Читать книгу "Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25) - Alban Rüttenauer - Страница 17
1. e) Exkurs: Die Bedeutung von „Sehen“ im Buch Ezechiel
ОглавлениеWie bei den großen Schriftpropheten überhaupt erfährt auch bei Ezechiel das Verb der Wurzel einen ausgedehnten Gebrauch. Es kommt bei ihm 77mal vor (zum Vergleich: Jes 82mal; Jer 71mal).98 An vielen Stellen dient es dazu, das Visionserlebnis des Propheten zu schildern. Im Unterschied zum ähnlichen , das den Visionsempfang überhaupt bezeichnet, um eine besondere Qualität des Geschehens zu unterstreichen, beschreibt mehr den Verlauf dieses Geschehens im Einzelnen, vielleicht besonders das menschliche Erleben dabei. In diesem Sinne hat eine stärkere anthropologische Komponente als .99
In Ez 8 kommt dies dadurch zum Vorschein, daß mit ihm nicht nur die ganze Vision, sondern auch die einzelnen Abschnitte derselben eingeleitet werden. In 11,25 wird dann damit die gesamte Vision zusammengefaßt, wenn der Prophet den Exulanten berichtet, - „all die Dinge JHWHs, die er mich sehen ließ.“
Merkwürdiger Weise scheint die Wurzel bei Ez oft eher eine abwertende Bedeutung zu besitzen. Den falschen Propheten wird vorgeworfen, „nicht gesehen zu haben“ (13,3), während sie - „Falsches geschaut haben“ (13,6). 7,26 kündigt das vergebliche Aufsuchen einer belehrenden „Schau“ bei den Propheten an. Anders nur in 12,23-24, wo in Erwiderung auf die Redensart in 12,22 das Eintreffen der bezweifelten Schau betont wird, wobei der Akzent jedoch auf dem Dabar, dem Wortereignis, liegt.100
Im 8. Kapitel kommt nicht weniger als 13 Mal vor, obwohl das Kapitel im ganzen nur 18 Verse zählt. Der Prophet ist stets das Subjekt dieses „Sehens“. Oft ist er es dabei in dem Sinn, daß er von Gott nach dem Geschauten gefragt wird (VV. 6.12.15.17), daß er aufgefordert wird, genauer hinzuschauen (V. 9), oder ihm versprochen wird, im folgenden noch gewichtigere Greuel zu sehen (VV. 6.13.15). Damit ist es in erster Linie Gott selbst, der sieht und sehen läßt. Die Aussage des Ältesten-Spruches in 8,12, daß der Herr nicht sieht, wird ad absurdum geführt. Gott erscheint als ein allsehender Gott, der auch das sieht, was im Verborgenen geschieht, was von den Ältesten bewußt auch vor den übrigen Volksgenossen verborgen gehalten wird.
Vordergründig handelt es sich jedoch um das „Sehen“ des Propheten, den Gott in der Vision an seinem göttlichen Sehen teilhaben läßt. Der Prophet erhält damit Einblick in den wahren inneren Zustand des Volkes, beispielhaft vorgeführt an dem Verhalten der für dasselbe Verantwortlichen, der Ältesten.
Was ist der Sinn dieses menschlichen Sehens? Im Zusammenhang des Großabschnitts Kapitel 8 - 11 hat die Tempelvision gewissermaßen die Bedeutung, die im 9. Kapitel sich anschließende Gerichtsschau zu rechtfertigen und zu begründen. Dem Abschnitt der Tempelvision im besonderen käme damit die Bedeutung der Scheltrede zu, durch die die Betroffenen zum Bewußtsein und zur Anerkennung ihrer Schuld gebracht werden sollen. Dieses geschieht hier nicht durch eine rhetorisch aufgebauschte Anklagerede, sondern durch die nüchterne, wiederholt an den Propheten gerichtete Aufforderung zu sehen, das Faktische einfach wahrzunehmen, das aus dem Verborgenen heraufgeholt wird, um die Betroffenen zu überführen. Dieses Sehen meint also nicht eine bloß oberflächliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern bereits ein tieferes Eindringen in dieselbe. Es soll nämlich nicht beim bloßen Sehen bleiben. Das „Gesehene“ bewirkt ein Verstehen, ein Ein-Sehen, das damit seinerseits zur Grundlage einer zukünftigen Entscheidung wird.
Ezechiels eigentümliches Verständnis vom „Sehen“ soll in einer syntaktischen Wortfeld-Analyse untersucht werden, die aufzeigt, in welchen grammatikalischen und syntaktischen Zusammenhängen das Verb „Sehen“ von der Wurzel bei Ezechiel auftaucht. Es können dabei nicht alle Stellen berücksichtigt werden, sondern nur eine charakteristische Auswahl derselben.