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Analyse

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Die Liebenden – besser noch: Die Sehnsucht der Liebenden – sind ein Ausdruck des gegenseitigen Verlangens zwischen den Menschen: der paradiesische Vorhof der körperlichen Anziehung oder die Flammen der Sehnsucht nach der Vereinigung zwischen Mann und Frau. Sie drücken die Anziehung der Gegensätze aus, das Sehnen, das Verlangen zwischen den Geschlechtern, um die verlorene Einheit wiederherzustellen – also genau das, was der Pfarrer den Kindern mit anderen Worten verkündet: den Zustand vor der Vertreibung aus dem Paradies.

Auf einer anderen Ebene verkörpert die Karte auch die Folgen nach dem Sündenfall: die Darstellung von Dualität und Unterscheidung, die stets Ausgangspunkt für Vereinigung ist. Diese Dualität, die sich in der Anziehung der Gegensätze äußert, wird durch die Liebe der Liebenden erlöst.1 In paradiesischer Verschmelzung wird aus den beiden Teilen eins, und indem sie ihre Identität um ihre Ebenbilder erweitern, verbinden sie sich in Leben und Tod und wachsen in die Ewigkeit hinein. Gerade diese Unerfahrenheit erklärt die Reinheit ihrer Absichten und die Unschuld um die Wunde, die im Leben brennt (das Christentum nennt es Erbsünde). Das gilt es im Verlauf der Reise zu erfahren: den Schmerz des Getrenntseins von dem, was jedem von ihnen zur Vollständigkeit fehlt, denn es geht um das durch den Griff nach dem Apfel verlorene Paradies, das durch die Verschmelzung auf körperlicher Ebene zumindest für Sekundenbruchteile wieder erlebt werden kann. Es ist der Lockruf der Götter, das Streben nach der menschlichen Form, das vom Funken der Fortpflanzung getragen wird. Dadurch weiten sich die Liebenden ins Überpersönliche, ja Kosmische aus, denn ihre Verschmelzung im Schoß des Todes ist deckungsgleich mit dem Augenblick der Zeugung, der das Leben unter der Voraussetzung des Sterbens ständig wieder erweckt. Deshalb zieht die Essenz der Karte auch mehr in die Richtung Erlösung oder psychische Verwandlung und verströmt den Geist der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz.2

An den oberen Rändern des Bildes finden wir zwei nackte Frauengestalten, die die ursprüngliche und die gedrosselte Libido andeuten: Die wilde Lilith und die gezähmte Eva. Eva verkörpert die weibliche Hingabe und Sehnsucht nach Vereinigung bei gleichzeitiger christlicher Unterwerfung, Lilith den diesem Zustand entgegengesetzten Faktor der Frustration aus emotionalen Verletzungen und des seelischen Schmerzes bei gleichzeitiger sexueller Freiheit. Das verdoppelnde Zwillingsmotiv wird auch im Brautpaar, den Kindern und den Tieren illustriert. Die beiden Kinder stehen für den Narren und den Magus, das Brautpaar für Kaiser und Kaiserin und der Priester und das Ei schließlich für den Hierophanten und die Hohepriesterin. Auf dieser Karte treten die Figuren zum ersten Mal in Paaren auf, während die vorhergehenden Trümpfe (0 – V) auf einzelne Personen ausgerichtet waren. Man könnte jetzt glauben, dass die Bedeutung der Liebenden darin läge, die Vereinigung der (zuvor geschiedenen) Gegensätze zu symbolisieren. Aber weit gefehlt – so weit sind wir noch lange nicht. Grundsätzlich bedürfen Gegensätze schon einer Erklärung, denn sie sind ja nicht so ohne weiteres in den Raum gestellt; sie mussten sich durch jahrtausendelange Differenzierung erst mühsam entwickeln. Die griechische Überlieferung spricht von einer hermaphroditischen Kugel, die O und P paradiesisch in sich vereinigte, bis sie von den neidischen Schöpfern in zwei Hälften geteilt wurde, die seither, ohne sich je wieder miteinander verbinden zu können, ständig auf der Suche nacheinander sind.

Auf der Karte wird dieser Umstand dadurch illustriert, dass die Vertreter der Liebenden in heller und dunkler Hautfarbe dargestellt sind. In der Mitte sehen wir den schwarzen König, der sich mit der weißen Königin vereint. Beide sind in herrschaftliche Gewänder gehüllt. Die Kleider des Bräutigams korrespondieren mit dem Kaiser (Schlangenmuster), die der Braut mit der Kaiserin (Bienenmuster), ein verbindendes Symbol, das darauf hinweist, dass das Suchbild des die Seele »ergänzenden« Menschen im Spiegelbild des Partners verankert werden will. Sie reichen sich die Hände und sind bereit und willens, sich zu vereinen.2 Andererseits ist es so, dass die Körper der beiden Liebenden mitsamt den Armen zur Ausrichtung der Köpfe etwas verdreht erscheinen. Die Leiber stehen sich gegenüber, aber die Köpfe sind zur Seite gegen eine riesige, mit einer Kutte und einer Kapuze gewandete Gestalt gedreht, so als wollten sie uns sagen, dass sie weniger den Partner, sondern mehr das Bild des anderen im Visier haben, das ihnen das mächtige Unbewusste suggeriert. Denn nur dieses weiß, dass die normale Liebe nicht wirklich befriedigen kann. Der weise Begleiter steht in ganz realem Sinne auch als Vermittler zwischen Bewusstem und Unbewusstem, für das Motiv der Verwandlung und Erlösung jenseits von Gut und Böse. Nur die mystische Vereinigung, die heilige Hochzeit, trägt die Voraussetzung in sich, die Menschen über sich hinaus- und damit ins Liebesparadies zu führen.3

