Читать книгу ALTERAS - Agnes Maxsein - Страница 12
ОглавлениеKAPITEL 5
Schülervertretung
Zwei Wochen waren vergangen, seit Mats das Regal zerstört hatte. Nichts erinnerte mehr an den Vorfall. Die Wand war sauber gestrichen und ein neues Regal davorgestellt worden. Es war die siebte Stunde; sie saßen in einem Stuhlkreis und besprachen Konflikte in der Klasse.
„Wieso muss der nicht im Kreis sitzen?“, fragte Jule und zeigte auf Milan.
In der Tat hatte Milan sich als Einziger geweigert, seinen Platz zu verlassen und saß nach wie vor an seinem Einzeltisch an der hinteren Wand.
„Weil das alles nichts bringt“, antwortete er. „Hier versprecht ihr alle irgendwas und nachher machen alle genauso weiter wie vorher.“
Milena musste Milan im Stillen recht geben. Sie fand es auch ungerecht, dass er sich herausnehmen konnte, ihren Klassenrat zu boykottieren, aber was er sagte, war nur allzu wahr. Die Streitereien zwischen den Mädchen wurden immer wüster und es verging kein Tag, ohne dass Rocko sich mit jemandem prügelte. Meistens traf es Matteo, der leicht zu reizen war. Bei der kleinsten Bemerkung lief er knallrot an und explodierte vor Wut. Milena glaubte, dass viele genau das lustig fanden und ihn nur deshalb provozierten.
„Na ja, man muss eben daran arbeiten, das geht nicht von heute auf morgen“, erwiderte ihm Frau Strick.
Milan hob abwehrend die Hände. „Ich glaub eher, die meisten hier sind einfach asozial.“
Jule zeigte ihm den Mittelfinger.
„Davon rede ich“, sagte Milan.
„Und was bist du, wenn du nicht mal an unserer Gesprächsrunde teilnimmst?“, fragte Arif völlig emotionslos.
Milena war der ruhige Junge am Anfang gar nicht aufgefallen. Meistens machten Daniel und Milan die Beiträge im Unterricht zwischen sich aus. Doch Arif wusste mindestens so viel wie die beiden. Seine leise Stimme ging nur oft im Lärm der Klasse unter. Er rollte das ‚R‘ immer ein wenig stärker, sprach aber sonst völlig akzentfrei.
„Ich bin bloß realistisch“, sagte Milan.
„Du bist bloß dumm“, rief Rocko.
„Und das sagst ausgerechnet du?“
„Ich bin der Boss!“
Milena tauschte vielsagende Blicke mit Annika und Michelle. So oder so ähnlich endete es immer. Selbst wenn es Frau Strick gelingen sollte, die Klasse in den Griff zu kriegen – spätestens auf dem Schulhof würde sich Jule mit Jeanette streiten, Matteo in Rockos Schwitzkasten landen und Mats vermutlich jemandem Beinchen stellen, irgendwen kneifen, zwicken, erschrecken oder zur Abwechslung etwas kaputt machen.
„Ihr kennt euch ja jetzt ein bisschen…“, versuchte Frau Strick das Gespräch wieder an sich zu reißen.
„Ja, leider“, sagte Didi.
„…und daher könnt ihr jetzt eure Klassensprecher wählen. Vielleicht einen Jungen und ein Mädchen?“
„Ich bin der Boss!“, rief Rocko wieder.
Didi meldete sich. „Ich schlage Daniel vor.“
„Nein, der ist ein Hund“, rief Rocko.
Milena seufzte. Das würde ewig dauern. Sie überlegte, wem sie ihre Stimme geben würde. Mats hüpfte auf seinem Stuhl auf und ab. Sie hatte ihn noch nicht eine Sekunde lang stillhalten sehen. Mats als Klassensprecher, fast hätte sie laut losgelacht. Aber genau genommen fiel ihr niemand ein, der wirklich ihr Vertrauen besaß, von Michelle und Annika einmal abgesehen. Doch beide blieben, wie sie selbst auch, lieber unter sich, somit waren sie keine typischen Klassensprecherinnen.
