Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 6
Kaffee oder Tee
ОглавлениеSie verließen die Wohnung der Nells, die zu einem Wohnhaus in einer kleinen Stadt bei Düsseldorf gehörte und nahe am Wald lag. Dem Wald, wo Viktor seine Anna damals im Juli auf der Lichtung angesprochen und der sich seitdem stark verändert hatte.
Jetzt, im Oktober, hatte der Herbst deutlich seine Fühler ausgestreckt. Nun herrschten hier leuchtende Farben vor, in rot-orangenen, rostbraunen, ockergoldenen Schattierungen und Nuancen. Als hätte der Herbst ein loderndes Feuer entfacht. Dies Farbspektakel stand dem sommerlichen Lichterspiel in Grün, Gold und Silber in nichts nach.
Der kräftige Wind hatte den Bäumen bereits allerhand Blätter gestohlen und am Boden zu einem raschelnden Teppich aufgeschichtet. Auf dem verschlungenen Waldweg knisterte es geheimnisvoll, als sie zu Annas kleiner Lichtung schlenderten, um dort wie jedes Mal in leidenschaftlicher Umarmung innezuhalten.
Da Anna zitterte, zog Viktor ihre Jacke fester zu und wickelte ihr seinen Schal um.
Allmählich wird es merklich kühler, überlegte er und grinste verstohlen bei einer ganz bestimmten Erinnerung, die ihm in den Sinn kam:
… Noch vor einem Monat war es hier herrlich warm und er konnte nicht widerstehen, Anna auf dem weichen Moosbett unter der Birke nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Zuerst sträubte sie sich, weil sie befürchtete, jeden Moment von Fremden überrascht zu werden. Dass Vitus die Lichtung schon Wochen zuvor mit einem Schutzbann belegt hatte, um Fremde von dort fernzuhalten, hatte Viktor ihr verschwiegen. Besonders, als er bemerkte, dass sie, trotz aller Vorbehalte, bei seinen Berührungen mehr und mehr wegschmolz, bis sie sich ihm bedingungslos hingab.
Himmel, er war berauscht von ihrer Sinnlichkeit, immer wieder aufs Neue.
Später, in seinem Zimmer, beichtete er ihr, dass sie aufgrund der Schutzbarrieren niemand beim Liebesspiel hätte beobachten können. Daraufhin stürzte Anna sich mit geweiteten Augen auf ihn, schimpfte ihn einen »perversen, üblen Lustmolch«, schubste ihn aufs Bett und verspeiste ihn letztendlich mit Haut und Haar. …
»Viktor?« Er sah in ihre amüsiert funkelnden Augen. »Du hast geträumt. Aber glaub mir eins, Viktor Müller, mir ist es heute eindeutig zu kalt für deine durchtriebenen Spielchen hier auf unserer Lichtung.«
»Oh.« Er grinste verlegen. Manchmal vergaß er, dass nicht nur er in der Lage war, Gedanken zu lesen. Anna konnte es inzwischen auch ganz gut.
