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KAPITEL 7

Die Nachtwanderung

„Mats hat was?!“

„Ja, wirklich. Die Wildschweine haben sie auf die Bäume gejagt. Und jetzt müssen sie die Klos putzen oder so.“

„Uäh, voll abartig“, rief Jule.

„Nur wenn du vorher drauf warst“, entgegnete Milan.

Die Klasse stand vor dem Reitplatz und wartete darauf, dass die zweite Gruppe ihre Pferde hineinführen durfte. Jule warf Milan einen verächtlichen Blick zu und streichelte demonstrativ den Hals ihres Pferdes. Jule hatte sich auf die weiße Stute gestürzt, bevor die anderen überhaupt den Stall vollständig betreten hatten. Schnell wurde klar, wieso: Mirabella hatte das perfekte Aussehen und Verhalten eines ferngesteuerten Barbie-Pferdes. Milans kleines graues Pony hingegen stampfte ungeduldig mit den Hufen und schubste ihn ständig in den Rücken.

Milena führte ein gewaltiges Kaltblut am Zügel, von dessen tellergroßen Hufen sogar Rocko respektvollen Abstand hielt. Bei ihrem Onkel auf dem Hof hatte sie schon ein paar Mal reiten dürfen. Als Jutta fragte, wer sich auf Goliath traute, hob sie als Einzige die Hand.

„Mein Onkel sagt, die großen sind meistens gutmütig“, erklärte sie mit roten Flecken auf den Wangen. „Je kleiner, desto frecher.“

„Kann ich bestätigen“, meinte Milan. Er versuchte, sein Pony zurück zu schubsen, es stampfte mit dem Huf nach ihm. „Siehe Mats, der ist auch klein. Na ja, dünn eher. Und gemein von der Strick, dass sie – WAS IST KAPUTT MIT DIR?“

Sein Pony hatte ihn so heftig geschubst, dass er zwei Meter nach vorne stolperte. Jule lachte hämisch. Milena presste die Lippen zusammen, um nicht auch loszuprusten. Milan massierte sich die Rippen und baute sich vor dem Pony auf. Es sah aus, als lieferten sie sich ein Wettstarren.

„Soa, dann wolln wa mal.“

Jutta war wieder da. Begleitet wurde sie von ihrem Mann, der sich als Uwe vorstellte.

„Schön der Reihe nach“, ordnete sie an. „Der Uwe hilft euch beim Aufsteigen. Und Vorsicht mit Brutus“, sagte sie zu Milan. „Der ist `n Biest.“

„Nee, echt?“, rief Milan sarkastisch. Brutus drehte ihm jedes Mal den Hintern zu, wenn er versuchte aufzusteigen.

Milena bekam von Uwe eine kleine Treppenleiter. Selbst damit war es noch schwierig, auf Goliath zu klettern. Doch im Gegensatz zu Brutus, der jetzt auf der Stelle tänzelte, hielt Goliath perfekt still. Als Milena oben saß, drehte er kurz den Kopf, wie um zu sehen, ob sie sicher im Sattel angekommen war. Milan sah ein wenig neidisch herüber. Mit Uwes Hilfe schaffte aber auch er es schließlich hinauf.

Jutta zeigte ihnen, wie sie sitzen mussten, um das Gleichgewicht zu halten. Die ausladenden, gemächlichen Schritte von Goliath machten das nicht allzu schwer, Milena fühlte sich wie auf einem schaukelnden Sofa. Jule saß offenbar nicht zum ersten Mal im Sattel, sie blickte von ihrem Barbie-Pferd herab, als gehörte ihr die Welt. Milan hingegen wurde auf seinem kurzbeinigen Pony ordentlich durchgeschüttelt. Doch abgesehen davon war Milena erstaunt, wie ruhig alles verlief. Vielleicht lag es an der Ausstrahlung der Tiere, oder daran, dass Mats nicht da war, oder der Mischung von allem, aber weder gab es Zank und Streit, noch herrschte die übliche Lautstärke. Sie konnte nicht anders, als sie auf Goliath hoch über allen dahinschwebte, strahlte sie über das ganze Gesicht.

„Gut so, wir können jetzt…“, begann Jutta, die in der Mitte stand. In diesem Moment beschloss Brutus jedoch, dass er genug davon hatte, im Kreis zu laufen. Er macht abrupt kehrt, trippelte kreuz und quer zwischen den anderen Pferden hindurch und bemühte sich dabei nach Kräften, Milan irgendwo abzustreifen.

