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KAPITEL 2

Heimweg mit Hindernissen

Milena stand mit überkreuzten Beinen an der Bushaltestelle. Sie kreuzte die Füße immer, wenn sie nervös war. Und mit jeder Minute wuchs ihre Nervosität. Sie hatte ihren ersten Schultag an der neuen Schule überstanden, und jetzt war ihre erste Busfahrt dran. In ihrem Dorf gab es genau eine Haltestelle und es fuhr auch nur ein Bus – zweimal am Tag. Entsprechend zuversichtlich hatte sie sich von der Schülermenge mittragen lassen und war am zentralen Busbahnhof gelandet: Nicht wissend, dass es zwei weitere große Haltestellen gab, nicht wissend, dass alle Linien unterschiedliche Routen fuhren, nicht wissend, wieso sich ab dem Schellen der Schulglocke die Schüler erbitterte Wettrennen in alle Richtungen lieferten.

Aber jetzt dämmerten ihr all diese Dinge. Ein Bus nach dem anderen war in die Bucht eingefahren und vollbesetzt wieder abgefahren. Ältere Schüler prügelten sich, wenn nötig, nach vorne, um die begehrten Sitzplätze zu belegen. Der Rest drängte sich im Gang und gegen die Türen gepresst.

Milenas Bus war nicht vorgefahren. Hatte sie ihn im Gewühle übersehen? Sie lief die einzelnen Wartehäuschen ab und kontrollierte die Fahrpläne. Nicht alle waren lesbar, manche waren beschmiert oder herausgerissen. Ihre Linie war nicht dabei.

Ob sie eine andere Haltestelle aufsuchen sollte? Aber welche? Und, stellte sie mit wachsender Panik fest, so gut kannte sie sich in der Stadt gar nicht aus. Und vermutlich war der Bus ohnehin längst weg. Sie spürte, wie ein Kloß ihr gegen die Kehle drückte, ein Kloß, der ihr außerdem ein Brennen in die Augen trieb. Sie schluckte ein paar Mal kräftig. Weinend an der Straße zu stehen, brachte ja auch nichts. Wie konnte es sein, dass alle anderen genau wussten, was sie machen mussten? Wieso stand sie als einzige verloren und vergessen auf dem heißen Bordstein? Das war ein fürchterlicher erster Schultag. Zuerst diese wüste Klasse und jetzt… Wenn sie wenigstens nicht als einzige die Sache mit dem Bus falsch gemacht hätte. Wenn es noch andere Schüler gäbe, die suchend und ratlos hier umherirrten, dann hätten sie vielleicht gemeinsam eine Lösung gefunden.

Aber außer ihr war inzwischen kaum noch jemand da. Ein paar ältere Schüler saßen in einer Ecke und sahen überhaupt nicht aus, als warteten sie auf einen Bus. Dann war da noch ein Junge, der auf der Bordsteinkante hockte und mit einem Stein über das Pflaster ritzte. Milena erkannte ihn wieder. Es war der ungekämmte Junge aus ihrer neuen Klasse, den sie „Matte“ getauft hatten.

Sie bewegte sich ein paar Schritte auf ihn zu.

„Du bist doch auch in meiner Klasse“, sagte sie vorsichtig.

Matteo sah kurz auf, nickte und schaute wieder auf seinen Stein. Milena fand, dass er unglaublich traurige Augen hatte.

„Wartest du auch noch auf den Bus?“

Matteo schüttelte den Kopf, seine Haare sträubten sich noch mehr. Milena setzte sich neben ihn. Eine Weile sagte niemand etwas, nur das Kratzen von Stein auf Stein war zu hören. Milena versuchte zu lesen, was Matteo da ritzte, doch soweit sie sehen konnte, war es nur irgendwelches Gekritzel.

Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen, überlegte Milena. Sie hatte Schicht im Krankenhaus bis abends, aber danach könnte sie sie abholen. Falls sie überhaupt erreichbar war. Wenn sie im OP gebraucht wurde, konnte es Stunden dauern, bevor sie wieder auf ihr Handy sah. Bis dahin sollte sie vielleicht besser in die Schule zurückgehen. Ob die so spät geöffnet blieb? Oder sie könnte laufen. Wie lange würde sie wohl brauchen? Und wenn sie den Weg nicht fand?

