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KAPITEL 3

Wandbilder

„AAAUUUU!“

Ein schriller Schrei hallte durch die Sporthalle. Die Klasse hatte ihre erste Sportstunde. Mats stand am Eingang und stellte den anderen Beinchen. Ein kleiner blonder Junge war gestolpert und der Länge nach hingeschlagen. Er hielt sich das Knie und funkelte Mats wütend an. Frau Strick bahnte sich einen Weg zu ihnen, indem sie jedes Mal in ihre Trillerpfeife blies, wenn ein Schüler ihr in die Quere kam.

„Warum hast du das gemacht?“

Mats zuckte die Schultern, dass sein blaues Trikot an ihm herumschlackerte. Alle seine Kleider wirkten zu groß für ihn, er war schlaksig und besonders von der Seite extrem schmal.

„Ich will, dass du…“, begann Frau Strick, doch Mats schien sie gar nicht zu hören. Er raste wie ein blauer Blitz im Zickzack durch die Halle und war im nächsten Moment auf der anderen Seite die Klettergerüste hinaufgehüpft. Wie ein dürres Äffchen schwang er sich von Stange zu Stange.

Frau Strick marschierte trillernd hinter ihm her. „Komm sofort runter“, kreischte sie. „Und ihr- “ sie zeigte auf den Rest der Klasse. „Ihr holt die Matten raus. Für jeden eine…“

„Matte!!“, brüllte Rocko. „Legt Matte auf die Matte!“ Er zeigte mit einem dicken Finger auf Matteo.

Ein paar kicherten. Matteo war knallrot. „So heiß ich nicht, du fettes Stück…“

Im nächsten Augenblick hatte Rocko ihn im Schwitzkasten. Er drückte Matteo, im Vergleich zu ihm eine halbe Portion, zu Boden und schnaufte heftig. Frau Strick trillerte, dass ihnen die Ohren klirrten.

Milena rettete sich mit Annika und Michelle auf den Mattenwagen und hielt sich die Ohren zu. Nach der aufregenden Heimfahrt am Vortag hatten sie nicht mehr davon gesprochen, aber heute Morgen beschlossen sie als Erstes, dass sie zusammen sitzen und überhaupt alles zusammen machen wollten. Milena war sehr froh darüber. Michelle und Annika waren die einzigen in der Klasse, bei denen sie sich richtig wohl fühlte, obwohl sie lauter und kecker waren als sie selbst.

Sie beobachteten, wie Frau Strick wüst pfeifend versuchte, die Streitenden zu trennen. Schließlich gelang es ihr und sie ließen keuchend voneinander ab. Beide hatten rote Flecken am Hals und auf den Armen. Milena fielen die Zigaretten ein, die Matteo stehlen und überbringen sollte. Nach allem, was er erzählt hatte, musste er öfters heftig einstecken…

Inzwischen hatte Mats die langen Seile gelöst und schaukelte wie ein dürrer Spargeltarzan durch die Halle.

„Mats!!“, schrillte Frau Strick.

„Huuuiiiiiiii!“, quietschte Mats und sauste mit seinem Seil an ihr vorbei.

Sie rannte mit hochrotem Kopf hinterher, sah sich nun jedoch schon fünf Schülern gegenüber, die an den Seilen hin und her pendelten. Ein sechster kletterte senkrecht in die Höhe.

„Denkt ihr, wir machen heute noch Unterricht?“, fragte Milena die anderen niedergeschlagen. Auf Sport hatte sie sich gefreut.

Annika schüttelte den Kopf. „Komplett überflüssig, das Umziehen.“

Milena beobachtete Matteo, der allein in einer Ecke saß und düster auf den Boden starrte. Jeanette war nirgends zu sehen. Milena konnte sich nicht erinnern, sie heute überhaupt schon gesehen zu haben. Leise erzählte sie Annika und Michelle von ihrer Begegnung an der Bushaltestelle.

„Und seine Pflegeeltern wissen nichts davon?“, fragte Michelle.

Milena schüttelte den Kopf. „Ich glaub, er hat ziemliche Angst, was passiert, wenn sie es rauskriegen.“

„Was wohl mit seinen richtigen Eltern ist…“, überlegte Annika.

„Keine Ahnung…“ Milena hatte sich diese Frage auch gestellt. Waren seine Eltern vielleicht schwer krank oder sogar nicht mehr am Leben? Oder konnten sie sich aus anderen Gründen nicht um ihn kümmern?