„Vielleicht kann ja jeder sagen, wofür er oder sie sich hier an der Schule einsetzen würde?“, schlug Frau Strick vor. Sie sah Daniel auffordernd an.
„Besseres vegetarisches Angebot in der Mensa“, sagte Daniel prompt.
„Du bist Vegetarier?“, kreischte Jule.
„Deshalb sitz ich hier hinten“, sagte Milan. „Sonst steck ich mich noch mit Vegetaritis an.“
„Du bist echt so ein Idiot“, sagte Daniel.
„Oder wir hören erst noch ein paar Vorschläge“, unterbrach Frau Strick hastig.
„Jeanette“
„Arif“
„Mats“
„Annika“
„Leona“
Alles brüllte durcheinander, nach kürzester Zeit waren sämtliche Namen mindestens einmal genannt und genauso oft beschimpft worden.
Frau Strick teilte Zettel aus. „Hier“, sagte sie knapp. „Jeder hat zwei Stimmen. Die beiden mit den meisten Stimmen gewinnen. Fertig.“
Milena starrte lange ihren leeren Zettel an. Schließlich schrieb sie Michelle und Arif auf. Die Zettel wurden in einem Kästchen gesammelt und nach vorne gereicht. Jule und Jeanette zählten aus. Dabei standen sie Arm in Arm neben dem Pult. Milena hatte selten Menschen erlebt, die sich in so kurzen Abschnitten ewige Freundschaft und Feindschaft bis in den Tod schworen. Mats hüpfte vor der Tafel auf und ab und schrieb Namen an. Das heißt, er kritzelte irgendwelche Zeichen, die man mit viel Fantasie als menschliche Schrift erkennen konnte. Milena tippte auf ägyptische Hieroglyphen. Sie zuckte zusammen, als ihr Name fiel.
Mats kritzelte etwas, das Milena nicht wirklich als ihren Namen identifizierte. Immerhin, das M am Anfang war irgendwie vorhanden.
„Milena, noch mal Milena…“, diktierte Jeanette. Mats machte Striche hinter die Namen und quietschte jedes Mal fürchterlich über die Tafel.
„Arif, Daniel, Benni, Milena…“
Michelle stupste sie an und grinste. Milena saß einigermaßen geplättet auf ihrem Stuhl und mied den Blick der anderen. Auf der Tafel stand ein sehr eindeutiges Ergebnis.
„Arif, Milena, nehmt ihr die Wahl an?“, fragte Frau Strick, offensichtlich erleichtert.
„Ja“, sagte Milena leise und ein wenig heiser. Sie lächelte nervös. Arif nickte dankend in die Runde. Er lächelte nicht.
„Ihr seid also die Ansprechpartner, wenn es zum Beispiel Schwierigkeiten mit Lehrern gibt, außerdem geht ihr zu den SV-Sitzungen und berichtet dann eurer Klasse davon; die nächste ist schon am kommenden Montag…“
„Wieso haben die mich gewählt?“, fragte Milena zum xten Mal auf dem Weg zum Parkplatz.
„Weil du nicht so eine Zicke bist“, sagte Michelle.
„Ihr seid auch keine Zicken.“
„Dooooch, manchmal schon“, sagte Annika.
„Ich wette, Matte hat für dich gestimmt“, überlegte Michelle.
„Nennt ihn doch nicht so“, sagte Milena leise.
„Guck, wegen sowas haben die für dich gestimmt.“
Sie erreichten den Parkplatz. In zweiter und dritter Reihe warteten Eltern in ihren Autos. Kaum jemand konnte noch rein oder raus, manche rangierten auf der Stelle, andere hupten wütend.
„Meine Mutter wartet vorne an der Ecke“, sagte Michelle. Sie schoben sich zwischen heißen Motorhauben und Abgasen hindurch.
„Warum muss der abgeholt werden, der wohnt nur zwei Straßen von hier“, schimpfte Annika über einen dicken Jungen, der eine Musikbox dabeihatte.
„Guckt mal da“, sagte Michelle plötzlich. Sie zeigte ans andere Ende der wartenden Autos. Hinter zwei rotweißen Pollern parkte eine schwarze Limousine. Ein Mann stieg aus.