Sie verharrte stattdessen neben ihrem neuen Mitschüler und fragte: „Wo wohnst du?“

„Beekfeld“, sagte Matteo. „Da bei den Baumärkten“, fügte er hinzu.

Milena hatte nur eine ganz ungefähre Ahnung, wo das war, aber sie fragte nicht weiter. Wieder schwiegen sie eine Zeit lang. Matteo war nicht gerade eine aufmunternde Gesellschaft, aber besser als niemand. Er griff nach seiner Schultasche und kramte ein wenig darin herum. Milena sah einen zerfransten Collegeblock und die Bücher, die sie heute bekommen hatten. Doch Matteo suchte nicht nach Schulsachen, sondern zog eine Schachtel Zigaretten heraus.

„Die soll ich ein paar älteren geben“, erklärte er. „Keine Ahnung, wo die bleiben…“

„Woher hast du die?“, fragte Milena. Sie hatte noch nie Mitschüler mit Zigaretten getroffen.

„Von zu Hause.“

„Von deinen Eltern?“

„Sind nicht meine richtigen Eltern“, sagte Matteo, als sei damit alles erklärt.

„Merken sie nicht, wenn die weg sind?“ Milena zeigte auf die Schachtel mit dem gruseligen Foto schwarzer und schleimiger Organe.

Matteo zuckte die Schultern. „Manchmal.“

Die Schüler in der Ecke schulterten ihre Rucksäcke und verließen die Haltestelle. Milena sah ihnen nach, sie verschwanden auf der anderen Straßenseite in einem Pizza-Imbiss. Matteo und sie waren nun die Einzigen in der Haltebucht. Am liebsten wäre sie auch gegangen.

„Wenn die nicht kommen, soll ich die Schachtel in dem Baum da verstecken“, sagte Matteo. Er zeigte auf eine alte Linde am Straßenrand. Unter einem dicken Ast, etwa auf Augenhöhe, hatte er ein großes Loch und war dahinter ausgehöhlt.

„Und wenn du das nicht machst?“, schlug Milena vor.

„Wenn ich keine mitbringe, verprügeln sie mich.“ Er sagte es leichthin, als bedeutete es nichts. Dann nahm er den Stein wieder auf und kratzte dicke, weiße Linien.

Milena sah ihn lange an, doch Matteo starrte stur auf sein Gekritzel.

„Hast du es deinen Eltern gesagt?“, fragte sie irgendwann. Sie fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Gegenwart. Seine ganze Art bedrückte sie, und das mischte sich mit ihren eigenen Sorgen, nicht nach Hause zu kommen.

„Geht ja nicht“, sagte Matteo und kratzte so fest über den Asphalt, dass es schrill knirschte. „Dann müsste ich ja meinen Pflegeeltern sagen, dass ich ihnen Kippen klaue…“

Die aufgeheizten Steine drückten Milena schmerzhaft durch ihre dünne Hose. Sie stand auf. Von der anderen Straßenseite näherte sich ein blondes Mädchen mit einem Hund. Es war eine riesige graue Dogge, die dem Mädchen bis zur Brust reichte. Milena erkannte das Mädchen wieder, sie war bei dem falschen Feueralarm heute als erste rausgestürmt. Aber sie hatte ihren Namen vergessen. Mädchen und Hund trotteten herüber und bauten sich vor ihnen auf.

„Ey, Matte!“, sagte das Mädchen. Etwas Aufforderndes lag in ihrem Blick.

„Hey, Jeanette“, erwiderte Matteo, ohne aufzusehen. Die Dogge schnüffelte an seinem Rucksack und sabberte ausgiebig darüber.

Jeanette schob die Tasche mit dem Fuß aus der Reichweite der Hundeschnauze. „Was ist mit den Kippen?“, fragte sie fordernd. Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme für ihr Alter, was sie selbstbewusster erscheinen ließ. Milena kreuzte wieder die Beine. Jeanette beachtete sie mit keinem Blick, aber Milena war nicht böse darum.

„Die geb‘ ich nachher Erik und so“, nuschelte Matteo vor sich hin.

„Die sind am Sportplatz, ich bring die vorbei“, sagte Jeanette und hielt die Hand auf.

