Читать книгу MISTY DEW 3 - Agnete C. Greeley - Страница 10

2. Kapitel

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Eagleside Ranch

Der Regen plätscherte gegen die Scheiben des Arbeitszimmers und Irene legte müde ihren Bericht zur Seite.

Eigentlich sollte sie das Wichtigste für das große Ranchertreffen in der Stadt fertig haben, doch sie schweifte viel lieber ab, als sich auf langweilige Rancherproblematiken zu konzentrieren, außerdem war sie müde.

In der vergangenen Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan. Die Albträume waren zurückgekehrt, diesmal in veränderter Form. Sie rannte vor einem Wesen davon, das sie durch eine Wüstenlandschaft jagte. Ehe er sie erreichte, war sie aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Wieso sie ausgerechnet in einer Wüste herumrannte, konnte sie nicht verstehen, denn der Wendigo hatte sie durch das kalte Mistydew Gebirge gejagt, dennoch kam ihr die Handlung vertraut vor. Irgendwann gegen fünf Uhr früh war sie in ihr Arbeitszimmer gegangen, um an dem Bericht zu arbeiten.

Ihr Job als freie Journalistin bei der großen Zeitung Cedars Tribune, gefiel ihr normalerweise, doch im Augenblick wollte sie sich lieber vergraben und sich von der übrigen Welt zurückziehen. Die Arbeit auf der Ranch hätte ausgereicht, um zu überleben. Auch hatte ihr verstorbener Onkel Ethan ihr genug vererbt, damit sie auch in schweren Zeiten über die Runden kam.

Ihr Job war es in erster Linie, traumatisierten Pferden zu helfen. Sie war eine Pferdeflüsterin, zumindest nannten die Pferdebesitzer der Gegend sie so. Egal wie problematisch ein Pferd war, sie hatte noch keines im Stich gelassen, auch wenn sie sich mehrmals dadurch in Gefahr begeben hatte.

Zurzeit war es ruhig auf Eagleside. Im Augenblick gab es keine großen Problemfälle, dennoch gab es genug zu tun. Sie hatten ein paar Felder, die sie selbst bestellten. Mais, Karotten, Kartoffel, allgemeines Gemüse, wie Salat, Kohl oder Kohlrüben, dass man selbst gut gebrauchen konnte, und die Wiesen, die sie für das Heu der Pferde brauchten. Dadurch gab es Arbeit in Hülle und Fülle, aber mit Hilfe der beiden Cowboys und Farmhelfer Ben Clay und Nick Wilder, gelang es ihr meistens, mit allem fertig zu werden.

Im Zimmer war es kühl, fast schon kalt, fand Irene.

Ob es an der inneren Kälte lag, die sie seit jenem schrecklichen Erlebnis im Herbst begleitete? Sorgfältig zog sie ihre Strickjacke enger um den Körper. Vermutlich hatte sie deswegen von der Wüste geträumt, um dieser Kälte zu entgehen.

Mr. Lambeck, ihr Big Boss von der Cedars Tribune hatte ihr in den Mails garantiert alle Infos geschickt, doch sie fühlte sich noch nicht bereit, ihren Bericht abzugeben, zumindest redete sie sich das ein.

Eigentlich wollte sie gar nicht nach Cedars. Die große Stadt erschien ihr nach dem schrecklichen Erlebnis im Herbst, fremd und unendlich weit weg. In Wahrheit hatte sie nur Angst davor, sich gehen zu lassen und ein wenig Abstand von der Einsamkeit der Ranch zu bekommen.

Eine Menge Gedanken störten ihre Konzentration, dabei hatte sie bereits alle wichtigen Fakten für den bevorstehenden Vortragstag beisammen. Es gab bereits eine komplette Liste der einflussreichsten Rancher aus dem Mistydew County. Außerdem hatte sie sich ein paar Randnotizen gemacht, die sie im Bericht mit einfließen lassen konnte.

