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KAPITEL 4

Die Karte

„Was ist das?“, fragte Didi.

„Sieht aus wie eine Straßenkarte“, meinte Daniel langsam. Sie standen in einer Traube um Mats und sein Werk der Zerstörung. Bis auf Jule, die nur Augen für ihr Handy hatte, starrten alle auf die ungeahnte Wandmalerei. Alteras … das Wort kam ihm seltsam bekannt vor, und doch sagte es ihm nichts.

„Vielleicht ein missglücktes Kunstprojekt“, schlug ein Junge mit dunklem Teint und glänzend schwarzen Haaren vor.

„Warum missglückt?“, fragte Milan.

„Warum sonst sollten sie ein Regal darüber bauen?“ Er schnalzte jedes ‚R‘ auffällig, sprach sehr langsam und in einem Tonfall düsterer Endgültigkeit.

Die Klassentür wurde aufgerissen.

„Die Tür sollte aufbl…“ Frau Strick verstummte mitten im Wort. Daniel hatte völlig vergessen, dass Frau Strick die Schulleitung holen wollte. Den Gesichtern seiner Mitschüler nach zu urteilen, war er da nicht der Einzige.

Frau Strick sah mit einem Ausdruck brodelnder Fassungslosigkeit auf den staubbedeckten Mats, auf den Trümmerhaufen neben ihm, der vorhin noch ein Regal gewesen war, und schließlich auf die Wandmalerei. Daniel sah ihre Lippen stumm das Wort „Alteras“ formen.

Der Schulleiter betrat den Raum. Hinter Frau Strick hatte Daniel den kleinen Mann nicht gesehen. Jetzt näherte er sich dem Bretterhaufen und untersuchte ihn. Das Bild an der Wand beachtete er gar nicht.

„Wie ist das passiert?“, wollte er wissen. „Du“! Er zeigte auf Daniel, der ihm am nächsten stand. Daniel spürte die Blicke seiner Mitschüler auf sich. Er holte tief Luft und wählte seine Worte sehr bedächtig.

„Es gab ein paar Streitereien nach dem Feueralarm, weil hier alles durcheinander war. Ein paar Leute“ – er vermied es, Namen zu nennen – „dachten, ihnen wäre etwas gestohlen worden und haben sich gestritten. Das hat sich aber aufgeklärt, als Mats den Gegenstand auf das Regal legen wollte, und da ist es zusammengebrochen.“

Daniel fragte sich nervös, ob seine sehr geschönte Schilderung der Ereignisse wohl durchgehen würde. Zumindest schienen alle in der Klasse wenigstens so viel Verstand zu besitzen, dass niemand widersprach.

Der Schulleiter untersuchte noch einmal die Regaltrümmer und musterte Mats und Jule eingehend. Dann zuckte er die Schultern. „Tja dann… Hauptsache alle sind gesund. Frau Strick, Sie sollten vielleicht den Raum wechseln, wir lassen das reparieren.“

Er machte kehrt und marschierte davon. Frau Strick atmete ein paar Mal tief durch. „OK… holt eure Sachen…“ Sie betrachtete stirnrunzelnd die Wand und schüttelte schließlich den Kopf. „Na los, bevor ihr die nächste Katastrophe anzettelt.“

„Sie tut so, als wäre das alles unsere Schuld“, beklagte sich Didi auf dem Heimweg. „Für den Alarm und das Durcheinander konnten wir ja nichts.“

„Für Mats können wir auch nichts“, sagte Daniel. Sie schoben wieder ihre Räder die Straße entlang.

„Ey!“, rief jemand hinter ihnen.

Es war Mats. Er holte sie auf seinem Mountainbike ein und fuhr langsam neben ihnen her.

„Hey, danke, dass du mich beim Schulleiter nicht verpetzt hast“, sagte er grinsend.

Daniel nickte. Er hatte nichts gegen Mats, auch wenn der in seiner Wildheit durchaus nerven konnte. Zumindest hatte er das Regal nicht mit Absicht kaputt gemacht. Es war bloß typisch, dass es Mats passierte. Aber dafür, fand Daniel, konnte man ihn doch schlecht bestrafen.

„Warum baust du überhaupt immer so viel Scheiße?“, näselte Didi.

Mats grinste. „Keine Ahnung“, quietschte er. „Passiert irgendwie immer…“ Er zog sein Handy aus der Tasche. „Was heißt das eigentlich alles, was da so auf der Karte stand?“ Er hielt Daniel das Handy hin.

„Du hast ein Foto von der Wand gemacht?“, fragte Didi. Daniel blieb stehen, nahm das Handy und zoomte in das Bild hinein. Es zeigte eindeutig eine Stadtkarte. Etwa in der Mitte war ein kleines x und daneben stand der Name Geronimo. Ein bisschen weiter unten gab es ein Kästchen mit etwas, das aussah wie ein Schuh mit hohem Absatz. Am rechten Rand stand in vier Zeilen:

Das große Tor am alten Herd,

Zutritt jederzeit verwehrt.