„Ziemliches Pech, oder?“, sagte Michelle. „Erst die eigenen Eltern verlieren und dann blöde Pflegeeltern kriegen…“

„Wir wissen ja nicht, ob sie blöd sind“, wandte Annika ein.

„Wenn er sie beklaut…“

„Das macht er ja nur, weil die älteren Schüler ihn erpressen.“

„Wenn dir das passieren würde, was würdet ihr als erstes tun?“, widersprach Milena.

„Meiner Mama davon erzählen“, räumte Michelle ein, und Annika nickte.

Alle drei sahen Matteo zu, wie er lustlos durch die Halle schlenderte, dem schaukelnden Mats auswich und sich vor einer wutschnaubenden Frau Strick wegduckte.

„Sollten wir es vielleicht jemandem erzählen…?“, fragte Milena irgendwann.

„Ich glaub, damit machen wir es nur schlimmer“, sagte Michelle und äußerte genau Milenas eigene Bedenken.

Keine von ihnen hatte darauf eine Antwort. Milena wusste nur, dass sie ein nagendes Gefühl nicht loswurde, nämlich, dass Matteo unbedingt Hilfe brauchte.

Eine Stunde später waren sie zurück im Klassenraum und diskutierten noch immer darüber. Die Sportstunde war so chaotisch zu Ende gegangen, wie sie begonnen hatte – mit blauen Flecken, einem tobenden Mats und Frau Stricks Trillerpfeife.

„Ob sie die auch im Geschichtsunterricht benutzt?“, überlegte Annika düster.

„Dann krieg ich `nen Anfall“, meinte Michelle. Die anderen sahen sie erschrocken an.

„Nicht so einen Anfall“, beeilte sich Michelle zu sagen. „Ihr wisst schon – einfach, wenn man sich aufregt…“

„Schluss jetzt mit dem Gequatsche!“ Frau Stricks Stimme klang ganz ähnlich wie die Trillerpfeife. „Wir fangen am Anfang an…“ Sie knipste das Licht aus und projizierte das Bild einer Höhlenmalerei an die Wand. Es zeigte ein sehr dickes Pferd mit sehr dünnen Beinen und ein paar krakelige Striche ein wenig über dem Pferderücken.

„Wieso sagen Sie, dass das der Anfang ist?“, rief Didi, der Junge mit den blonden Locken, in die Klasse. „Vorher gab`s schließlich die Dinosaurier, und eigentlich wäre der Urknall doch der Anfang.“

„Vielleicht war vor dem Urknall ja auch noch was. Und davor, und davor…vielleicht gibt es gar keinen Anfang“, meinte sein Banknachbar. Milena musste kurz überlege, wie er hieß – Daniel, fiel es ihr wieder ein. Er wirkte ein bisschen seltsam auf sie, vielleicht, weil er die langen blonden Haare immer ein wenig umständlich und mit vollem Oberkörpereinsatz nach hinten schwenkte.

„Alles Lüge“, rief Milan in einem Tonfall, der vor Ironie nur so triefte. Er hatte sich einen Einzelplatz an die Rückwand des Raumes gestellt und musterte die Klasse von dort aus. „Die Erde ist doch erst 6000 Jahre alt, alles andere ist Ketzerei!“

„Hä, was ist mit Katzen?“, rief Jule.

„Schluss jetzt mit dem Unfug!“, schimpfte Frau Strick. Sie zeigte auf das Bild. „Wer kann mir sagen, warum die Menschen damals solche Bilder an die Höhlenwände gemalt haben? Ja, Mats?“

Milena wusste, dass es ein Fehler war, Mats dranzunehmen, bevor er den Mund aufmachte.

„Ich hab eine Frage“, sagte er grinsend. „Warum ist das Pferd so fett?“

Die Klasse wieherte.

„Weil die das essen wollten!“, rief Rocko.

„Die wollten dich essen“, dröhnte Jeanette. Sie war nach der ersten großen Pause in die Klasse geschlendert, ohne irgendwem zu erklären, warum sie in der Sportstunde gefehlt hatte. Jetzt lagen ihre Füße auf dem Tisch und eine Dose Stapelchips auf ihrem Schoß.

Milena legte den Kopf auf den Tisch. Nur mit halbem Ohr hörte sie, wie Frau Strick Elterngespräche und Nacharbeiten androhte. Etwas sagte ihr, dass sich damit nicht viel ändern würde. Ihre Grundschulklasse war auch oft laut gewesen, doch jetzt wünschte sie sich dorthin zurück. Immerhin hatten sie sich in der Gruppe normal unterhalten können. Irgendwann hörte sie wieder Daniels Stimme, und sie bemühte sich zuzuhören.