Irene war geübt darin, alte Infos mit neuen Geschehnissen zu einem nigelnagelneuen Artikel zusammenzufassen, sollte es notwendig sein. Außerdem verfügte sie über persönliche und berufliche Informationen zu allen bekannten Ranchern des Mistydew County. Bei einigen war sie beliebt, bei anderen verhasst, doch niemand zweifelte ihre Integrität an. Das machte sie bei ihrem Boss Mr. Lambeck unersetzbar, doch sie war nicht besonders erfreut über diese Tage, an denen sie sich in Schale werfen, und schon am Vormittag Smalltalk führen musste. Scheinheiligkeiten, langweiliges Blabla, dumme, manchmal auch geschmacklose Scherze, scheinbare Nettigkeiten, die bei genauerem Betrachten eher das Gegenteil waren. Ja, Irene wusste, wie es lief, sie wusste, wie es funktionierte, aber sie konnte es nicht ausstehen und im Augenblick waren ihre Gedanken nicht so kontrolliert, wie üblich. Sie würde in der Stadt höllisch achtgeben müssen, um nicht in diverse Gesprächsfallen zu stolpern. Ihr einziger Lichtblick war Peter Lewis, der Vortragende. Er war unter Paint-Züchtern sehr bekannt und geschätzt. Irene hatte schon zwei seiner Seminare besucht.

Ohne den Bericht erneut in die Hände zu nehmen, schlenderte sie zum Fenster und starrte hinaus.

Der Platz vor der Hausweide lag verlassen da. Der Regen hatte inzwischen die Erde aufgeweicht und das im Frühling neu gewachsene Gras flach auf den Boden gedrückt. Sie konnte vor ihrem geistigen Auge nach wie vor den alten, rotangestrichenen Trailer von Julian sehen. Julian, der hier ein neues Zuhause gefunden hatte und trotzdem wieder gegangen war.

Nach dem Schrecken war alles noch verworren. Zuviel Grausames war passiert und hatte tiefe Wunden bei allen hinterlassen.

Eine indianische Legende hatte Menschen entführt, und sie in einer Mine als Nahrung gehortet. Irene war in die Fänge dieses Wesens geraten, doch Askuwheteau, ein bekannter Indianer aus dem Indianerrat des County hatte sich geopfert, um sie zu retten. Sowohl er wie auch Julian waren durch das Böse mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert worden.

Die Polizei, die Ranger, alle waren auf den Plan getreten, um die Sache zu klären. Danach hatte Irene für die Cedars Tribune einen Bericht über einen Killergrizzly verfasst, der dank eines bekannten, mutigen Indianers aus Stormy Mills zur Strecke gebracht wurde. Es war der schwerste Bericht ihres Lebens gewesen, doch besser sie machte es, als irgendjemand anders, der keine Ahnung davon hatte.

Ein paar Tage füllte das Thema sämtliche örtliche Zeitungen, bis erneut der Alltag ins Land einkehrte.

Als Matt aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war und der Trubel sich legte, hatte Julian sich verabschiedet, um, wie er meinte, einiges mit seinem alten Freund Will zu klären, der in Wyoming eine Detektei betrieb.

Ob ihm das inzwischen gelungen war? Hatte er alles verarbeitet? Konnte er ruhig schlafen, ohne von Albträumen geplagt zu werden, so wie sie?

»Wohl eher nicht«, sprach Irene zu sich selbst. Er war auch nur ein Mensch und sie hatte gespürt, wie tief das Erlebte an ihm nagte. Verständlich, wenn man bedachte, dass er seine Mutter und seine Schwester an einem Monster verloren hatte.

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Abschied war nicht gut verlaufen. Zu verworren, zu viele nicht geklärte Einzelheiten und jetzt war es zu spät. Sie blinzelte die Tränen weg. Eigentlich wollte sie nicht ständig an ihn denken, doch er fehlte ihr.

Als der Sommer mit all seiner bunten Vielfältigkeit den Winter ausradiert, und ein Paradies im Mistydew County gezaubert hatte, schien die Welt wieder in Ordnung.

Zumindest für die Meisten aus der Gegend. Aber Julian war fort und Askuwheteau würde niemals wiederkommen.

Das letzte Jahr hatte ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und es schien noch lange nicht vorüber. Ständig hatte sie das Gefühl, dass das Böse, in welcher Gestalt auch immer, zurückkehren würde.