Zwei Freunde jenseits warten schon,

zwei Schlüssel brauchts für diesen Lohn.

Daniel las die beiden Sätze mehrmals, doch auch nach dem vierten Mal ergaben sie für ihn keinen Sinn.

„Es ist doch eine Karte von hier, oder?“, sagte Mats.

Alle drei beugten sich über das Handy, was zur Folge hatte, dass niemand mehr etwas sehen konnte. Didi mit dem dicksten Kopf gewann.

„Du könntest recht haben“, sagte er zögerlich. „Ja, da oben das Wasser, das ist der Rhein. Und da ist die Kirche.“

Daniel kniff die Augen zusammen. Mats‘ Foto war ein wenig unscharf und dunkel. „Es ist ähnlich“, sagte er langsam. „Aber guck mal, das hier stimmt alles nicht, die Straßen sind ganz anders…“

Er suchte die Karte ab. Neben dem Wort Geronimo entdeckte er etwas, das aussah wie eine Katze. Auch das half nicht gerade weiter. Aber da links, kurz vor der Straße mit dem Kreisverkehr… Daniel drehte die Karte hin und her, mal auf den Kopf und dann wieder zurück, bis er ganz sicher war.

„Das hier ist unsere Schule.“ Er zeigte den anderen beiden die rechteckigen Kästchen. „Hier, das ist der Schulhof, hier ist unsere Klasse, das ist die Mensa und das…“ Er brach ab. „Das ist seltsam.“

Ein Rechteck war mit Gold hervorgehoben. Es war der gesperrte Teil hinter dem Bauzaun. Darüber war eine Art ausgefranster schwarzer Kreis gemalt.

„Die ganze Karte ergibt überhaupt keinen Sinn“, sagte Didi.

„Ich glaube, doch“, sagte Daniel. „Ich glaube, sie hat mit den verschwundenen Jugendlichen zu tun.“

Didi sah ihn groß an.

„Was für verschwundene Jugendliche?“, wollte Mats wissen. Daniel ignorierte ihn. Was war in diesem Gebäude? Noch einmal las er die Verse an der Seite. Tor, Herd, Freunde, Schlüssel? Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

„Hey, was für verschwundene Jugendliche?“, beharrte Mats.

„Vor einem Jahr sind wohl zwei Jugendliche von der Schule verschwunden und nie wieder aufgetaucht“, erklärte Didi.

„Ja und?“

„Angeblich verschwanden sie genau da“, sagte Daniel und deutete mit dem Finger auf den schwarzen Kreis über dem goldenen Rechteck.

„Oh, verstehe…“ Mats‘ Grinsen flackerte. Stattdessen stand ihm der Mund ein Stück offen, was ihn aussehen ließ, als verstünde er überhaupt nichts. „Und was heißt das jetzt?“

„Keine Ahnung“, gab Daniel zu und reichte Mats sein Handy zurück. „Aber irgendjemand wusste was darüber und hat es an die Wand gemalt.“

Daniel bog in die Einfahrt ein. Aus der Werkstatt hörte er lautes Hämmern. Sein Bruder war also schon zu Hause. Er stellte sein Rad ab und ging hinein. Lasse war zwei Jahre älter als er und für ihn wie ein Spiegel, der ihm die Zukunft zeigte. Er trug seine Haare ebenfalls lang, allerdings waren sie von dunkelbrauner Farbe.

Lasse bearbeitete ein Stück Metall. Hinter ihm war der alte Camaro aufgebockt. Abgesehen vom Lack, der knallrot glänzte, war an dem Auto so ziemlich alles hinüber. Es stammte noch von ihrem Großvater, und der hatte schon immer gerne daran herumgeschraubt. Jetzt steckte es wie eine Fischgräte im Hals in dem zur Werkstatt umgebauten Hühnerstall. Ihr ganzes Haus verriet, dass hier Bastler lebten: Das meiste war selbstgemacht oder sah aus, als hätte es jemand vom Sperrmüll gerettet. Jeder Winkel war vollgestopft mit Werkzeug, Altmetall, Holz, kaputten Antiquitäten und anderem Kram, den man vielleicht nochmal gebrauchen konnte. Das zumindest sagte ihr Vater immer, wenn er mit einem „neuen“ Teil nach Hause kam.

„Papa bleibt noch zwei Tage länger“, sagte Lasse. Er durchwühlte ein paar Schubladen. „Siehst du irgendwo einen Inbusschlüssel? Ich weiß, ich hab tausende…“

Daniel zog ein Kästchen mit den Schraubwerkzeugen aus dem Schrank und reichte es Lasse.

