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KAPITEL 6

Auf dem Krähenhof

Regen klatschte gegen das Fenster. Didi sah missmutig nach draußen.

„War ja klar, dass das Wetter genau dann scheiße wird, wenn wir auf Klassenfahrt sind“, maulte er.

„Ist nur ein Schauer“, sagte Daniel. „Morgen ist es wieder schön.“ Er stand mit zwei Paar Socken vor seiner Sporttasche und überlegte, was er noch brauchte. Eine Regenjacke auf jeden Fall, egal was er Didi erzählte. Didi schaukelte in der Hängematte und raschelte mit seiner Zeitung. Seit ein paar Tagen brachte er morgens immer eine Zeitung mit zur Schule – eine Angewohnheit, die ihm viel Häme bescherte, vor allem von Jule, aber auch Milan hielt sich nicht zurück, ihn aufzuziehen. Vor zwei Tagen hatte Didi aber dann tatsächlich mal etwas Interessantes gefunden:

Startschuss für Neubau an der Gesamtschule verzögert sich weiter

Noch immer kann das marode und zurzeit ungenutzte Gebäude auf dem Gelände der Gesamtschule Schöneburg nicht zum Abriss freigegeben werden. „Wir arbeiten auf Hochtouren an der Erstellung eines Gefahrengutachtens“, teilte ein Sprecher der Stadt mit. „Aber diese Dinge brauchen ihre Zeit, Sicherheit geht vor.“ Vermutungen, die noch immer offenen Ermittlungen im Fall der vermissten Jugendlichen könnten der Grund für die Verzögerung sein, blieben vom Schulträger unkommentiert. Kritiker werfen dem Stadtrat Planungsfehler vor…

Hin und her hatten sie überlegt, wer die Wandkarte gemalt haben könnte, an wen sie gerichtet war, wer den Abriss bremste und warum. Vielleicht glaubte jemand, dass dann alle Hoffnung, die verschwundenen Teenager wiederzufinden, endgültig verloren ginge. Oder war es andersherum? Dass jemand fürchtete, es könnten Dinge ans Licht kommen, die geheim bleiben sollten?

„Das wird furchtbar“, heulte Didi.

„Was?“, fragte Daniel zerstreut.

„Zwei Tage lang. Mit Rocko. Und Jule. Und allen anderen. Von morgens. Bis abends.“ Didi krabbelte ein Stück aus der Hängematte und sah Daniel kopfüber beim Packen zu.

„Vergiss die Strick nicht“, sagte Daniel. Frau Strick hatte eine neue Methode entdeckt, um mit dem Chaos in der Klasse umzugehen. Sie beauftragte jetzt die ruhigeren Schüler damit, ihre Klassenkameraden zur Ordnung zu rufen. Mit diesem Ansinnen hatte sie sich höchst unbeliebt gemacht. Entweder man brüllte sich aus vollem Halse an, endlich leise zu sein – oder man ignorierte den ohrenbetäubenden Krach, wenn es ein Freund war, der ihn verursachte. Arif war als Klassensprecher der Einzige, der sich pflichtschuldig darum bemühte, ihre Anweisungen umzusetzen. Erfolgreich war er allerdings auch nicht. Dafür schaute er noch verkniffener drein als ohnehin schon.

Für die Busfahrt zum Krähenhof, dem Ziel ihres zweitägigen Klassenausflugs, hatte Frau Strick eine bessere Idee:

„Auf der Homepage vom Krähenhof ist ein Quiz, das macht ihr jetzt mal bitte alle.“

26 Handys wurden gezückt. Niemand machte das Quiz, nicht einmal Arif. Aber alle waren plötzlich leise. Auch Daniel hielt sein Handy in der Hand, doch er stierte aus dem Fenster. Ein fahler Frühnebel zog über die Wiesen. Vereinzelt tauchten Spuren von Gelb und Orange an Büschen und Bäumen auf. In den Herbstferien wollte seine Mutter mit Dennis kommen. Dennis‘ Zimmer war allerdings unbewohnbar. Ihr Vater hatte ein Holzlager daraus gemacht, weil er im Holzlager eine Pilzzucht angelegt hatte. Lasse und Daniel waren sich einig, dass die Pilze genauso eingehen würden wie die Kakteen vor ihnen. Vielleicht könnte Dennis bei Daniel im Zimmer schlafen, wie früher, als die Brüder sich zu dritt ein Zimmer geteilt hatten…