„Das ist der Typ wieder“, sagte Annika.
„Lasst uns gehen“, bat Milena. Sie hatte keine Lust, dem Mann erneut zu begegnen. Mit einigem Unmut sah sie, dass er zum Hintereingang lief. Von dort aus gelangte man direkt ins Lehrerzimmer. Vielleicht holte er ja auch jemanden ab. Sie wusste nicht genau, was sie gegen den Herrn hatte. Er war ja nicht unfreundlich gewesen und hatte ihnen nichts getan. Im Gegenteil, er hatte seine Hilfe angeboten. Es war bloß seine Art, dieses komische Lächeln, das irgendwie nicht echt wirkte, was ihr ein Unbehagen verschaffte, das sie sich nicht weiter erklären konnte. Es war jetzt nicht mehr so stark wie auf der Heimfahrt am ersten Schultag. Vielleicht war sie da auch besonders empfindlich gewesen. Erst der verpasste Bus, dann die Begegnung mit Matteo und schließlich Michelles Anfall. Für all das konnte der Mann ja nichts und verdiente ihre Abneigung womöglich gar nicht. Allerdings hatte Michelles Mutter ihn auch nicht ganz geheuer gefunden. Jedenfalls hoffte Milena sehr, ihn nicht so bald wiederzusehen.
Ihre Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, als sie am darauffolgenden Montag mit Arif in die SV-Sitzung kam. Sie waren ein bisschen zu spät, weil Frau Strick vergessen hatte ihnen zu sagen, wo die Versammlung stattfand. Erst der dritte Lehrer, den sie fragten, gab ihnen die richtige Auskunft. Sie schlüpften hinein und setzten sich verstohlen in die hinterste Reihe. Vor ihnen saßen ein paar ältere Schüler. Sie wirkten auf Milena wie Riesen. Vorne stand ein Lehrer, den sie nicht kannte. Er war groß und schlank und hatte ein fröhliches Gesicht. Auf der spitzen Nase trug er eine winzige Brille.
„Guten Morgen zusammen, ich bin Herr Jovius, für alle Neulinge.“ Beim Sprechen wippte er locker auf den Fußballen und fuhr sich durch die schnippische Kurzhaarfrisur. „Ihr wählt heute eure Schulsprecher, die Kandidaten haben auch gleich Gelegenheit sich vorzustellen. Vorher möchte ich euch aber noch mit unserem großzügigen Sponsor Herrn de Vries bekannt machen.“ Er deutete auf einen besetzten Stuhl neben sich.
Ein paar Schüler klatschten schlapp. Milena lugte zwischen den älteren Schülern hindurch und zog den Kopf schnell wieder zurück.
„Nicht der“, murmelte sie, als sie den Mann aus der Limousine erkannte.
Arif sah sie fragend an, aber Herr de Vries erhob sich bereits und ergriff das Wort. Auch jetzt hatte er dieses stete, irritierende Lächeln aufgesetzt, das einfach nicht zu seiner gebügelten Erscheinung passte.
„Guten Tag“, sagte er und musterte die Schüler eindringlich. In seinem perfekt sitzenden grauen Anzug bildete er einen bizarren Kontrast zu Herrn Jovius, der höflich einen Schritt zur Seite getreten war. Keiner der Lehrer, nicht einmal der Schulleiter, kam je in Anzug und Krawatte.