„Nein, ich tu die gleich in den Baum“, sagte Matteo trotzig und kratzte noch etwas rigoroser.

„Ich komm da eh vorbei…“

Die beiden fingen an, sich lautstark zu zanken. Die Dogge knurrte leise und Milena wich ein paar Schritte zurück. In diesem Moment fuhr ein großes blaues Auto in die Haltebucht und hielt ein Stück neben Milena. Alle Fenster auf ihrer Seite wurden heruntergekurbelt und drei Köpfe sahen heraus.

„Sollen wir dich mitnehmen?“

Zwei Köpfe gehörten Mädchen aus Milenas neuer Klasse. Aus dem vorderen Fenster schaute eine lächelnde Frau, vermutlich die Mutter von einem der Mädchen.

Milena kam zögerlich näher.

„Ihr seid doch in derselben Klasse, oder?“, fragte die Frau. „Melina, richtig?“

„Milena“, piepste Milena.

„Die Busse sind alle weg, wo musst du denn hin?“

Milena trat ganz ans Auto heran. „Nach Kleinfeld. Aber…“

„Das liegt am Weg, wir wohnen nur einen Ort weiter.“

Milena sah sich zu Matteo um. Er war aufgestanden und beäugte die Dogge unsicher, während Jeanette wüst auf ihn einredete. Dann nahm sie ihm die Schachtel ab und steckte sie ein.

Milena traf ihre Entscheidung schnell: „Danke“, sagte sie und setzte sich zu den anderen beiden auf die Rückbank. Eine gewaltige Erleichterung überkam sie – weg von Jeanette und ihrer Dogge, weg von Matte und seinen Zigaretten und vor allem weg von der heißen Bushaltestelle… Sie kramte in der Tasche nach ihrem Haustürschlüssel. Als sie ihn fand, steckte sie ihn tief in ihre Hosentasche.

„Ihr kennt euch ja schon, aber vermutlich nur flüchtig, was?“ Die Frau sah sie über den Rückspiegel an.

„Annika…“

Das Mädchen neben Milena begrüßte sie.

„…und meine Tochter, Michelle…“

„Hi“, sagte Michelle.

Milena hätte sie glatt für Geschwister gehalten. Beide hatten lange braune Haare, dunkler als Milenas. Annika war ein wenig kräftiger als Michelle, sie hatte runde Wangen und eine schon etwas weiblichere Figur als die meisten in ihrem Alter. Milena selbst war ebenfalls recht groß, aber dünn und drahtig.

„…auf jeden Fall waren die alle total laut und respektlos!“, sagte Annika. Sie steckten offenbar mitten in einer lebhaften Beschreibung des Vormittags.

„Am schlimmsten war der Dicke“, fand Michelle.

„Wie hieß der, Rocko?“

„Nee, dieser Mats war schlimmer…“

„Ja, der ist nur rumgerannt, einfach die ganze Zeit, wie so ein irres Eichhörnchen!“

Alle lachten. Milena lehnte den Kopf an die Scheibe. Der kühle Fahrtwind war angenehm. Sie fuhren jetzt aus der Stadt heraus und eine Landstraße entlang. Die Felder und Wiesen waren gelb und strohig, in einiger Entfernung funkelte das Flusswasser verlockend. Vielleicht würde die Klasse sich ja beruhigen, wenn erst einmal alle richtig angekommen waren, wenn sich Freunde gefunden hatten…

„Und diese Jule hat einfach nur alle angezickt und Jeanette hat rumgebrüllt und dann ihren Apfelsaft auf dem Teppichboden ausgekippt.“

„Ist denn wenigstens eure Klassenlehrerin nett?“

Sofort stürzten sich die Mädchen wieder in ihre Erzählungen.

„Geht so, sie sieht aus wie eine halb rasierte Kuh.“

„Sie ist irgendwie überfordert…“

„Außerdem hat sie…“, begann Michelle, doch sie stoppte mitten im Satz. Einen Moment lang wunderte sich Milena nur, wieso sie nicht weitersprach, dann sah sie, dass Michelle die Augen nach innen verdrehte und unkontrolliert am ganzen Körper zuckte.