Sie fuhren durch ein Waldstück einen flachen Hügel hinauf. Dann bog der Bus in einen Schotterweg voller Schlaglöcher ein. Daniel rumste mit dem Kopf gegen die Scheibe. Er setzte sich aufrecht hin und versuchte zu erkennen, was am Ende des Waldweges zwischen den Bäumen lag.

„Wir sind voll am Arsch der Welt“, lästerte Jule, als sie einen hölzernen Torbogen mit einem geschnitzten Schild passierten.

illkommen au dem Krähenhof

…stand darauf. Der Bus rumpelte durch ein letztes tiefes Schlagloch und kam abrupt zum Stehen. Ein paar Schüler waren schon zu früh aufgestanden und wurden im Gang nach vorne geworfen. Daniel sah zu, wie der kleine Benni an ihnen vorbeiflog und gegen Rocko prallte. Rocko schien das kaum zu bemerken. Es gab einiges Gedränge und Geschubse, dann würgte sich die Klasse aus dem Bus heraus.

Es roch nach feuchtem Wald und Pferdestall. Ein großes weißes Gebäude mit roten Ziegeln stand auf einem weitläufigen Platz mit Kopfsteinpflaster. Rechts davon sah Daniel Scheunen und Ställe, auf der anderen Seite die Ausläufer eines Geheges. Außerdem wurde Daniel klar, wieso es der „Krähenhof“ hieß. In den Bäumen rings um den Hof saßen ganze Kolonien von Krähen und krakeelten wie eine randalierende Meute Straßenräuber.

Eine ziemlich quadratische Frau kam aus dem Haus auf sie zu. Ihre Gummistiefel schlappten bei jedem Schritt. Über ihrem Sweatshirt trug sie einen grauen Kittel. Etwas klebte daran, das wie ein Stück Kuhfladen aussah.

„Tach zusammen“, sagte sie. „Schön dassa da seid. Ich bin die Jutta. Also die Mädchen ham die Schlafzimmer links, die Jungens rechts.“ Sie fuchtelte wild mit den Armen. „Essen gibbet immer um acht, um eins und um sieben. Dazwischen machen wa Ponyreiten und Schnitzeljachd. Und um zehn Uhr is Ruhe. Da hinter mir habta ne Strohscheune und Hüpfburg und dat ganze Gedöns. Ach ja und da links isset Wildgehege, da auf keinen Fall rein gehen, dat wär schlecht für euch.“ Sie lachte tief und bellend. „Joar, dat wärs. Viel Spaß aufm Krähenhof.“

Sie machte kehrt und marschierte zurück zum Haus. Etwas zögerlich folgte ihr die Klasse. Die Zimmer waren klein, es passten so gerade immer zwei Stockbetten und ein schmaler Schrank hinein. Daniel bezog die obere Etage, Didi hievte sein Gepäck auf das untere Bett. Sie teilten sich das Zimmer mit Milan und Mats. Insgesamt nicht allzu schlecht, dachte Daniel. Wobei – mit Mats als Mitbewohner würden ihre Betten vermutlich vor Einbruch der Nacht als Trümmerhaufen enden.

Sie verstauten ihr Gepäck und schwärmten dann aus, das Gelände zu erkunden. Didi und Daniel kamen als erstes am Wildgehege vorbei. Sie folgten einem Trampelpfad den Zaun entlang. Das Gehege war riesig und scheinbar leer. Einmal glaubte Didi etwas gesehen zu haben, aber Daniel bemerkte nichts. Sie umrundeten es einmal und kehrten zurück zum Hof. Aus der Strohscheune drang lautes Kreischen. Daniel und Didi sahen sich kurz an, schüttelten den Kopf und machten einen weiten Bogen darum. Sie landeten beim Pferdestall. Ein gewaltiges Kaltblutpferd stand angebunden vor seiner Box. Es war braun und weiß gescheckt, und mit seinen dichten, langen Behängen um die Hufe sah es aus, als trüge es Schlaghosen. Sein Kopf allein war fast so groß wie Didi vom Scheitel bis zur Sohle. Es blähte die Nüstern auf und beschnupperte sie vorsichtig. Dann versuchte es, sein Maul in ihre Taschen zu stecken. Didi fiel um und suchte schleunigst das Weite.