Askuwheteaus Haus stand leer und verlassen da. Die Parkranger hatten es zwar als ein weiteres Schutzhaus in den Bergen in ihre Obsorge genommen, doch sie brachten es nicht übers Herz, etwas daran zu verändern.

Gleich einem inneren Zwang zog es Irene immer wieder dort hin. Der Platz hatte etwas Tröstliches, so als ob der Indianer noch immer vor Ort war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Natürlich war es Schwachsinn, so zu denken, aber sie wollte sich nicht von diesem Gefühl distanzieren.

Unwillig wischte sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln.

Ein dezentes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

»Ist offen.«

Sie wusste, dass es Matt war. Er schien ein Gespür für ihre Stimmungen zu haben, und tauchte immer in den richtigen, oder wenn man es so wollte, falschen Augenblicken auf.

Ein dunkler Haarschopf erschien in der Tür, besorgte Augen musterten sie.

»Ich dachte mir, du könntest einen Kaffee gebrauchen.«

Sie nickte gedankenverloren, während er eine große Tasse auf ihrem Schreibtisch abstellte.

Flüchtig registrierte sie, dass es ihre geliebte Betty Boop-Tasse war. Eine von vielen Comictassen, für die sie ein Faible hatte.

Irene bedankte sich, während sie versuchte, ihre Traurigkeit vor ihm zu verbergen.

Nach Julians Flucht war eine harte Zeit für die Eagleside Ranch angebrochen.

Matt war lange außer Gefecht gesetzt gewesen und eine Zeitlang bestand der Verdacht, dass er nie wieder aufs Pferd steigen konnte. Gottlob hatte sich das als falsch rausgestellt, obwohl noch lange nicht alles überstanden war.

Bedingt durch die Verletzungen, die das Monster Matt zugefügt hatte, litt er noch zeitweise an Rückenschmerzen und zog sein rechtes Bein nach, auch wenn er bereits ohne Krücken ging.

In Seattle gab es eine gute Klinik mit einem hervorragenden Reha–Plan, doch Matt wollte Irene nicht auf der Ranch allein lassen. Deshalb kam Doc Whitewater jede Woche einmal hoch, um ihn zu untersuchen und ihn mit den Heilsalben aus seiner Indianerapotheke zu versorgen. Außerdem hatte er ihm ein eigenes Reha–Programm erstellt, dass der Cowboy konsequent nutzte. Nebenbei fuhr Matt zweimal in der Woche nach Shannon zu einem Physiotherapeuten.

Irene bedankte sich für den Kaffee, doch blieb beim Fenster stehen.

»Wie gehts dir?«, fragte er leise, ohne näher zu kommen.

Sie drehte sich noch immer nicht um.

»Ist heut noch viel zu tun?«, fragte sie indessen, ohne näher auf seine Frage einzugehen.

Matt runzelte die Stirn.

»Du beantwortest meine Frage mit einer Gegenfrage. Ich will wissen, wie es dir geht.«

»Gut, soweit. Ich – ach, ich kann mich nur nicht konzentrieren.«

Sie schluckte, ehe sie sich endlich zu ihm umwandte.

Klarerweise sah er, in welcher Stimmung sie sich befand, doch er fragte nicht. Sie würde sich sonst sofort verschließen. Das tat sie in letzter Zeit öfter.

»Okay, es geht mir nicht gut, aber was solls?« Sie zuckte mit den Schultern.

»War auch schon mal schlimmer. Ich laufe eben einfach hier rum und bringe nichts zustande.«

Matt erkannte die dunklen Schatten unter ihren Augen. Sie hatte nicht gut geschlafen. Vermutlich waren die Albträume wieder zurückgekehrt.

»Ich mach gerade Waffeln. Du musst noch etwas essen. Ich bring dir welche her.«

»Nein, schon gut, ich komm mal lieber mit in die Küche.«

»Okay, dann hau ich gleich noch mal ein paar Eier in die Pfanne und mach ein paar Bagels. Es gibt auch massenhaft Ahornsirup. Die Sugaring-off-Party in Quebec ist seit Wochen vorbei, also hab ich gleich mal einen Karton bestellt.«

»Nicht so viel. Ich meine, ich kann doch nicht so viel essen«, protestierte sie leise. Matt nickte entschlossen.