„Vielleicht wollten die Menschen mit den Höhlenbildern anderen von sich erzählen und ihr Wissen weitergeben. Es könnte auch ihren Nachkommen beim Jagen geholfen haben. Außerdem glaubten die Leute früher, dass man das Tier beherrscht, wenn man es malt, also sozusagen wie Magie.“

Milena hob den Kopf. Frau Strick sah völlig verdattert drein. „Das – das ist vollkommen richtig“, sagte sie.

„Ey, Streber“, rief Rocko und schnippte ein Papierkügelchen durch die Klasse. Er traf Jeanette im Gesicht. Jeanette pfefferte prompt die inzwischen leere Dose zurück. Sie verfehlte Rocko knapp und prallte scheppernd an der Pinnwand ab. Ein paar Notizzettel lösten sich und segelten zu Boden.

„Aufhören!“, kreischte Frau Strick. „Ihr müsst…“ Doch zum zweiten Mal in zwei Tagen ertönte die Kreissägen-artige Alarmsirene aus den Lautsprechern.

„Feuer!“, grölte Jeanette wie schon beim ersten Mal und lief hinaus.

Der Rest der Klasse blieb sitzen.

„Schon wieder?“ Milena sah fragend ihre neuen Freundinnen an.

„Als ob“, sagte Annika.

„Fenster schließen, Zweierreihen bilden!“ Frau Strick stand mit verschränkten Armen neben der Tür und beobachtete abwechselnd die Klasse und den Flur. Vermutlich suchte sie ihn nach Jeanette ab.

Bedeutend langsamer als am Vortag bewegte sich die Klasse nach draußen. Die meisten schienen genervt oder machten sich lustig.

„Schon komisch, meint ihr nicht?“, fragte Michelle, als sie den Schulhof erreichten. „An zwei Tagen hintereinander, ungefähr zur selben Zeit…“

„Bestimmt Schüler, die einfach keinen Unterricht machen wollen“, vermutete Annika.

„Ich weiß nicht“, sagte Milena zögerlich. Ihr war unbehaglich zumute. „Es müssten ja alle in ihren Klassen sein. Selbst wenn man auf dem Weg zum Klo auf den Alarm haut, ist das doch auffällig. Da kommt doch jeder drauf, dass man das war…“

Daniel und Didi stellten sich zu ihnen. „Mein Vater hatte mal einen Rauchmelder, der ging immer an, wenn er sein Rasierwasser benutzt hat“, meinte Didi. „Vielleicht geht der Alarm ja bloß an, wenn die in der Mensa anfangen zu kochen.“

Sie sahen auf die Uhr. „Könnte hinkommen“, nickte Michelle.

„Dein Vater hat aber auch ein Rasierwasser, um Länder zu entvölkern“, sagte Daniel. Die anderen lachten. Aber Milena sah ihm an, dass er genauso wenig an einen Zufall glaubte wie sie.

Sie mussten heute sehr viel länger draußen warten. Mats kletterte auf den halb vertrockneten Baum, um besser sehen zu können. Wie er den glatten Stamm hinaufkommen konnte, war Milena ein Rätsel. Ein paar Minuten vergingen, dann hörten sie Martinshörner.

„Sie fahren auf den anderen Schulhof“, rief Mats ihnen von seinem Ausguck zu.

„Brennt es da?“

„Jetzt sag schon?!“

Aber auch heute schien es kein großes Feuer zu geben. Nach etwa einer Viertelstunde verkündete Mats, dass die Feuerwehr wieder abzog. Leichtfüßig sprang er vom Baum herunter, zog Milena an den Haaren und hüpfte allen voran zurück zur Klasse. Frau Strick schob sich an ihnen vorbei und schloss den Raum auf.

„Ich will, dass ihr alle…“, begann sie, doch sie verstummte. Und mit ihr die ganze Klasse. Zum ersten Mal war es tatsächlich fast still. Freilich nur kurz, dann brach ein gewaltiger Tumult aus.

Das Klassenzimmer sah aus, als wäre ein Orkan hindurch gefegt. Alle Tische standen kreuz und quer, etliche Stühle waren umgeworfen, alle Schubladen waren herausgerissen und die Schranktüren standen sperrangelweit auf. Die Schulbücher, Hefte und Ordner aus dem Wandregal lagen wild durcheinander auf dem Boden. Der Inhalt sämtlicher Kunstkisten war in alle Ecken verstreut. Ein Fenster stand offen und im schlaffen Windzug segelten lose Seiten durch die Luft.

