Читать книгу ALTERAS - Agnes Maxsein - Страница 7
ОглавлениеPROLOG
Das Licht einer Taschenlampe streifte das Fenster.
Der alte Mann duckte sich, wartete angespannt, bis das blaue Flackern weiterzog. Ihm blieben nur wenige Minuten. Gleich würde er sie im Flur hören. Wenn er sich nicht beeilte…
Aber noch war er nicht fertig. Er stopfte Pinsel und Farben in seinen schäbigen Lederrucksack. Bloß keine Spuren hinterlassen. Dann griff er wieder zum Bohrer. Er war nie ein großer Handwerker gewesen, aber hierfür würde es reichen. Er rieb sich die müden Augen. Die Arbeit im Dunkeln strengte ihn an, doch Licht einschalten kam nicht in Frage, zu riskant. Die Bohrmaschine schnurrte und die letzte Schraube saß. Ein wenig wackelig schien es schon, aber solange niemand hinaufkletterte, würde das Wandregal halten. Hanna würde lachen über seine Konstruktion, was in diesem Fall ein Vorteil war – so würde sie wenigstens sofort sehen, dass er es gebaut hatte. Es musste ja auch nicht lange stehen bleiben, nur so lange, wie Hanna brauchte, das Rätsel zu lösen und seinen Spuren zu folgen, sobald sie seinen Brief las.
Der Brief! Erschrocken tastete er alle seine Taschen ab. Wo war der Brief? Er wischte sich die Schweißperlen über den Augenbrauen ab, Folge seiner Angst und der körperlichen Anstrengung. Da, unter seinen anderen Papieren, ertastete er das Kuvert. Einen Moment hielt er den Umschlag in den zittrigen Fingern. Dann zuckte er so heftig zusammen, dass ihm der Brief beinahe entglitt. Im Stockwerk unter ihm schlug eine Tür zu. Sie waren da. Und er musste weg!
Eilig verstaute er den Bohrer in einem Schrank und warf sich den Rucksack über die Schultern. Er spähte links und rechts den Flur hinunter, bevor er die Klassentür sorgfältig abschloss und zur nächsten Treppe huschte. Es war seltsam gespenstisch in dem Schulgebäude, das sonst erfüllt war von Stimmen, Lärm und dem Gewusel von tausend Schülern. Jedes kleine Geräusch hallte ungewohnt durch das breite Treppenhaus. Im Dunkeln verfehlte er die erste Stufe, rutschte ab und krallte sich mit schweißnassen Händen ans Geländer. Schwer atmend spitzte er die Ohren. Unten hörte er jemanden. Wie viele Verfolger mochte Vikram geschickt haben? Unmöglich festzustellen, ohne entdeckt zu werden; sie schienen bedrohlich nah. Er kehrte um und lief den gelben Flur entlang, quälend langsam, wie es ihm vorkam. Aber er geriet schon jetzt außer Atem und lautes Rennen würde ihn sofort verraten.
Am anderen Ende des Flures führte wieder eine Treppe hinunter. Hier war alles still. Trotzdem trat er noch behutsamer auf. Alle paar Stufen blieb er stehen und lauschte angestrengt. Da, gedämpfte Stimmen! Sie kamen jetzt von oben, aus dem Flur, den er eben erst verlassen hatte. Er rannte los, nahm die letzten Stufen im Sprung und landete ungeschickt auf dem Knöchel. Einen Schmerzensschrei unterdrückte er so eben, doch dass sein Gepolter durchs Treppenhaus hallte, konnte er nicht verhindern. Oben wurde es still. Er hörte sein Herz heftig pochen. Dann erklangen schnelle Schritte und jemand rief etwas.
Er rappelte sich auf und humpelte zum Ausgang.
Der Schulhof lag verlassen da, eine Straßenlaterne flackerte an der Ecke. Er versuchte nicht länger, leise zu sein. Er wusste, dass sie ihn aus einem der vielen Fenster über den Hof rennen sahen. Er wusste, dass sie ihm dicht auf den Fersen waren. Jetzt kam es nur darauf an, das Versteck zu erreichen, den Brief zu übergeben, schneller zu sein…
Schneller – mit den steifen, alten Beinen! Er hätte gelacht, wenn ihn das Rennen nicht so anstrengte.
Er ließ den Schulhof hinter sich, hastete am Schwimmbad vorbei und überquerte die Bahngleise. Bahnhof und Straßen waren wie ausgestorben. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. Er brauchte eine Pause, doch er durfte nicht anhalten, auf keinen Fall. Das Schmerzen in seinem Knöchel und das Poltern seiner Herzschläge ignorierend, stolperte er weiter. Wenn er es rechtzeitig ins Versteck schaffte, wenn er nur den Brief weitergeben könnte…
Nein. Er hielt inne. Nicht aus Erschöpfung, sondern weil ihm klar wurde, dass er einen Fehler machte. Er würde sie nicht abhängen können. Sie würden ihm folgen und sie würden ihn einholen, sie würden den Brief entdecken und es wäre alles umsonst gewesen. Es gab nur einen Weg.
Er atmete tief durch. Dann lief er wieder los und hielt nur noch einmal an der Bushaltestelle kurz an. Neben einem der Wartehäuschen stand eine große Linde. Ein Bild aus längst vergangenen Tagen flackerte in ihm auf, als Hanna klein war und sie einen verletzten Vogel in dem hohlen Stamm des Baumes gefunden hatten. Es war gewagt, sich auf diese alte Geschichte zu verlassen, aber auf die Schnelle war es das Beste, das ihm blieb. Hanna war clever, sie würde darauf kommen! Kurzerhand stopfte er den Rucksack hinein und hoffte inständig, dass der Baum nicht allzu bald gefällt würde.
Und jetzt konnte er nur noch rennen, bis die alten Füße nicht mehr wollten. Er rannte am Kreisverkehr vorbei und über das holperige Kopfsteinpflaster in die Fußgängerzone. Schweiß rann ihm die Stirn und den Nacken hinunter. Seine Schritte wurden langsamer und schleppender. Er atmete keuchend und seine Hände zitterten schlimmer denn je.
An der alten Stadtmauer hatten sie ihn eingeholt. Fast war er froh, dass es vorbei war.
„Horkus!“, rief einer der Verfolger. Er hatte eine Waffe auf ihn gerichtet.
„Warte, wir brauchen ihn lebend!“, rief ein anderer.
Horkus kannte sie beide nicht. Aber den Dritten, der hinzutrat, den kannte er. Er richtete sich so grade auf, wie er konnte. „Vikram“, krächzte er.
Vikram lächelte dünn. Wie gut Horkus sich an dieses Lächeln erinnerte. Es hatte ihn so lange verfolgt…
„Wo ist der Schlüssel?“, fragte Vikram.
Horkus seufzte. Jetzt kam der wirklich anstrengende Teil. „Ich habe ihn nicht bei mir. Und ich werde euch auch nicht sagen, wo er ist.“
„Nach all den Jahren…Es muss so nicht laufen, weißt du?“, sagte Vikram und lächelte ein wenig breiter. Sollte das ermutigend sein?
„Doch“, sagte Horkus müde. „Das muss es wohl.“
Vikram winkte den andern knapp. „Mitnehmen.“
Als Letztes sah Horkus, wie einer der beiden einen kleinen Gegenstand mit spitzer Nadel aus der Tasche zog. Ein kurzer Stich in den Hals – dann wurde alles schwarz.