„Wusste ich doch… er sagt, er hat vielleicht noch einen Kunden.“

Daniel nickte mechanisch. Ihr Vater reiste geschäftlich durchs ganze Land und musste oft tagelang wegbleiben. In den Ferien waren sie eine großartige Woche lang Zeltwandern gewesen. Seitdem hatten sie sich nur zweimal gesehen.

„Ach, und Mama hat per Skype angerufen. Dennis sagt, die neue Schule ist kacke.“

„Warum soll er’s in Frankreich besser haben als wir hier“, meinte Daniel. Ihre Mutter lebte zeitweise mit ihrem jüngsten Bruder in Frankreich. Sie arbeitete bei einer internationalen Firma und hatte dort eine Leitungsstelle bekommen. Erst hatten die Eltern davon gesprochen, dass sie alle nach Frankreich umsiedeln sollten. Daniel erinnerte sich mit Schaudern an die zwei Monate, in denen jeden Tag ein anderer Plan diskutiert worden war. Am Ende war ihre Mutter mit Dennis nach Concarneau an der Atlantikküste gezogen, während Lasse und Daniel daheim blieben. Seitdem war es noch dreimal so unordentlich.

„Wir haben noch vegetarische Tiefkühlpizza, wenn du Hunger hast“, sagte Lasse. Daniel hatte keinen großen Hunger und kletterte eine gewendelte Holztreppe nach oben. Sein Zimmer war genauso voll mit unfertigem Kram wie der Rest des Hauses. Eine Hängematte hing quer hindurch. Es gab außerdem eine Art Erker, von dem aus man auf einen Dachvorsprung klettern konnte. Im Sommer saß Daniel gerne da oben und blickte über die Siedlung.

Eine wilde Kiwipflanze tastete sich bis hier oben und erwürgte mit ihren Schlingtrieben Regenrinnen und Terrassenbalken. Sie schnitten sie aber nicht ab, weil sie alle fürchteten, dass dann die ganze Fassade mit abbräche.

Daniel setzte sich an seinen PC und öffnete Google Maps. Er rief eine Karte von Schöneburg auf. Mats hatte schon recht, oben der Rhein, in der Mitte die Kirche und links die Schule, soweit stimmten die Karten überein. Aber die Straßen hatten alle anders ausgesehen. War es vielleicht eine historische Ansicht der Stadt gewesen? Nein, das ergab keinen Sinn, die Schule war schließlich neu…

Er tippte „Alteras“ in die Suchmaschine ein.

Alteras: Eine Metalband aus Ohio

Alterras: Ein esoterischer Buchladen

Altera: lateinisch für „der andere von beiden“

Alteration: Veränderung in der Musik

Daniel löschte seine Suche und tippte stattdessen „Geronimo“ ein und fand einen Wikipedia-Eintrag:

Geronimo steht für:

eine Namensvariante von Hieronymus

Geronimo, Kriegshäuptling und Schamane in Nordamerika

Geronimo (Lied), Popsong von Aura Dione

Apache Geronimo, eine freie Serversoftware

Er seufzte, klickte das Browserfenster zu und kletterte aufs Dach. Nichts von all dem schien zusammen zu passen. Warum malte jemand Hinweise auf die Wand einer Schulklasse und baute dann ein Regal davor? Offenbar wollte derjenige doch sein Wissen weitergeben, warum aber in Form eines Rätsels? Es sei denn, es war für jemand Bestimmtes gedacht, für den sich das Rätsel erschloss. So wie die Höhlenmalereien der Steinzeit. Noch immer diskutierten Forscher über die wahre Bedeutung der Bilder. Für die Menschen damals war das sicher keine Frage gewesen…

Daniel schnippte ein bisschen trockenes Moos von den Dachziegeln. Morgen würde er sich die Wand genauer anschauen, vielleicht hatte er auf Mats‘ unscharfem Foto etwas Wichtiges übersehen.

Am nächsten Morgen besagte ihr Vertretungsplan jedoch, dass der Unterricht in einen anderen Raum verlegt wurde. Daniel sprintete vor Stundenbeginn zu seiner Klasse. Die Tür war offen. Die Tische waren zur Seite geschoben, ein nagelneues Regal stand halb fertig aufgebaut in der Mitte. Eine junge Frau in grünem Overall kletterte gerade von einer kleinen Treppenleiter herunter. Sie trug ein schwarzes Käppi und hielt eine Farbrolle in der Hand.

Die Wand war weiß übermalt.

Daniel starrte sie an. Die Farbe schimmerte noch feucht. Wäre er doch nur früher gekommen… Ob man sie noch abwaschen konnte? Er machte einen Schritt auf die Leiter zu. Die Frau bemerkte ihn und lächelte ihn an. „Keine Sorge“, sagte sie, seine entsetzte Miene falsch deutend, „morgen habt ihr euren Raum schon wieder und sogar ein bisschen schöner als vorher.“

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