»Jaja, auch du schaffst es nicht immer, dich erfolgreich vor mir zu verschließen, du lüsterner Unhold.«
»Unhold? Was soll das denn sein?«
»Das sagt Mama hin und wieder zu Papa.« Anna kicherte. »Früher dachte ich, es würde so etwas wie Witzbold bedeuten. Google hat mich eines Besseren belehrt. Natürlich bist du kein Scheusal, genauso wenig wie Papa. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was Mama damit meint.« Sie streckte sich und zog ihn zusätzlich zu sich hinunter, um ihn auf die Nasenspitze zu küssen. »Lass uns zu dir nach Hause gehen, ja? Mit steht nämlich der Sinn nach Kaffee, Keksen und deinem warmen Bett.«
Viktor legte den Kopf schief. »In der Reihenfolge?« Das brachte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen ein. »Aua!«, lachte er, nahm sie dann aber zärtlich in den Arm. »Hhm, du riechst mal wieder so gut, Süße.«
»Ist doch nur ›Boss Orange‹. Nix Besonderes.«
»Nein, nein, das ist nicht nur dein Parfum. Das ist die ganze Anna-Mischung.«
»Na ja«, fuhr er fort, als sie ihn fragend ansah, »das ist die Anna-Spezial-Mischung, bestehend aus Anna und Parfum, Anna und Shampoo, Anna und Duschgel und, und, und. Aber vor allen Dingen aus Anna. Deinen Duft würde ich unter allen Düften des Universums wiedererkennen.«
»Wie soll das denn gehen?« Sie sah ihn erstaunt, aber auch belustigt an. »Damit könntest du ohne Weiteres bei Wetten, dass … mitmachen«, meinte sie. »Aber du redest ja sowieso ausgemachten Blödsinn, Viktor. Schließlich bis du kein Hund.«
»Hhm, aber ein halber Elfe!«
»Siehst du? Den halben Elfen hast du mal wieder vergessen. Doch eigentlich liegt es nicht daran, dass ich ein halber Elfe bin, Süße, sondern nur an dir und an deinem Wahnsinnsduft.« Dann runzelte er die Stirn. »Wetten – was?«
Anna gluckste. »Das ist so eine Fernsehshow. Wundert mich, dass du sie nicht gesehen hast, bei deinem Fernsehkonsum. Obwohl, sie wurde abgesetzt, glaub ich.«
»Abgesetzt?«
»Ach, unwichtig. Komm jetzt. Und die Reihenfolge wegen Kaffee und Keksen und so liegt ja wohl klar auf der Hand.«
Sie lächelte ihn mit geröteten Wangen an, scheinbar erfreut darüber, dass seine Gedanken sich bei ihren letzten Worten deutlich um eine einzige Sache drehten.
»Unersättlich! Ob das wohl auch am halben Elfen liegt?«
»Nein, Süße, ganz eindeutig nicht«, beantwortete er ihre gedachte Frage. »Auch das liegt allein an dir und an deiner Unersättlichkeit.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Genug jetzt, sonst ist es mir herzlich egal, wie kalt es hier draußen ist, und du wirst dir leider einen Schnupfen holen.«
Lachend zog er sie hinter sich her, zog sie tiefer in den Wald zum Eingang zur Elfenwelt, um kurz darauf an einem weiteren Portal wieder in die Menschenwelt einzutauchen. Dort, wo Viktorias und sein Haus stand. Das Reetdachhaus.
***
Anna wusste, dass dies mittels spezieller Worte geschah, die Viktor an bestimmten Stellen aussprach. Trotz der vielen Male, die sie das Prozedere bereits miterlebt hatte, war ihr immer noch nicht klar, wie genau das eigentlich funktionierte.
Es kam ihr stets rätselhaft vor, wie es sein konnte, dass sie so mir nichts, dir nichts, von einem Moment zum anderen nicht mehr über weichen Waldgrund wandelte, sondern über einen mit weißem Kies bedeckten und unter den Füßen knirschenden Weg. Dieser Weg wurde rechts und links von einem mit blühenden Herbststauden bepflanzten Vorgarten flankiert und wies ihr den Blick geradewegs auf das große zweigeschossige Reetdachhaus der Zwillinge. Einem Haus mit hübschen roten Naturklinkersteinen und riesigen Sprossenfenstern.
Es lag fast exakt fünfzig Kilometer weit von ihrem Zuhause entfernt und konnte trotzdem innerhalb weniger Gehminuten durch den Wald erreicht werden.
Im hellen und luftig modern eingerichteten Haus angekommen rief Viktor nach seiner Schwester und schaute sich verwundert um, als diese sich nicht meldete. Dann fand er einen Zettel auf dem Küchentisch:
Liebster Bruder!
Ich habe vergeblich versucht, durch deine frivolen Gedanken zu dir durchzudringen.