Wie alle anderen machte Milena sich daran, ihre Habseligkeiten in der Unordnung wiederzufinden. Sie entdeckte ihr Mathebuch auf einem Haufen von Atlanten und ihren Farbkasten unter der Heizung. Auf ihrem Deutschheft war ein staubiger Fußabdruck und ihr Mäppchen lag unter einem Malkittel. Doch obwohl sie ihr Material aus allen Winkeln fischten, stellten sie erleichtert fest, dass offenbar nichts fehlte. Nicht ein einziger Cent war aus den Portemonnaies verschwunden, auch alle Handys waren noch an ihren Plätzen. Der erste Schrecken wich Verwunderung und Neugier. Wer hatte das getan? Die Frage tönte aus allen Ecken. War dies ein schlechter Schülerscherz?

Matteo bekam einen Wutanfall, weil sein Füller zerbrochen war und Tintenkleckse auf seinen Büchern prangten. Zwischen Jeanette, Jule und einem dritten Mädchen brach ein lauter Streit aus, weil sich alle drei gegenseitig beschuldigten, ihr Handy gestohlen zu haben. Milena sah Mats kichern und etwas in seiner Tasche verschwinden lassen.

„Ihr räumt fertig auf, ich muss die Schulleitung holen“, rief Frau Strick.

Kaum war sie aus dem Raum, verdoppelte sich der Lärm. Matteo beleidigte Rocko, weil der über seine beklecksten Bücher lachte. Gleich darauf wälzten sich beide auf dem Boden zwischen verknickten Schreibblöcken und herrenlosen Buntstiften. Jeanette und die anderen beiden Mädchen schrien sich in den höchsten Tönen an; der Junge, der früher am Morgen wegen Mats hingefallen war, weinte, weil seine Trinkflasche eine Delle hatte, und ein Mädchen mit dicken Brillengläsern zerriss stapelweise Papier über dem Mülleimer.

„Wer macht sowas?“, fragte Michelle, während sie ihre Sachen in ihre Schultaschen einsortierten.

„Keine Ahnung…“ Milena überblickte den Raum, ihr Englischheft nachdenklich gegen das Kinn gedrückt. War dies wirklich ein Schülerstreich? Es sah so aus. Aber wer löste extra den Feueralarm aus, um dann einen Klassenraum zu verwüsten?

„Es ist ja nicht mal etwas gestohlen“, meinte Annika.

„Na ja, bis auf deren Handy“, erwiderte Michelle und zeigte auf die drei streitenden Mädchen.

„Nein, das hat Mats“, sagte Milena.

Jeanette hörte sie. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf Mats, stolperte aber über den am Boden liegenden Matteo. Immerhin trennte sie so die beiden Kämpfer. Mats hüpfte wie ein grinsender Flummi um die verschobenen Tische und hielt Jules stibitztes Handy in die Luft.

„Gib es her!“, schrie Jule zornfunkelnd.

„Nein, nein, nein, das ist mein kleines Handylein“, sang Mats und kletterte das Wandregal hinauf, um seine Beute dort oben abzulegen.

Doch jetzt geschahen mehrere Dinge sehr schnell und sehr unerwartet: Mats griff eben nach dem oberen Regalbrett, als sich die ganze Konstruktion mit einem heftigen Ruck von der Wand löste. Einen Moment schienen Mats und Regal in der Luft zu schweben – dann knackte es laut und das Regal krachte in sich zusammen. Mats rettete sich mit einem Hechtsprung vor den herabfallenden Brettern.

„Mein Handy!“, kreischte Jule und stürzte sich auf Mats. Auf beide regnete es Staub, Späne und Gips. Das Regal lag als ein Haufen von zersplittertem Holz neben Mats, der selbst nach diesem Missgeschick noch immer begeistert grinste. Milena hatte den Eindruck, er war fast ein bisschen stolz, dass er ganz allein so ein Desaster angerichtet hatte. Dann fiel ihr Blick auf die Wand.

Wo das Regal gehangen hatte, war nun die verputzte Mauer zu sehen. Jemand hatte sie bemalt. In brauner, schwarzer und goldener Farbe war eine Art Karte aufgezeichnet. Daneben standen ein paar merkwürdige Sätze, die Milena nichts sagten. Über der Karte leuchtete in geschwungenen Buchstaben ein einziges Wort:

Alteras

ALTERAS

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