Das bedeutet, in der Karte drückt sich die Anziehung der Gegensätze aus oder das Verlangen nach einem ergänzenden Partner, der uns die verlorene Einheit wiederbringen und uns zur Ganzheit zurückführen soll. Das bedeutet aber auch, dass wir – wenn wir erkennen, dass die innere Unvollständigkeit immer dazu neigt, sich mit den übertragenen Bildern aufzufüllen – zu tiefen, uns selbst überwältigenden Erfahrungen gelangen können. Die Wechselständigkeit oder Über-Kreuz-Verbindung der beiden Protagonisten (schwarzer König mit Goldkrone, Silberstab und weißem Knaben, weiße Königin mit Silberkrone, goldener Schale und schwarzem Buben) ist ein Zeichen für das Aussöhnen von Konflikten und die Vereinigung von Gegensätzen, da das Königspaar die bewussten Kräfte, die Kinder jedoch die unbewussten Energien ausdrücken.4 Interessant ist auch: Die unbewussten Kräfte in den Kindern (versinnbildlicht durch Keule und Rosen) reichen sich im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht die Hände, sondern sie verbinden sich über die bewusste Vereinigung des Königpaars, und erst durch die vierfache Vereinigung in der Hochzeit (Mann und Frau, Mann und Anima, Frau und Animus, Anima und Animus) geschieht die alchemistische Verwandlung, die durch das Orphische Ei mit der Schlange angezeigt wird. Dieses Ei repräsentiert die Essenz aller Lebensformen, die Grundlage der heiligen Hochzeit und dient wiederum als Zeichen für den Zugang zur Ganzheit durch Vereinigung der Gegensätze. Vielleicht versteht Crowley darunter nicht die ursprüngliche Einheit der unbewussten Natur, sondern die differenzierte Einheit, die auf den römischen Dichter Ovid zurückgeht, zu der die beiden Hälften, die zuerst getrennt wurden, als der Mensch sich durch sein Bewusstsein von den Tieren zu unterscheiden begann, nach langer und schwieriger Suche nach dem jeweils anderen Teil in der menschlichen Psyche gelangen. Darin verbinden sich die Polaritäten der Geschlechter zu einer einzigen Gestalt, und das entspricht auf der geistigen Ebene dem Transzendieren der Gegensätze der Erscheinungswelt. Das heißt: Jeder der beiden gegengeschlechtlichen Aspekte des Paars, die der Partner als Animus oder Anima reflektiert, entbrennt in einer Liebesflamme zum anderen, die genauso heftig ist wie das Bedürfnis, selbst mit diesem Aspekt (in sich) in Verbindung zu treten.3


Der rote Löwe und der weiße Adler stehen für die bewussten männlichen und weiblichen Sexualkräfte, Symbole des männlichen und weiblichen Dualitätsprinzips wie Sonne und Mond, Feuer und Wasser oder Luft und Erde. Crowley bringt sie mit der Alchemie in Verbindung: Sie treten in der Chemie als Säure und Lauge in Erscheinung. In dieser Erscheinungsform repräsentiert die verhüllte Gestalt das Proteische Element des Kohlestoffs, dem Ursprung allen organischen Lebens.4 Im Verlauf der alchemistischen Operation werden sie sich in Farbe und Bewegungsausdruck aber noch entscheidend verändern, und in der Karte Kunst sind sie auch nicht mehr so statisch, sondern in Haltung und Gebärde ziemlich aktiv: Der rote Löwe ist dann weiß geworden und der weiße Adler rot. Darin liegt auch V.I. T.R.I.O.L. verborgen – die Formel zur Öffnung des Orphischen Eis.5 Ein versteckter Hinweis findet sich auch im letzten Detail. Das Gewölbe des sakralen Raumes, in dem die Hochzeit stattfindet, wird von Schwertern dargestellt. Der Meister verweist auf den hebräischen Buchstaben & Zajin, der Schwert bedeutet, und mit jedem Akt der Teilung – aus Eins mach Zwei – in Beziehung steht, denn Liebende sind im Tarot wie im tatsächlichen Leben immer zu zweit: Zwei, die sich entschieden haben, ihre persönliche Identität einer verbindenden Zweisamkeit zu opfern, nachdem sie von Cupidos Pfeil 5 getroffen wurden.

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