Das Auto kam mit knirschenden Bremsen zum Stehen, zwei Reifen auf dem trockenen Randstreifen. Michelles Mutter sprang vom Sitz, riss die hintere Tür auf und drückte ihrer Tochter den Kopf in den Nacken. Mit Annikas Hilfe legte sie Michelle ausgestreckt auf die Rückbank, während das Mädchen weiterhin wild zitterte und zuckte. Milena stand wie angewurzelt neben dem Auto und wusste nicht, was sie tun oder lassen sollte.

Nach einigen Minuten ließen die Zuckungen nach. Michelle hatte die Augen geschlossen, aber sie atmete ruhiger. Ihre Mutter seufzte.

„Zum Glück nur ein kurzer Anfall“, sagte Annika. Sie schien weder erschrocken noch überrascht.

„Michelle hat Epilepsie“, erklärte Michelles Mutter und tupfte ihr mit einem Taschentuch das Gesicht ab. „Sie bekommt manchmal solche Anfälle, ist eine Art Störung im Gehirn. Meistens gehen sie schnell wieder vorbei. Wenn sie mal länger dauern, müsst ihr einen Krankenwagen rufen…“

Milena nickte stumm. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt handeln könnte, wenn sich der Vorfall wiederholen sollte – wenn Michelle so mir nichts, dir nichts, mitten im Satz …

„Deshalb möchte ich nicht, dass sie mit den überfüllten Bussen fährt“, erklärte Michelles Mutter weiter. „Wenn du möchtest, können wir dich also öfters mitnehmen.“

„Danke“, sagte Milena leise. Sie hatte tausend Fragen, traute sich aber nicht recht, sie zu stellen. Michelle richtete sich langsam wieder auf. Sie drückte die Hand gegen die Stirn und sah erschöpft aus.

„Das nervt“, sagte sie irgendwann. „Naja, besser jetzt als in der Klasse. Können wir weiterfahren?“

Bevor jemand antworten konnte, wurden sie abgelenkt: Ein schwarzes Auto kam die Straße herauf, der Lack blitzte in der Sonne. Alle vier beobachteten, wie der Wagen langsamer wurde und dann fast lautlos neben ihnen stehen blieb. Eine getönte Scheibe wurde heruntergelassen und ein blasser Mann mit spitzem Gesicht lehnte sich ein Stück heraus. Er war grauhaarig und trug einen dunklen Anzug.

Er lächelte sie an, doch irgendetwas an ihm gab Milena ein seltsames Unbehagen. Auch Annika und Michelle schienen so zu empfinden, wobei Michelles bleiche Farbe ihrem Anfall geschuldet sein mochte.

„Braucht ihr Hilfe?“, fragte der Mann, konstant lächelnd. Michelle schüttelte stumm den Kopf. Fahr weiter, dachte Milena, fahr einfach weiter. Sein ununterbrochenes Lächeln irritierte sie, wer verhielt sich denn so?

„Ihr seid bestimmt von der Gesamtschule?“, sagte er zu Annika.

Annika nickte kaum merklich.

„Wir müssen nach Hause“, schaltete sich Michelles Mutter ein und schob sie alle zurück in den Wagen.

„Wir werden uns dann sicherlich bald sehen“, sagte der Mann, lächelte noch ein wenig breiter und ließ die Scheibe wieder hochfahren. Milena war froh, als sein Gesicht hinter dem getönten Glas verschwand, doch hatte sie das sichere Gefühl, dass er sie weiter beobachtete, bevor er schließlich langsam davonfuhr.

„Komischer Kauz“, murmelte Michelles Mutter, während sie ihrerseits die schwarze Limousine im Rückspiegel fixierte.

„Was meinte er damit, dass wir ihn dann bald sehen?“, fragte Milena beunruhigt.

„Vielleicht ist er ein Lehrer…“

„Oh, bloß nicht“, riefen die Mädchen gleichzeitig.

Nicht lange danach bogen sie in Milenas Straße ein. Erst als sie auf den Türstufen vor ihrem Haus stand und zum Abschied winkte, merkte sie, wie müde sie war. Sie konnte nur hoffen, dass, wenn schon die Klasse ein ungezähmter Haufen war, wenigstens die Heimwege in Zukunft ruhiger verlaufen würden.

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