»Doch, kannst du. Sonst bekommst du deinen Bericht niemals fertig und kippst um. Hast du überhaupt deine Mails kontrolliert?«

»Äh, nein, noch nicht, also nicht alle, aber ich will den blöden Bericht abschließen, bevor ich Lambecks Mails beantworte.«

»Du hast die Mails nicht mal gelesen, stimmt‘s?«

»Ähm«, sie strich sich eine ihrer widerspenstigen, blonden Haarsträhnen hinter dem Ohr zurück, vermied es jedoch, ihn anzusehen.

Matt, der diese Gestik schon kannte, schüttelte den Kopf.

»Irene, so geht das nicht. Du kannst nicht einfach die Mails von deinem Chef ignorieren. Du hast dich für diese Woche freiwillig gemeldet, also musst du auch seine Nachrichten lesen. Außerdem musst du in die Stadt. Du weißt das. Der Bericht ist ja nur Vorbereitung. Sicher hat er dir wieder ein Bestechungsangebot geschickt.«

Irene seufzte. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Ihr Boss Mr. Lambeck ließ sich immer etwas einfallen, um sie bei einem bevorstehenden langweiligen Auftrag in die große Stadt zu locken.

»Oh, ja, das kann sein.« Es klang nicht sehr überzeugend.

»Hör zu, schau dir deine Mails an, ich zaubere uns etwas in der Küche und du kommst einfach, wenn du die Nachrichten deines Bosses gelesen hast.« Er verließ das Zimmer rasch, um weiteren Ausflüchten zu entgehen.

»Na gut, dann mach ich das halt«, nicht sehr motiviert, begab sie sich an den Computer und startete das Outlook.

Er hatte ja recht. Sie wusste, dass sie längst schon hätte reinsehen sollen, immerhin hatte Lambeck sie bereits zweimal angerufen und sie sicherheitshalber vorgewarnt. Dennoch hoffte sie, dass das Internet sie im Stich lassen würde, doch leider klappte es diesmal sofort.

Nachdem sie sich in letzter Zeit nicht wirklich um ihre Nachrichten gekümmert hatte, hagelte es eine Menge Mails.

Sie überflog die meisten rasch, bis sie zwei von der ‚Cedars Tribune‘ erkannte, die Mr. Lambecks Assistentin Jane White mit dem Vermerk ‚Wichtig‘ markiert hatte.

Resigniert sank sie auf ihrem Stuhl zurück. Jetzt war es also so weit! Sie musste zu einem feinen Treffen in die große Stadt.

Missmutig klickte sie auf die erste Mail und las schon, was sie insgeheim befürchtet hatte.

Ihr Auftrag war endgültig fällig. Der Pferdeausbildner aus Montana, Peter Lewis hielt einen Vortrag über die Qualifizierung junger Paints und darüber musste sie einen Bericht für das Ranch–Gold–Magazin schreiben. Das bedeutete mindestens drei Tage Aufenthalt in Cedars. Eine nervige Angelegenheit, wie sie fand.

Peter Lewis war ein gutaussehender Mann Mitte vierzig. Irene hatte schon zwei Bücher von ihm gelesen. ‚Mustangs – Legenden der Rockies‘ und ‚Spotted Fever – Ein Leben mit Paints‘. Seine Vorträge waren meistens sehr gut besucht. So würde es wohl auch diesmal sein. Dennoch hatte Irene ein komisches Gefühl bei der Sache. War sie schon bereit dazu, in die Stadt unter Menschen zu gehen? Konnte sie es nach all dem Schrecken ertragen? Sie war sich nicht sicher.

Obwohl die Stadt sehr schön war, fand sie diese im Augenblick zu groß, zu laut und viel zu anstrengend. Früher hatte sie die Geschäfte genossen. Sie war oft in eines der vielen netten Lokale, Clubs oder Cafés gegangen, aber im Augenblick fühlte es sich an, als würde sie eine völlig andere Welt betreten.

Klar musste sie ab und zu in den sauren Apfel beißen. Das gehörte nun mal dazu, auch wenn ihr Boss Jonathan Lambeck wusste, wie wenig sie Aufträge wie diese mochte, doch das Gefühl, sich schutzlos der Stadt auszuliefern, ließ sie diesmal zögern.

