie völ­lig un­ver­hofft mit Vik­tor im Re­stau­rant des Hyatt-Re­gen­cy-Ho­tels im Düs­sel­dor­fer Ha­fen.

Et­was un­an­ge­nehm fand sie es al­ler­dings schon, sich in ei­nem der­art ele­gan­ten Ho­tel auf­zu­hal­ten, zu­mal sie sich ih­rer Klei­dung be­wusst wur­de:

Schlich­te aus­ge­wa­sche­ne Jeans. Da­zu ei­ne ur­al­te hell­blaue Blu­se mit der wei­ßen Strick­ja­cke vom letz­ten Jahr und zu­dem reich­lich ab­ge­tra­ge­ne graue Chucks. Kein Ma­ke-up, kei­ne or­dent­li­che Fri­sur. Sie hat­te sich am Mor­gen die Haa­re nur zu ei­nem schnel­len Pfer­de­schwanz zu­sam­men­ge­bun­den und sich kein biss­chen ge­schminkt, um so noch um Haa­res­brei­te pünkt­lich zum Bio­lo­gie­un­ter­richt zu er­schei­nen. Für den Un­ter­richt ei­ne durch­aus pas­sen­de Auf­ma­chung, so mein­te sie. Doch in die­ser Um­ge­bung fühl­te sie sich ab­so­lut de­plat­ziert und un­wohl.

Die vor­neh­me At­mo­sphä­re des ex­klu­si­ven Ho­tels schüch­ter­te sie ein biss­chen ein, ob­wohl ihr das stil­vol­le war­me Am­bi­en­te durch­aus ge­fiel. Ins­be­son­de­re die teil­wei­se groß­zü­gig ver­glas­te Fas­sa­de des Re­stau­rants, die einen fan­tas­ti­schen Blick auf den Ha­fen preis­gab, den An­na al­ler­dings we­gen ih­res ver­meint­lich un­taug­li­chen Out­fits nicht rich­tig ge­ni­e­ßen konn­te.

So saß sie mit durch­ge­drück­tem Rü­cken und ge­straff­tem Schul­tern wie ein ge­spann­ter Flit­ze­bo­gen auf ih­rem Stuhl.

»Werd doch mal lo­cker, Klei­nes. Das Es­sen ist doch su­per, fin­dest du nicht auch? Und wenn du dich ge­nau­er um­schau­en wür­dest, dann müss­test du be­mer­ken, dass hier fast al­le le­ger an­ge­zo­gen sind. Au­ßer­dem bist du so­wie­so die mit Ab­stand schöns­te Frau im Raum.«

Er griff über den Tisch nach An­nas Hand, weil sie wie üb­lich nicht auf sein Kom­pli­ment re­a­giert hat­te. Ob­wohl er sich maß­los über ih­re Skep­sis zu är­gern schien, über­ging er die­se höf­lich.

»Nach­tisch?«, er­kun­dig­te er sich, als die letz­te Mu­schel von ih­rem Tel­ler ver­schwun­den war.

»Auf kei­nen Fall, ich bin to­tal satt. Das war echt gut, aber mehr geht nicht.«

Sie blick­te sich um.

»Na ja, zu un­der­dres­sed bin ich wohl wirk­lich nicht. Und Vik­tors Kom­pli­ment lässt sich leicht nach­voll­zie­hen. Schließ­lich bin ich mit Si­cher­heit um ei­ni­ges jün­ger als die an­de­ren Da­men hier. – Ach, Schitt! Das hat er be­stimmt mit­ge­kriegt.«

Wäh­rend sie noch pein­lich be­rührt auf der Un­ter­lip­pe kau­te, wisch­te Vik­tor sich ge­ra­de den Mund an ei­ner wei­ßen Stoffs­er­vi­et­te ab, als sich sein Blick merk­lich ver­dun­kel­te und er das Tuch zor­nig auf den Tisch wa­rf. Sei­ne Au­gen ver­eng­ten sich kurz. Dann aber at­me­te er ein­mal durch, wohl um sich zu sam­meln.

Er gab dem Ober ein Zei­chen zum Be­zah­len. Der freund­li­che Mann kam post­wen­dend mit ei­nem Le­der­mäpp­chen, in der sich die Rech­nung be­fand, wel­che Vik­tor bar be­glich. Nach­dem er ein reich­li­ches Trink­geld ge­ge­ben hat­te, ver­ab­schie­de­ten sie sich höf­lich, wo­bei er An­na dann doch et­was grob aus dem Entre des Ho­tels bug­sier­te.

»Du bist im­mer noch sau­er?«

»Ja!«, knurr­te Vik­tor.

Drau­ßen dreh­te er sie un­wirsch zu sich und sah ihr in die Au­gen. Sein Blick war un­er­gründ­lich. So hat­te An­na ihn noch nie er­lebt. Er hol­te tief Luft, be­vor er sprach. Die brauch­te er of­fen­sicht­lich, um sei­ne Fas­sung zu wah­ren.

»An­na, ich bin es leid. Ich bin es leid, stän­dig ge­gen ei­ne Wand zu lau­fen und ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen. Ich weiß, man hat dir oft weh­ge­tan. Die­se idi­o­ti­schen Mit­schü­ler und Leh­rer, selbst dein Bru­der frü­her. Und das tut mir un­end­lich leid, das musst du mir glau­ben. Aber du trägst selbst auch Schuld dar­an. Du hast dich näm­lich nie da­ge­gen ge­wehrt. Du darfst dir so et­was nicht ge­fal­len las­sen, hörst du? Da­mit muss Schluss sein, ver­dammt noch mal!«

Er schüt­tel­te sie rich­tig­ge­hend und sie mach­te sich dar­auf­hin ent­setzt von ihm los, sag­te je­doch kein Wort.