Keine Chance! – Auch nicht bei Anna!
Und der Akku von meinem ›Aifohn‹ ist anscheinend auch mal wieder leer.
Drum schreibe ich dir diese banale Zettelbotschaft:
Ketu ist vorbeigekommen, um mich abzuholen und seinen Eltern vorzustellen.
Nun müssen Vitus oder du und Jens ihm wohl doch nicht in den Arsch treten – hihi.
Wünsch mir Glück!
Bis später.
In Liebe
Deine Schwester
P.S. Gruß und Kuss an Anna!
Anna hatte den Zettel über Viktors Schulter hinweg mitgelesen.
»Frivole Gedanken? Gott, wie peinlich ist das denn schon wieder?«
»So ein Quatsch, Anna. Viktoria ist zurzeit wohl die Letzte, die uns wegen so was anprangert. Sie besteht doch derzeit selbst nur aus Hormonen. Glaub mir, ich kriege das ständig mit, wenn Ketu und sie …«
»Stopp, Stopp!« Anna machte mit den Händen eine abwehrende Geste. »So genau will ich das gar nicht wissen.«
Sie ging rüber zur Kaffeemaschine.
»Was tust du da, Anna?«
»Na, was denn wohl? Ich koche Kaffee und dann …«
»Oh nein, ganz sicher nicht!«
»Aber …«
Zu spät! Viktor hatte sie blitzschnell über seine Schulter geworfen und war schon auf der Treppe, bevor sie überhaupt registrieren konnte, wie ihr geschah.
»Viktor, was machst du denn da?«
»Wonach sieht es denn aus, meine Süße? Ich trage Sorge dafür, dass die richtige Reihenfolge eingehalten wird.«
***
Später lagen sie eng umschlungen im Bett und Viktor strich, tief im Nachklang der Erinnerung versunken, liebevoll über das schimmernde Haar seiner schlafenden Freundin:
Es war wieder wunderschön gewesen. Allein die Nachbetrachtung ließ ihn verheißungsvoll erschauern. Sie gab ihm immer alles, alles und noch mehr. Und sie war wirklich unersättlich, genau wie er. Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie einfach nicht genug voneinander bekommen konnten.
Aber sein Lächeln verflog, da er wieder ihre Zweifel gesehen hatte. Seine Brauen zogen sich zu der typischen Denkersteilfalte zusammen. Selbst während sie sich geliebt hatten, war Anna nicht in der Lage gewesen, seine ehrlich gemeinten Komplimente zu ihrem faszinierenden Körper anzunehmen.
Auch wenn sie jedes Mal versuchte, die Unsicherheit zu verbergen, so sah er dennoch glasklar, dass sie an seiner Liebe zweifelte. Noch immer verstand sie nicht, wie ernst es ihm war, dass ihre Schönheit und ihr ganzes liebliches Wesen ihm schlichtweg den Atem raubten. Annas ständiger Argwohn und geringes Selbstwertgefühl nagten allerdings nicht nur an ihr, sondern auch an ihm.
Bevor sie blinzelnd aufwachte, murmelte Anna ein paar unverständliche Worte und ihre Nase zuckte.
Mitzuerleben, wie Anna aus ihren Träumen auf- und ganz allmählich zurück in die Gegenwart eintauchte, sich dabei meist wie ein kleines Kind die Augen rieb, war eine wahre Wonne. Und das war der Grund, warum er so wenig schlief, wenn sie bei ihm war. Er liebte es, sie in ihrem Schlaf zu beobachten, den Moment aufzusaugen, in dem sie wach wurde und ihn, so wie jetzt, ihre leuchtend hellen Saphiraugen anstrahlten.
»Hab ich geschlafen?«
Ganz wie erwartet rieb sie sich die Augen. Sie streckte die Arme aus, gähnte herzhaft und blickte daraufhin geradewegs zu Viktor.