Entmutigt von der ersten Nachricht öffnete sie die zweite Mail, indem er sie wiedereinmal persönlich anschrieb. Sein Angebot war wirklich großzügig.

»Das ist eine Option«, murmelte sie. Ihr Chef war nicht gerade knausrig, wenn es darum ging, sie zu bestechen.

Diesmal gab es Karten für zwei Personen zu dem in Cedars laufenden Musical ‚The Rocky Horror Show‘ sowie eine Reservierung für zwei Kingsize-Zimmer im Fairmont Inn. Dieses Hotel zählte zwar zu der gehobenen Klasse in der Stadt, war dennoch nicht so anstrengend wie zum Beispiel das Crowne Palace Hotel. Diesmal fuhr er echt schweres Geschütz auf, um sie zu ködern.

»Zwei Kingsize-Zimmer – Mann oh Mann, der Kerl ist echt nicht geizig.« Misstrauisch las sie sich das Angebot noch ein weiteres Mal durch. Da war sicher ein Haken dabei– und wen sollte sie außer ihrer Freundin Melanie überhaupt mitnehmen?

Immer, wenn ihr Boss Irene in die Stadt lockte, profitierte Irenes beste Freundin davon.

Klarerweise ein gut durchdachter Schachzug von Mr. Lambeck.

Mit Mel im Schlepptau arbeitete Irene viel lieber in der Stadt, und das wusste er. Doch weshalb hatte er diesmal gleich zwei Zimmer auf die Lockliste gesetzt? Ob er sich tatsächlich Gedanken um sie machte? Wusste er, wie nervös sie sich fühlte? Wusste er, wie sehr der Schrecken im Herbst sie noch immer bis in ihre Träume verfolgte? Sie schüttelte den Kopf. Nein, woher sollte er das wissen? Er dachte nur an einen Killergrizzly, außerdem hatte sie nicht näher mit ihm darüber gesprochen. Dennoch wäre es möglich, dass er verstand, wie schwer es war, ein solches, oder besser gesagt, ähnliches Erlebnis hinter sich zu lassen. Seine Frau war im Vorjahr gestorben und seitdem stand seine Stadtvilla mit Ausblick auf den See leer. Konnte durchaus sein, dass auch er dieses schwere, dumpfe Gefühl der Trauer kannte.

Ihr Blick fiel auf eine Nachricht von Ken Larsson, ein bekannter Rancher aus Moosecreek, der wunderschöne Paints züchtete. Irene wollte seit Jahren ein weiteres Painthorse und hatte auf ein Angebot von ihm geantwortet. Seine Frau und er hatten sich vor über einem Jahr getrennt, weswegen Irene vermutlich nichts von ihm gehört hatte. Doch im Frühling hatte er ihr zurückgeschrieben und sie auf seine Ranch zur Begutachtung eines seiner Pferde eingeladen. Sie hatte sich einen Einjährigen angesehen, der ihr gefiel, und hatte zugesagt, ihn zu nehmen, sobald Ken ihn hergeben wollte. Seine sanfte, geduldige Art mit Pferden umzugehen, hatte ihm den Ruf, eines der besten Pferdeausbildner des County eingebracht.

Seit ihrer netten Begegnung schrieben sie sich gelegentlich. Einmal waren sie gemeinsam essen gewesen, ein normales, gemütliches Geschäftsessen, bei dem sie Details des Pferdehandels besprochen hatten. Nur Melanie hatte durchklingen lassen, dass er ziemlich gut aussah und scheinbar ein Interesse an Irene hegte. Fast wäre es ihm gelungen, Irene zu einem Ausflug nach Moosecreek zu überreden, wo jährlich ein bekannter Pferdemarkt stattfand, doch Irene hatte dankend abgelehnt. Für Rendezvous war sie nicht bereit, und das sichere Gefühl, sich auf ein solches einzulassen, hatte sie davon abgehalten, sein Angebot anzunehmen.