Sie liefen einmal um das gesamte Gelände herum und entdeckten neben weiteren Pferden auch Gänse, Ziegen, eine einäugige Katze („bestimmt ein Krähenopfer“, vermutete Didi), Esel und noch viel mehr Krähen. Wieder am Wildgehege angekommen lehnten sie sich gegen den Zaun und spähten in den Wald.

„Weißt du, was ich überlegt habe“, begann Daniel. „Wegen der vermissten Jugendlichen…“

Didi sah ihn erwartungsvoll an, aber Daniel warf die Stirn in Falten und redete nicht weiter. Er hatte da einen Gedanken, nur war der ein bisschen gewagt.

„Ich möchte wirklich wissen…“, fuhr er irgendwann fort, doch er wurde unterbrochen.

Mats kam den Pfad entlang gesprintet und stoppte schlitternd vor ihnen.

„Ey, Wahnsinn, geht bloß nicht in das Gehege“, keuchte er.

„Das hat die Frau doch vorhin gesagt“, meinte Didi augenrollend.

„Im Ernst, geht da nicht rein…“

„Wieso, was ist da…?“, Daniel verstummte wieder. Etwas kam den Pfad entlanggaloppiert. Etwas Großes und Lautes, dessen Klauen auf den Boden trommelten.

„Du hast die Tür aufgemacht?!?!“

„Lauft weg!“, quietschte Mats und sauste Armrudernd davon.

„Ahhhhh!“, schrie Didi.

„WILDSCHWEINE!“, brüllte Daniel. Er raste hinter Mats her.

Drei wütende Wildschweine preschten um die Ecke und auf die Jungen zu. Sie waren fast einen Meter groß und noch weitaus länger, ihre gewaltigen Hauer schimmerten weiß. Daniel hatte keine Lust, mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Er rannte um einen Haselstrauch und in einen Waldbereich voller Eichen hinein. Mats schlug Haken um die Baumstämme wie ein aufgescheuchtes Wiesel, doch Didi kam nicht so schnell hinterher.

„Auf die Bäume“, kommandierte Daniel. Er packte einen Ast und schwang sich hinauf. Unter ihm bretterte ein 200-Kilo-Schwein vorbei. Er reichte Didi eine Hand und zog ihn zu sich herauf. Mats beschrieb einen fast eleganten Bogen und rannte den Baum hoch, als hätte er Saugnäpfe an den Händen. Die Wildschweine trampelten weiter und verschwanden im Dickicht.

Eine Weile sagte niemand etwas. Sie saßen auf ihren Ästen, an den Stamm geklammert, und versuchten wieder zu Atem zu kommen. Über ihnen machten die Krähen einen Mordslärm. Offenbar passten ihnen die Eindringlinge auf ihrem Baum nicht.

„Wieso lässt du denn die Türe auf?“, fragte Daniel über das Gekrächze hinweg.

„Wir sind zwei Minuten hier“, heulte Didi. „Zwei Minuten. Und…und…“, er machte eine hilflose Geste in Richtung Mats.

„Was denn“, rief der. „Woher soll ich denn wissen…“

„Weil die Frau das extra noch gesagt hat“, riefen Didi und Daniel beide.

„Ach, als ob“, sagte Mats, aber er blickte ein klein wenig schuldbewusst drein.

Im Gebüsch raschelte es. Das größte der Wildschweine brach durch die Zweige und umkreiste ihren Baum. Es wühlte und scharrte in den alten Laubschichten vom vergangenen Jahr und äugte immer wieder zu ihnen herauf. Eigentlich guckte es ganz niedlich, dachte Daniel. Die flauschigen Teddyohren und die dunklen Knopfaugen sahen sogar richtig freundlich aus. Nur die geschwungenen Hauer passten nicht ins Bild.