„Willst du mich eigentlich verarschen?“, rief Milan, der zu Brutus‘ Ärger immer noch auf dessen Rücken klebte und offenbar wild entschlossen war, diesen Machtkampf nicht zu verlieren. Für Brutus schien daraufhin der Zeitpunkt für drastischere Maßnahmen gekommen: Er biss Jules Stute in den Hintern. Die Stute keilte aus, Jule kreischte, das Pferd neben ihr sprang zur Seite und sein Reiter landete unsanft auf dem Boden. Der überwiegende Rest der Schüler brach in Panik aus und Sekunden später war aus der geordneten Formation ein wuselnder Ball aus Beinen und Fell geworden – eingehüllt von einer dichter werdenden Staubwolke.

Milena versuchte, aus dem Pulk von durcheinanderlaufenden Pferden zu entkommen, aber Goliath übernahm die Führung. Ungerührt von allem, was um ihn, oder besser: unter ihm, stattfand, schaukelte er Milena an den Rand des Platzes, drehte sich so, dass sie einen guten Blick auf das Geschehen hatte und stand still wie sein eigenes Denkmal.

Uwe lachte. „Der kann auch lesen und schreiben“, sagte er. Dann eilte er seiner Frau zur Hilfe und entwirrte das Durcheinander auf dem Platz.

„Für unsere Klasse gar nicht so schlecht“, meinte Annika später beim Abendessen. „Ich meine, es war bestimmt eine halbe Stunde lang mal alles ruhig…“

„Ich mag keine Pferde“, murmelte Milan und stocherte in seinem Essen herum.

„Was war denn los mit dem Vieh?“, fragte Mats.

„Das war kein Pferd, das war der Teufel“, sagte Milan und rieb sich den Ellenbogen. Brutus hatte zum Abschied seinen Dickschädel dagegen gewummert.

„Tja, jedem das Passende“, rief Jule gehässig. Sie war erst abgestiegen, nachdem ihre Freundinnen drei Dutzend Posen von ihr auf dem Pferd fotografiert hatten.

Milena hatte keine Lust, sich ihre Bilder anzusehen. Sie wandte sich wieder Annika und Michelle zu.

„Denkt ihr, wir machen die Nachtwanderung noch? Ich meine, erst Wildschweinjagd, dann diese Reitstunde… bestimmt sagt Frau Strick das ab…“

Aber Frau Strick überraschte sie. Vielleicht hoffte sie auch nur, dass die Klasse nach einer anstrengenden und aufregenden Nachtwanderung ohne großen Widerstand ins Bett ginge. Jedenfalls verkündete sie beim Essen, dass sie gemeinsam mit Uwe eine Spukwanderung durch den Krähenwald machen würden.

Es war nicht vollständig dunkel, eher dämmerig, als sie aufbrachen. Zwischen den dicht belaubten Bäumen kam nur wenig vom restlichen Tageslicht an und sie konnten nicht weit sehen. Eine Weile folgten sie dem Weg am Wildgehege entlang. Milena fiel auf, dass an der Tür ein Vorhängeschloss angebracht war. Ein kleines Andenken an Mats … Dann führte Uwe sie auf einen Trampelpfad durchs Unterholz. Hier standen die Büsche und Farne so dicht, dass sie im schwindenden Licht über Baumwurzeln stolperten. Brombeerranken wucherten wie Tentakel auf den Sträuchern und verhakten sich in ihren Haaren und Kleidern.

Mats tobte überall, um die Bäume und unter den Brombeeren her, nur nicht auf dem Weg. Die Gruppe um Jule klebte an Uwes Fersen, als fürchteten sie einen Räuberangriff. Milena, Annika und Michelle ließen sich ans Ende fallen. Frau Strick lief hinter ihnen und scheuchte sie ab und an, damit sie nicht den Anschluss verloren.

Es war jetzt vollständig dunkel. Uwe erzählte Gruselgeschichten und das Kichern wich einer angespannten Stille. Es raschelte im Farn und ein brüllendes Tier sprang heraus. Jule und ihre Freundin Tanja kreischten und stolperten seitwärts in die Brombeeren. Das vermeintliche Tier lachte laut und raste den Weg entlang.

„Dieser Mats“, stöhnte Frau Strick und eilte nach vorne, um Jule zu beruhigen. Sie zeterte in den höchsten Tönen, weil in ihrem T-Shirt Dornen steckten und ihre Arme zerkratzt waren. Milena und ihre Freundinnen ließen den Abstand zur Gruppe weiter wachsen, bis sie Jules Stimme nur noch aus der Ferne hörten.

„Wisst ihr, wo es zum Hof zurück geht?“, fragte Annika, als die Stimmen der anderen ganz erstarben.