„Ihr alle wisst, dass zurzeit nicht das gesamte Schulgelände genutzt werden kann. Der rote Trakt ist noch immer gesperrt und euch fehlen somit wichtige Lernräume.“ Er machte eine kurze Pause, um dem letzten Teil mehr Gewicht zu verleihen. „Das soll sich nun schleunigst ändern. Die Bildung junger Menschen ist unsere wertvollste Ressource. Daher möchte ich in eure Schule investieren. Wir werden den gesamten Trakt abreißen und neu bauen – nach euren Vorstellungen. Sportcenter, Werkstätten, Labore, alles ist möglich.“
Herr Jovius nickte. „Das ist eine großartige Chance für uns. Leider wird es noch etwas dauern, weil die, äh, Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Sobald das Gutachten da ist, geht es aber los und in der Zeit können wir uns als Schule überlegen, was wir gerne hätten.“
Arif hob die Hand. „Mir ist aufgefallen, dass die Informatikräume sehr veraltet sind“, sagte er auf seine ausdruckslose Art. „Die Rechner sind zum Teil über zehn Jahre alt und die Software auch. Vielleicht könnte man da was machen.“
Milena bewunderte, dass er selbst in dieser Situation völlig unaufgeregt, beinahe gleichgültig sprach. Sie selbst hätte sich vor lauter fremden und älteren Schülern gar nicht getraut aufzuzeigen und dann vermutlich auch keinen Ton herausgebracht.
Herr Jovius nickte fröhlich. „Ein guter Vorschlag, wir möchten aber, dass ihr die Ideen in allen euren Klassen sammelt. Wir legen sie dann der Lehrerkonferenz vor.“
„Ok, danke schön“, sagte Arif und machte sich eine Notiz. Milena hatte nicht einmal daran gedacht, etwas mitzuschreiben.
Herr de Vries wechselte ein paar leise Worte mit Herrn Jovius und verabschiedete sich.
„Ja…“, rief Jovius. „…Schülersprecher…“
Sie wählten einen Neuntklässler namens Hannes. Er hatte ein paar flotte Sprüche auf den Lippen und wirkte wie jemand, der sich nicht herumschubsen ließ. Jovius gratulierte ihm und schaute dabei drein, als wollte er niemanden merken lassen, was er von der Wahl hielt.
Milena und Arif machten sich auf den Weg zurück in ihre Klasse. Sie hörten sie schon von weitem.
„Ich glaube, klopfen ist überflüssig“, sagte Arif.
Milena nickte und trat ein. Es bot sich das übliche Bild – Mats tobte über die Tische, Rocko trampelte auf Matteos Sachen herum und Frau Strick versuchte, zwischen Jeanette und Jule zu vermitteln. Offenbar hatten sie sich gegenseitig Kaugummi in die Haare geklebt. Milan dagegen schien zu schlafen.
„Wir möchten euch gerne von der SV-Sitzung erzählen“, begann Arif. Er wartete, bis es ein bisschen leiser wurde. „So“, fuhr er fort und unterbrach gleich wieder.
„Haltet doch mal die Klappe!“, schrie Didi. Aber von einem kleinen blondgelockten Hobbit klang das nicht besonders beeindruckend. Milena stand mit überkreuzten Beinen neben Arif und fühlte sich sehr fehl am Platz.
„So“, sagte Arif wieder und klang, als wollte er eigentlich sagen: Hat sowieso alles keinen Zweck. Er wischte sich eine dicke Haarsträhne zur Seite. Im Neonlicht schimmerten seine pechschwarzen Haare fast bläulich. „Schülersprecher ist Hannes aus der neun…“
„Das ist ein Hurensohn!“, rief Rocko.
„Du kennst den doch nicht mal“, rief Milan, ohne die Augen zu öffnen.
„Rocko, solche Wörter will ich hier nicht hören!“, schimpfte Frau Strick.
„Ich bin der Boss!“, rief Rocko.
Didi sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Er rutschte unter den Tisch und blieb da liegen.
„Außerdem soll das abgesperrte Gebäude abgerissen und neu gebaut werden“, sagte Arif. Milena sah, wie Daniel die Augen zusammenkniff und Didi unterm Tisch anstupste. Die blonden Locken tauchten wieder über der Tischplatte auf. „Es gibt einen Sponsor, Herr de Vries, glaube ich, und wir sollen alle überlegen, was wir da rein haben wollen. Also Informatikräume oder…“
Der Rest seines Satzes ging im allgemeinen Gebrüll unter.
„Nagelstudio!“, grölte Jeanette.
„Döner!“, röhrte Rocko.
„Hab ich was vergessen?“, fragte Arif Milena. Sie schüttelte den Kopf. Beide setzten sich und Milena erzählte Annika und Michelle, wer sich hinter dem Namen de Vries verbarg.