»Oh, Entschuldigung.« Sie wurde tatsächlich rot, als sie bemerkte, wie er sie betrachtete. »Ich dachte, du schläfst auch. Bestimmt sehe ich total bescheuert aus mit so einem weit aufgerissenen Maul.«
Viktors spürte, wie sich seine Stirnfalte erneut bildete.
»Himmel noch mal, Anna!«, herrschte er sie an. »Du siehst niemals bescheuert aus! Du hast lediglich nach einem Nickerchen gegähnt, das ist alles!«
Prompt richtete Anna sich auf. »Wieso bist du denn so sauer? Hab ich im Schlaf geredet, oder was?«
»Nein, hast du nicht. Ganz im Gegenteil. Du sahst sehr still und friedlich aus, wie immer, und wunderschön.«
Da war es wieder, das ungläubige Flackern in ihren Augen!
»Oh verdammt, Anna Nell! Wann hörst du endlich damit auf?«
»Aufhören? Womit?« Anna wirkte völlig verstört über Viktors Reaktion. Gerade hatten sie sich noch leidenschaftlich und begierig geliebt und nun war er mit einem Mal richtiggehend wütend. Es war eigentlich gar nicht seine Art.
»Was ist denn nur los mit ihm? Was habe ich falsch gemacht?«
Er sah ihre Fragen. Außerdem machte sie ein derart unglückliches Gesicht, dass Viktor sie reuevoll zu sich zog und zärtlich auf Stirn und Haar küsste.
»Entschuldige bitte. Es gibt keinen Grund dafür, dass ich mich so aufführe. Nur wäre es mir sehr lieb, wenn du nicht ständig an meinen Gefühlen für dich zweifeln würdest. Ich liebe dich nämlich über alles. Es tut mir weh, wenn ich mitbekomme, dass du mir nicht glaubst.«
Anna schaute ihn mit ihren unwiderstehlichen Augen an. »Ich glaube dir doch«, hauchte sie. »Ich liebe dich auch. Es ist nur hin und wieder so unwirklich, weil …«
»Ist es nicht!«, fiel Viktor ihr ungeduldig ins Wort. »Und ich brauche dich auch nicht zu kneifen, wie du immer meinst. Du brauchst nicht gekniffen zu werden, um zu wissen, dass das alles real ist, verflucht noch eins! Alles ist wahr und echt, Anna. Das hatten wir doch schon so oft.«
Er überlegte. »Weißt du noch, wie ich dir damals am Bach erzählt habe, was ich bin, dass manche Märchen und Fabelgeschichten wahr sind?«
Viktor beobachtete, wie Anna in ihr trauriges Gesicht hineinlächelte und versonnen einem Gedanken nachhing.
»Eine meiner schönsten und verwirrendsten Erinnerungen.«
»Da hast du von verschiedenen Romanhelden gesprochen: Harry Potter, Legolas, Edward und Bella. Ich wusste damals nicht, von wem du sprichst, jedenfalls nicht bei allen. Deshalb habe ich sie gegoogelt und mir auch die Filme dazu angesehen.« Er verzog verlegen den Mund. »Na, ja, du kennst mich ja. Aber ich habe auch die Bücher gelesen, weil ich wusste, dass du sie gelesen hast. Sie stehen in deinem Zimmer direkt neben Jane Austen, Isabell Allende und Friedrich Dürrenmatt. Übrigens eine wilde Mischung, wenn du mich fragst.«
Er bedachte sie mit seinem warmen Lächeln. »Weißt du, Anna, du bist fast genauso wie Edwards Bella. Sie meinte auch, nicht gut genug für ihn zu sein. Aber sie war es, Anna. Bella war absolut die Richtige und Einzige für Edward, so wie Elizabeth Bennet für Darcy und …«
»Du hast die Twilight-Bücher gelesen und Stolz und Vorurteil?«, unterbrach ihn Anna.