Frus­triert fuhr sich Vik­tor mit der Hand durch sei­ne brau­nen Ma­ha­go­ni–Lo­cken. Dann wur­de sein Blick wie­der weich. Er griff nach ihr, ob­wohl sie halb­her­zig ver­such­te, sich ihm zu ent­win­den, und nahm sie in den Arm. Sie wi­der­setz­te sich ihm nicht. Sie war viel zu ver­wirrt.

»Ich möch­te doch nur, dass du dich end­lich so siehst, wie du wirk­lich bist, mei­ne Sü­ße.« Er küss­te sie zärt­lich aufs Haar. »Ich lie­be dich.«

»Ich lie­be dich auch. So sehr.« Ih­re Stim­me zit­ter­te. Den­noch gab sie sich al­le Mü­he, die auf­kom­men­den Trä­nen zu­rück­zu­blin­zeln.

»Komm, lass uns zum Rhein ge­hen. Wir könn­ten in der Alt­stadt noch einen Kaf­fee trin­ken, was meinst du?«

»Ja, gern«, flüs­ter­te sie er­leich­tert. »Gu­te Idee.«

An­nas Stim­mung hell­te sich bei je­dem Schritt, den sie mit Vik­tor Arm in Arm am Rhein ent­lang­schlen­der­te, wie­der auf. Er hat­te ihr lie­be­voll sei­ne Ja­cke über die Schul­tern ge­hängt, weil es un­ten am Fluss trotz des herr­lich son­ni­gen Herbst­wet­ters recht frisch war.

Sie ge­noss das wun­der­schö­ne Pan­ora­ma – mit Rhein­turm, Land­tag, Knie-Brü­cke, Schlos­s­turm und St. Lam­ber­tus­kir­che – und das re­ge Trei­ben an den Ka­se­mat­ten.

An­na moch­te die­sen Ort im Her­zen Düs­sel­dorfs, mit sei­nen vie­len Fa­cet­ten und Kon­tras­ten:

Links – der Rhein, auf dem hier und da ein paar gro­ße Fluss­käh­ne rauf und run­ter schip­per­ten. Zwar flitz­te auch hin und wie­der ein flot­tes Mo­tor­boot über die Flu­ten hin­weg, doch ins­ge­samt wirk­te der Strom auf sie ir­gend­wie ru­hig und be­hä­big, fast trä­ge, ob­wohl er so breit und rei­ßend und durch­aus ge­fähr­lich war.

Ein Ge­gen­satz in sich, dach­te An­na. Dann rich­te­te sie ih­ren Blick über den Strom. Dort­hin, wo sich hin­ter den Ober­kass­ler Rhein­wie­sen die hüb­schen bun­ten Häus­chen ma­le­risch an­ein­an­der­reih­ten und die Il­lu­si­on ei­ner ge­müt­li­chen Klein­stadt ver­mit­tel­ten.

Sie spa­zier­ten an der Ufer­pro­me­na­de ent­lang, in­mit­ten des le­ben­di­gen Ge­tüm­mels. Über­all fla­nier­ten Spa­zier­gän­ger, husch­ten Rol­lerb­la­der und Fahr­rad­fah­rer um die Wet­te, tor­kel­ten »Jung­ge­sel­le­n­ab­schied­ler« durch die Rei­hen und sa­ßen Leu­te schwat­zend mit Ge­trän­ken in der Hand.

An­na nahm die Ku­lis­se tief in sich auf, wie im­mer, wenn ihr ei­ne Land­schaft, ei­ne Stim­mung oder manch­mal auch nur ein be­stimm­tes Licht be­son­ders ge­fie­len. Dann saug­te sie den Ge­samt­ein­druck auf wie ein Schwamm und ent­spann­te sich herr­lich da­bei.

Vik­tor aber schien an­ge­spannt zu sein. Sie spür­te deut­lich sei­ne in­ne­re Un­zu­frie­den­heit, weil er sich hat­te ge­hen­las­sen, ob­wohl er ge­nau wuss­te, dass er da­mit nicht an sie her­an­kam. Er hat­te ein­fach nur ein paar schö­ne, un­be­schwer­te Stun­den mit ihr ver­brin­gen wol­len und sich statt­des­sen wie ihr Vor­mund auf­ge­führt.

Zu­tiefst in sei­ne Selbst­vor­wür­fe ver­sun­ken re­gis­trier­te er nicht so­fort, dass An­na ste­hen ge­blie­ben war und ihn gut ge­launt an­lä­chel­te.

»Hör auf zu grü­beln, Vik­tor. Lass uns nicht mehr drü­ber re­den, je­den­falls nicht jetzt.« Sie stell­te sich auf die Ze­hen­spit­zen und küss­te ihn fröh­lich auf den Mund. »Wir wa­ren im Hyatt es­sen. Das war toll. Und ich lie­be Düs­sel­dorf. Lass uns noch ein Eis es­sen ge­hen, ja?«

Sie lach­te.

Sonnenwarm und Regensanft - Band 2

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