Beiläufig überflog sie die Nachricht, in der er ihr mitteilte, dass er sich geschäftlich in Cedars aufhielt, und sie sich wohl beim Vortrag von Peter Lewis sehen würden. Er wusste also, dass sie ebenso anwesend sein würde. Kopfschüttelnd schloss sie die Nachricht wieder. Vermutlich reichten seine Beziehungen aus, um einen Blick auf die Gästeliste zu ergattern. Sie ärgerte sich nicht darüber, denn auch wenn Irene auf keinen Fall einen neuen Freund wollte, war er ein kluger, hilfsbereiter Mensch, mit dem sie sich unterhalten konnte, ohne verzweifeln zu müssen. So könnte der lange Vormittag bei diesem Vortrag vermutlich doch noch ganz annehmbar werden.

Seufzend griff sie zum Telefon. Erstmal würde sie Melanie anrufen, danach konnte sie sich über die Details dieses Vortrags Gedanken machen.

Mel war wie so oft, nicht erreichbar, also hinterließ sie ihr eine Nachricht, ehe sie zu Matt in die Küche ging.

Das reichhaltige Frühstück half Irene tatsächlich, zu entspannen. Es war seit langem das erste gemeinsame Frühstück mit Matt und sie erkannte, wie sehr sie das vermisst hatte.

Matt stützte sich auf den Küchentresen, während er mit einem Kochlöffel die Eier aus der Pfanne auf zwei Teller verteilte.

»Hier, iss nur, und du solltest echt mal versuchen, deinen Job zu machen. Und damit meine ich nicht die Pferdeausbildung. Die gelingt dir von allein. Es geht um deine Journalistentätigkeit. Du musst einen Abschluss finden.«

Irene biss sich auf die Lippen. Matt hatte recht, sie wollte diesen Job machen, doch seit dem Erlebten fand sie es nicht mehr so wichtig, Reportagen für die Rancher zu schreiben.

»Was nimmt Lambeck denn diesmal, um dich zu überzeugen?«, fragte er interessiert.

»Zwei Hotelzimmer im Fairmont Inn, Kingsizebetten, und zwei Karten für die Rocky Horror Show, mit anschließendem Clubbesuch im ‚NoMad‘, wo wir einen Drink spendiert bekommen.« Unsicher sah sie Matt an. »Ich weiß nicht. Irgendwie fühlt es sich seltsam an. Ken Larsson kommt auch.«

»Hör mal, ich kapier’s ja, okay? Ich bin genauso wenig bereit, jetzt schon alles hinter mir zu lassen. Aber du musst nach Cedars zu deinem Chef und du weißt das! Die monatliche Besprechung steht an, dein Bericht ist fast fertig, und dann hast du auch noch die Gelegenheit, Ken Larsson zu treffen.«

Schuldbewusst schob sich Irene einen Bissen Rührei in den Mund und kaute eifrig, doch Matt sah sie mit seinem ‚Seelendurchleuchtblick‘ an, wie sie ihn nannte.

»Mein Ernst. Du musst weitertun, und das wirst du auch. Ken Larsson, Lambeck, all diese Menschen werden auf deiner Seite sein. Da gibt es nichts zu meckern und schon gar keine Ausreden.«

Irene murmelte etwas von einer Diktatur, doch Matt drehte sich zum Küchentresen um und tat, als hätte er nichts gehört.

»Noch einen Bagel?«

Sie nickte ergeben.

»Ja, gut.«

Aus ihr unerfindlichen Gründen hatte sie wirklich Hunger.

Während Matt den Toaster bestückte, warf sie einen Blick auf den Denver-Observer und die Cedars -Daily News.

Irgendwann hatten sie sich darauf geeinigt, neben den örtlichen Zeitungen auch eine außenstehende zu abonnieren, damit es nicht zu einseitig wurde. Also überflog Irene erstmal die Schlagzeilen der Daily News, während sie auf den Bagel wartete. Die Colorado–Zeitung musste halt noch warten.

Eine Familie aus Moosecreek war bei dem letzten Unwetter ums Leben gekommen. Als Ursache wurde ein Murenabgang angegeben.

In Shannon war eine Tankstelle überfallen worden und die beiden Täter waren noch flüchtig.

Irene besah sich eines der Phantombilder und verzog das Gesicht.

»Wenn ich so aussehen müsste, würde ich garantiert auch kriminell werden«, murmelte sie.