„Einfach den Weg zurück“, meinte Michelle. Sie hatte die Taschenlampe an ihrem Handy eingeschaltet. Der Lichtschein flatterte über den Boden und die dornigen Ranken wie ein verlorenes Irrlicht. Milena, die hinten ging, stolperte trotzdem alle paar Schritte.

„Wünschte, ich hätte mein Handy auch mit“, sagte sie. „Das ist…“

„Schht“, machte Michelle und blieb stehen. Sie horchten in den Wald hinein. Vor ihnen hörten sie eine Stimme.

„Das ist nur Frau Strick“, sagte Annika leise.

„Ja, und wir kriegen bestimmt Ärger, dass wir nicht beim Rest sind“, flüsterte Michelle und schaltete die Taschenlampe aus. Sie schlichen noch ein paar Schritte weiter, dann hockten sie sich neben dem Weg unter die Farnblätter.

„Mit wem redet die da?“, raunte Milena. Inzwischen war der Mond aufgegangen und die Silhouette von Frau Strick war nur so eben zu erahnen.

„Ich glaub, sie telefoniert…“

Sie strengten ihre Ohren an. Frau Strick sprach anscheinend mit jemandem am Telefon, denn ihre Sätze wurden abgelöst von kurzen Momenten absoluter Stille, die Milena seltsam irritierten. Ein paar Gesprächsfetzen wehten zu ihnen herüber.

„…kann mich nicht darum kümmern, weil ich bis morgen Abend noch in diesem Krähennest festhänge…“

Das war es, dachte Milena: Nachdem sie den ganzen Tag vom Lärmen der Krähen begleitet worden waren, fehlte ihr Gekrächze in der nächtlichen Stille.

„…de Vries muss sich eben gedulden, die Schule läuft ja nicht weg…“

„Au!“ Annika hackte Milena ihren Ellenbogen in die Seite, als der Name de Vries fiel.

„Psst“, zischte Michelle.

Frau Strick hatte aufgehört zu sprechen. Hatte sie aufgelegt, oder die Mädchen im Gebüsch bemerkt? Doch dann hörten sie ihre Lehrerin erneut.

„…weiß nicht, was die Hektik soll, selbst wenn das Gutachten morgen käme, könnten wir unmöglich schon starten. Schließen wir unsere Vorbereitungen gründlich ab, die Freigabe wird schon rechtzeitig kommen…nein, Verschwörungstheorien interessieren mich nicht, mich interessiert nur, dass jeder seinen Job anständig erledigt…“

Sie legte auf. Milena meinte zu hören, wie Frau Strick verächtlich „Wichtigtuer!“ sagte. Zweige knackten und die Lehrerin folgte dem Rest der Klasse den Weg entlang.

Etwa zwei Minuten saßen sie noch still da und horchten, ob Frau Strick zurückkäme. Dann standen sie auf. Milenas Fuß war eingeschlafen. Sie schüttelte ihn und humpelte ein paar Schritte auf einem Bein.

„Worum ging es da?“, fragte Annika.

„Irgendwas wegen dieser Neubau-Sache“, sagte Milena. „Das Gebäude, was noch abgerissen werden soll, muss ja irgendwie noch untersucht werden…“

„Ich wusste nur nicht, dass Frau Strick daran mitarbeitet“, sagte Michelle nachdenklich. „Davon hat sie gar nichts gesagt, als du und Arif das aus der SV erzählt haben.“

„Ach darum hat der Typ, dieser Herr de Vries uns auch so komisch aus seinem Auto raus angequatscht“, sagte Annika. „Wenn Frau Strick mit dem zusammenarbeitet.“

„So ein Quatsch“, widersprach Michelle. „Das war an unserem ersten Tag, woher sollte er wissen, dass wir in ihrer Klasse sind?“

„Ich frag mich nur“, sagte Milena langsam, „warum die das mitten in der Nacht im Wald bespricht – so als sollte das keiner mitkriegen. Ich meine, es geht doch nur um ein paar neue Computerräume und so, oder?“

Annika zuckte die Schultern. „Vielleicht wollte sie einfach in Ruhe telefonieren, also nicht in der Nähe von Mats und so.“

Michelle schnaubte. „Klang überhaupt nicht gerade so, als hätte sie große Lust auf den Ausflug, oder? Krähennest…“

„Und was war das mit Verschwörungstheorien?“, sagte Annika.

„Keine Ahnung…“

Sie standen eine Weile auf dem Waldweg, jede in Gedanken versunken.

„Kommt, sonst gibt es doch noch Ärger“, sagte Michelle. „Nach den Herbstferien fangen die bestimmt endlich diesen Neubau an, dann erfahren wir es eh.“

Gemeinsam trabten sie den Pfad entlang, ihrer Klasse hinterher.

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