„Na toll“, sagte Didi. „Wir kommen hier nicht mehr runter.“

„Der sucht nur nach Eicheln“, sagte Daniel und sah die vollbehangenen Zweige prüfend an. „Aber die hängen alle noch oben…“

„Dann reiß welche ab!“, sagte Didi.

Daniel pflückte ein paar Früchte ab und warf sie nach unten. Das Wildschwein interessierte sich aber nur mäßig dafür und Daniel gab es bald wieder auf.

Eine Weile saßen sie still auf dem Baum. Das heißt, Didi und Daniel saßen ruhig da, Mats schaukelte auf seinem Ast hin und her und versuchte, mit Eicheln zu jonglieren.

„Was wolltest du vorhin eigentlich sagen?“, erinnerte Didi Daniel an seinen angefangenen Satz.

„Ach ja…“ Daniel überlegte kurz, ob er vor Mats darüber sprechen wollte. Doch Mats steckte ständig in so vielen Schwierigkeiten, er war der Letzte, der sie verpetzen würde.

„Ich will einfach wissen, was in diesem Gebäude ist“, sagte Daniel. „Ich meine, was, wenn es da noch Spuren oder Beweise gibt? Und die sperren es ab und verhindern den Abriss, damit niemand das rauskriegt.“ Er hatte keinerlei Vorstellung, wen genau er mit „die“ meinte, aber Didi ging nicht darauf ein. Er sagte stattdessen das Offensichtlichere:

„Was willst du machen? Einbrechen?“

Daniel antwortete nicht. Das war genau sein Gedanke gewesen. Laut ausgesprochen klang es allerdings viel krasser, als er erwartet hatte.

„Naja“, druckste er herum. „Es ist ja unsere Schule. Und wenn da was Gefährliches ist, ist es doch sozusagen unser Recht, das zu wissen…“

„Ich komm mit“, sagte Mats. Er hing an den Kniekehlen von seinem Ast herab. „Ich will das auch wissen.“

Das Wildschwein unter ihnen hob den Kopf. Daniel hatte es auch gehört. Ein Glockenklingeln und das Rappeln von Futternäpfen hallten durch den Wald. Das Wildschwein setzte sich in Bewegung und trabte fröhlich davon. Sie warteten noch einen Moment, um sicherzugehen, dass die Luft rein war, dann kletterten sie hinunter.

Daniels Fußspitze berührte kaum den Boden, als –

„SOFORT RUNTERKOMMEN!!“

Frau Strick stand wutschäumend vor ihnen.

Was machen wir denn gerade, dachte Daniel, traute sich aber nichts zu sagen.

„Was habt ihr euch dabei gedacht?!“, fuhr sie die Drei an. „Seid ihr völlig übergeschnappt?!“

„Eigentlich war das…“, begann Didi leise, aber Frau Strick ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Keine Sekunde kann man euch aus den Augen lassen! Reiten ist gestrichen für euch! Mats! Du gehst die Ställe ausmisten. Ihr zwei! Küche! Sofort!“

„Aber Frau Strick“, begann Didi noch einmal.

„JETZT!“, schrie Frau Strick.

Mats trollte sich. Didi und Daniel trotteten zur Küche, wo sie ein Berg von dreckigem Geschirr erwartete.

„Ich find‘s nicht gut, Mats mitzunehmen“, sagte Didi. „Der macht immer irgendwas Dummes und wir werden erwischt.“ Er nahm sich ein Handtuch. „Das ist so unfair…“

Didi hatte nicht unrecht. In der Nähe von Mats war es sehr wahrscheinlich, in irgendein Schlamassel hineingezogen zu werden. Seufzend nahm er sich einen Spüllappen. Andererseits war Mats so jemand, der Dinge einfach machte. Vielleicht wäre es gut, ihn dabei zu haben. Daniel hatte noch keine Ahnung, wann und wie er in das gesperrte Gebäude hineingelangen sollte. Und irgendetwas sagte ihm, dass Mats nicht lange darüber nachgrübeln würde.

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