Eine weitere Frau aus Cedars wurde vermisst, und die Behörden baten die Öffentlichkeit um Mithilfe.

Karen Beal, vierundzwanzig Jahre alt, hatte am siebenundzwanzigsten Mai die Wohnung ihrer Kusine in der Perkins Road im Theater-District verlassen, um einen Arzttermin wahrzunehmen. Seitdem war sie nicht mehr gesehen worden.

Stirnrunzelnd betrachtete Irene das Bild. Die vierte Abgängige in den letzten Wochen. Wilde, blonde Locken, fröhliche Augen. Die vermissten Personen waren allesamt Frauen und sie glichen sich auf bestimmte Art und Weise. Die Gesichtszüge gleichermaßen schmal, alle etwa Mitte zwanzig mit längeren Haaren. Bis auf eine waren sämtliche verschwundenen Frauen blond.

Gedankenverloren griff sie nach ihre eigenen Haaren.

Ein mulmiges Gefühl beschlich sie und beschwor ungewollte Bilder auf.

Eine dunkle Mine, leblose Körper ...

Zitternd legte sie die Zeitung zur Seite. Nein, das hier war etwas anderes. Diesmal war nichts Übernatürliches im Spiel.

Sie versuchte, durchzuatmen, doch alles drehte sich vor ihren Augen.

Hastig schob sie den Hocker zurück und stand auf. Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben.

»Ich – ich brauch mal frische Luft«, japste sie, ehe sie wankend die Küche verließ.

Matt warf einen überraschten Blick auf die aufgeschlagene Zeitung, dann ließ er das Buttermesser fallen und eilte ihr nach.

Er fand sie auf der Bank neben der Eingangstür. Sie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, ihr Gesicht war leichenblass.

Er hockte sich vor sie hin und musterte sie besorgt.

»Hey, was ist los?«

»Diese Frauen – sie sind einfach verschwunden. So wie ...« Sie unterbrach sich, doch Matt wusste, woran sie dachte. Er seufzte schwer und drückte ihre Hand.

»Hey, das hier hat nichts mit – mit dem Wendigo zu tun, okay?« Dennoch rann ihm ein Schauer über den Rücken.

»Es gibt eben Kriminelle auf der Welt. Nicht alles, was seltsam wirkt, muss auch seltsam sein. Die Polizei vermutet, dass ein Menschenhändlerring sich in Cedars niedergelassen hat.«

Irene nickte zögernd. Matt hatte vermutlich recht, doch das beklemmende Gefühl ließ sich nicht abstellen.

Matt seufzte.

»Iry, wir haben Dinge erlebt – Sachen gesehen, die man nicht erklären kann, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es auch das ganz normale Böse gibt. Menschenhändler, Mörder, Diebe.«

»Ja, ich weiß das«, raunte sie und schloss die Augen für einen Moment.

»In dieser Mine, du weißt schon, da waren Überreste von Menschen. Viele unschuldige Menschen, die ebenso wie diese Frauen einfach verschwunden sind. Niemand hat sie gefunden, bis ich ... « Sie schluchzte, leise auf. Die Erinnerung überwältigte sie erneut.

Matt zog sie tröstend an sich.

»Ich weiß, Irene, ich weiß.« Das Erlebnis hatte Spuren hinterlassen, die niemals ganz vergehen würden.

Eine Weile saßen sie nur so da, bis Irene sich beruhigte.

»Entschuldige, ich – ich hatte heut wieder mal Albträume.« Sie verlieh ihrer Stimme einen festeren Klang und richtete sich auf.

»Matt, ich weiß, dass du nicht gerne in der Stadt bist, aber bitte komm mit. Wir haben zwei Tage Zeit, um alles vorzubereiten. Lambeck will mich am Freitagabend bei diesem Vortrag dabei haben. Du könntest ein wenig einkaufen, in einer Bar etwas trinken. Ich meine, ich hab diesmal zwei Zimmerreservierungen. Lambeck hat – hat sicher an dich gedacht«, und auch an Julian, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus.

Matt seufzte.

»Ich wusste, dass da ein Haken dabei ist. Aber zwei Tage sind etwas knapp.« Mr. Lambeck wollte Irene garantiert aus ihrem Versteck auf der Ranch hervorlocken und zog alle Register, dennoch hätte er sich gewünscht, etwas mehr Zeit zur Vorbereitung zu haben.