»Bitte, was? Ja, und alle Harry Potters und auch Tolkiens Herr der Ringe, aber …«
»Du hast das alles gelesen? Weswegen? Um zu verstehen, was ich dir damals gesagt habe und wie ich so ticke? Um mich zu verstehen?«
Er seufzte tief. »Ja, hab ich. Aber darum geht’s doch im Augenblick gar nicht, ich …«
Weiter kam er nicht, denn Anna hatte sich auf ihn gestürzt und bedachte ihn mit heißen Küssen.
»Ich arbeite doch dran, Herr Müller. Ich brauche noch ein bisschen. Aber ich arbeite dran. Versprochen.«
Viktor atmete tief durch. »Okay – hhm – arbeite bitte weiter.«
Es war fast Abend und schon dunkel, als sie lachend und mit knurrenden Mägen die Treppe zur Küche hinunterliefen, um endlich etwas zu essen. Kaffee wollten sie nun nicht mehr. Stattdessen setzte Anna Tee auf und Viktor kramte im Vorratsschrank nach Keksen. Er fand eine Tüte Amarettini und ein Paket Butterkekse. Nun denn, fürs Erste müssten die reichen, entschied er. Außerdem entdeckte er erfreut einen Beutel mit Teelichtern. So könnten sie es sich im Wohnzimmer mit Kerzenlicht, Tee und den Keksen gemütlich machen und dabei Musik hören.
Er packte alles aufs Tablett, worauf Anna schon Tassen und Kanne gestellt hatte, und folgte ihr zum Wohnzimmer. In der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen, was Viktor bedrohlich schwanken und die Tassen zudem klirren ließ, als er mit dem vollbeladenen Tablett in der Hand bei ihr anstieß.
»Was ist denn los? – Oh.«
Mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen deutete Anna ihm, still zu sein. Auf dem Sofa lag sein Vater lang ausgestreckt und schlief.
»Und jetzt?«, flüsterte sie.
Viktor nickte mit dem Kopf gen Treppe. »Lass uns nach oben gehen«, hauchte er.
»Das braucht ihr nicht. Ich bin wach und könnte auch einen Schluck Tee vertragen.« Vitus richtete sich auf und bedachte beide mit einem strahlenden Lächeln.
***
Wenig später saßen die drei gemeinsam am Wohnzimmertisch, tranken Tee und knabberten Kekse.
»Ich habe übrigens mehrmals geklingelt und euch gedanklich gerufen – euch beide«, erklärte Vitus, während er misstrauisch den Amarettini in seiner Hand beäugte, ihn dann aber ohne viel Federlesens und achselzuckend verspeiste. »Schließlich habe ich euch versprochen, nicht mehr einfach so, ohne Vorwarnung, hier hereinzuplatzen. Es war halt eine spontane Idee, euch zu besuchen. Außerdem bin ich, ehrlich gesagt, viel zu müde, um noch kehrtzumachen. Tut mir sehr leid.«
Vitus schaute allerdings keineswegs reumütig drein, sondern grinste süffisant.
Mittlerweile hatte Anna es sich abgewöhnt, solche Situationen peinlich zu finden. Fast! Allmählich gewann sie den Eindruck, dass so etwas unter Elfen und auch Halbelfen andauernd vorkam. Vitus hatte schon des Öfteren mitbekommen, wie sich sein Sohn mit ihr oben in seinem Zimmer »beschäftigte«. Sie wusste, dass er sich überhaupt nicht daran störte und es zudem gar nicht peinlich fand.
Obwohl ihr klar war, dass Vitus seinen Geist vor den Liebenden verschloss, um somit deren Privatsphäre zu wahren, hatte sie dennoch Probleme damit. Deshalb konnte sie die wieder einmal in ihr aufsteigende Röte nicht verhindern. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, Vitus genauestens zu mustern:
Mit seinen knapp achtunddreißig Jahren war er ein Mann im besten Alter und sah in ihren Augen unverschämt gut aus – nicht so gut wie Viktor natürlich.