Er dachte an vergangene Erlebnisse, wo er Irene und Melanie in die Stadt gebracht hatte. Es war nicht immer leicht gewesen.

Vor zwei Jahren hatten Mel und Irene das zweifelhafte Vergnügen gehabt, stundenlang in der alten Stadtoper zu sitzen, um ‚Carmen‘ zu lauschen. Danach waren sie in eine Disco geflohen, um, wie sie meinten, vernünftige Musik zu genießen. Er hatte sie irgendwann unter Protesten rausgeholt, nachdem sie sich in einen Tanzkäfig gezwängt, und wilde Verrenkungen gemacht hatten. Und im Sommer danach, als er gemeinsam mit Luke, dem Vorarbeiter von Irenes Kusine, die Frauen in die Stadt begleitet hatte, waren diese aus einem– wie sie sich später ausdrückten– schrecklichen Musical verschwunden. Still und heimlich hatten sie sich verdrückt, um im gleichen Haus die Ballettaufführung einer Amateurgruppe anzusehen. Ein gelungener Abend, bis auf die Tatsache, dass sie vereinbart hatten, sich nach dem Musical im Foyer zu treffen. Als sie nicht, wie ausgemacht, auftauchten, hatten Matt und Luke sie verzweifelt gesucht. Beide Frauen hatten komplett darauf vergessen und waren viel zu spät dort aufgetaucht.

»Ihr werdet diesmal aber nicht dieselbe Nummer abziehen, oder?«, fragte Matt sogleich.

»Ich meine, einfach zu verschwinden, oder so was.« Dennoch musste er bei der Erinnerung an den Abend lächeln. Damals war alles anders gewesen. So normal.

»Nein, Matt. Sicher nicht«, versicherte Irene ihm ernsthaft. Die Erinnerung entlockte auch ihr ein Lächeln.

»Natürlich kann ich nicht für Mel sprechen, denn die macht sowieso, was sie will, aber ich denke, diesmal klappt es. Sie wird die Rocky Horror Show genießen.« Dessen war sie sich sicher. Die Rocky Horror Show war genau Mels Ding. Sich schrill zu verkleiden, furchtbare Schuhe zu tragen, ja, dafür konnte ihre Freundin sich begeistern, auch wenn sie sonst eher nicht auf Trubel stand und Musicals nicht ausstehen konnte.

Matt stimmte zögerlich zu.

»Na gut, ich – ich ruf gleich Nick an. Der ist in Stormy Mills bei seiner Mutter. Vielleicht kann er schon früher herkommen. Wollte ihn sowieso über den Sommer herholen. Ich muss auch wirklich mal wieder einen Großeinkauf machen.«

Erleichtert nickte Irene. Einer Eingebung folgend, legte sie ihm die Hand auf den Unterarm.

»Ich bin froh, wenn du mitkommst. Ehrlich.« Sie schluckte, ehe sie fortfuhr.

»Ich – ich meine, ich fühl mich wohler, wenn du auch – dort bist.«

Er nickte knapp.

»Ja, klar. Keine Sorge.« Er dachte wieder an die verschwundenen Frauen. Für einen winzigen Moment wünschte er sich Julian an seine Seite, doch der hatte sich seit Weihnachten nicht mehr gemeldet. Matt hoffte, dass ihr Freund sich bald dazu aufraffen konnte, zurückzukehren um alle Missverständnisse, sofern es die gab, aus dem Weg zu räumen.

Manchmal mussten die Menschen einfach nur miteinander reden, es war an der Zeit, dass auch Julian das begriff, doch er, Matt war nicht der Richtige, um es dem sturen City Slicker begreiflich zu machen.

Matt beschloss, dass es eine gute Idee war, Irene in die Stadt zu begleiten. So konnte er zumindest die Frauen im Auge behalten. Ken Larsson bei diesem Vortrag zu wissen, beruhigte ihn zusätzlich, obwohl er nicht wusste, inwieweit Irene erkannte, dass der Rancher ein Auge auf sie geworfen hatte.

MISTY DEW 3

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