Mit seinen einen Meter und fünfundneunzig, schätzte Anna, war Vitus noch größer als Viktor. Sein langes rabenschwarzes Haar band er meist mit einer Lederschnur zurück. Was Anna allerdings bereits beim ersten Kennenlernen gefangengenommen hatte, waren Vitus’ Augen. Sie strahlten in einem unwirklich blauen Grün, schimmerten heller als die Nordsee bei Sonnenschein. Sie hatten die Farbe von südlichen Meeren, so wie das Mittelmeer auf den Bildern, die Lena ihr von Mallorca gezeigt hatte.
Vielleicht ähnelten sich Vater und Sohn nicht übermäßig. Dennoch gab es so manche Gemeinsamkeiten: der muskulöse Körperbau, die geraden Brauen und das Lächeln mit den unwiderstehlichen Grübchen, dem Anna bei Viktor nie widerstehen konnte, und das sie an Vitus beinahe ebenso anziehend fand.
Derzeit machte er jedoch einen ausgesprochen abgespannten Eindruck. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, um die herum immer noch rote Flecken prangten, wie auch auf der rechten Wange und auf der Stirn. Alle hervorgerufen durch das glühende Gift, das Kana ihm vor Wochen direkt ins Gesicht gespuckt hatte.
»Du siehst müde aus«, stellte Anna fest. »Ich hatte gehofft, du hättest dich allmählich von Kanas Angriff erholt.«
»Doch, doch, es geht mir gut, danke. Ich bin nur ein wenig erschöpft, weil ich Kanas Brüdern im südlichen Elfenreich einen weiteren Besuch abstatten musste. Leider waren die nicht gerade begeistert über mein erneutes Erscheinen.« Er seufzte. »Ich wollte ihnen unbedingt erklären, wie und warum ihre Schwester zu Tode gekommen ist. Es brauchte einige Zeit, sie davon zu überzeugen, mich anzuhören. Atros und Mitris sind furchtbar anstrengend. Letztlich hat sich meine Hartnäckigkeit dann aber ausgezahlt und ich habe sie dazu überreden können, Einblick in meinen Geist zu nehmen. Jetzt glauben sie mir. Endlich!«
Vitus lächelte schwach. »Unsere irischen Freunde hatten damals durchaus recht damit, die beiden als Hohlköpfe zu bezeichnen. Sie sind wirklich äußerst einfach gestrickt, wie ihr Menschen so schön sagt, sogar noch einfacher, als ich sie in Erinnerung hatte.« Er machte eine kurze Pause, um einen Schluck Tee zu trinken. »Doch nun ist alles gut.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das südliche Elfenvolk heilfroh ist, nicht mehr unter Kanas und Kaouls Knute zu stehen«, meinte Viktor.
»Das kannst du wohl laut sagen«, erwiderte Vitus. »Vorsichtshalber habe ich den Brüdern noch ein paar Ratschläge gegeben, damit sie wissen, wie sie sich künftig zu verhalten haben, um sowohl ihrem Volk als auch ihren Ehefrauen keine Schande mehr zu machen. Ich denke, sie haben verstanden, dass ich sie weiterhin im Auge behalte.«
Nun grinste er breit. »Tja, und die beiden zuvor so oft betrogenen Ehefrauen sind ohnehin auf meiner Seite. Wie sie mir erzählt haben, hatte sich Kaoul einen üblen Scherz mit der Männlichkeit der Brüder erlaubt. Jetzt sind die Frauen einfach nur heilfroh, dass dieser Zauber nach Kaouls Tod von ihren Männern abgefallen ist. – Ja, mit etwas Unterstützung durch ein paar von mir instruierte Berater, werden Atros und Mitris ihr Land ganz ordentlich regieren.«
Vitus griff sich den letzten Butterkeks aus der Schale und betrachtete ihn angewidert.
»Können wir nicht Pizza bestellen?«