Читать книгу "Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25) - Alban Rüttenauer - Страница 20
c) Sehen als Voraussetzung.
ОглавлениеBei den hier aufgeführten Beispielen kommt Ezechiels eigentümliche Auffassung vom Sehen am deutlichsten zum Tragen. Das Sehen erscheint hier als ein Wahrnehmen von Zusammenhängen, die nicht unmittelbar auf der Oberfläche liegen, und deshalb ein tieferes Eindringen und Hineinschauen in die wahrgenommenen Dinge erfordern. Entscheidendes Kriterium für die Reihenfolge der Stellen in der Besprechung ist die Frage, was zwischen dem Sehen und der Folgehandlung passiert, das in der Regel nicht ausgesprochen, aber gedanklich vorausgesetzt wird.
Manchmal ereignet sich der Schritt vom Sehen zum Erkennen unmittelbar, ohne daß eine Zwischenstufe ausdrücklich benannt wird. Ez 10,20 spricht aus, wie der Prophet in seiner Vision von der Herrrlichkeit Gottes, wie sie die vorhergehenden Verse beschreiben, in den Kerubim die Lebewesen aus der ähnlichen Vision in Kap. 1 wiedererkennt. - „Das sind die Lebewesen, die ich gesehen habe unterhalb des Gottes Israels am Fluß Kebar, da erkannte ich, daß Kerubim sie selbst sind.“ Die durch Sehen und Erinnern identifizierte Übereinstimmung von zwei auf den ersten Blick unterschiedenen Größen (Kerubim, Lebewesen) erfüllt, wie Ruwe deutlich gemacht hat, eine doppelte Funktion. Einmal erkennt der Prophet in Tempelnähe bzgl. der Vision etwas, das ihm vorher entgangen ist: die Identität der Kerubim mit den Lebewesen; zum andern werden die Kerubim dem Gebäude des Tempels entfremdet, indem sie mit dem Thronwagen aus dem Tempel ausziehen.106 Ein ungeheuer komplexes Spannungsgeflecht zwischen Erfahrungen im Exil und Erfahrungen am Tempel - wie immer auch durch Visionen vermittelt - ist damit ausgesprochen. Das Sehen leitet hier etwas ein, was man als Wesenserkenntnis beschreiben könnte. Die visionäre Erscheinung des Wagens mit den Lebewesen wäre für sich nichtssagend, wenn nicht durch tieferes Sehen auch deren Sinn und Bedeutung hervorträte. Auf diese Weise deutet die Stelle an, welche Art des Sehens den im 13. Kapitel gescholtenen Propheten gefehlt haben könnte. Diese konnten dann auch irgendwelche Visionen und Erleuchtungen haben, konnten sie aber nicht richtig einordnen, weil ihr menschliches Sehen und Deuten von einer falschen Motivation verdorben war.
Wenn Ez 14,22 das Schicksal der zweiten Deportation vorwegnimmt, heißt es an die Adresse der Betroffenen der ersten Deportation, die die aus der zweiten aufzunehmen haben werden:
- „da werdet ihr ihre Wege sehen und ihre Taten und werdet euch trösten über das Böse, das ich über Jerusalem brachte.“ Auch hier geht das Sehen einem Verhalten voraus. In V. 22 ist es das Sich-Trösten. In V. 23 folgt dann noch, einen Schritt weiter gehend, das Erkennen Gottes im Sinne der Erkenntnisformel.
Objekt des Sehens sind die „Wege und Taten“ der Jerusalemer, die den Exulanten durch die erneute Deportation Überlebender sichtbar werden; damit also etwas, das ein sittliches und religiöses Urteil herausfordert. Es ist ein Urteil, das den Betroffenen freigestellt wird. Sie sollen nicht durch eine Argumentationskette überzeugt werden, sondern durch das, was sie mit eigenen Augen wahrnehmen können. Wie das Sehen Verstehen ermöglichen und die Fähigkeit verleihen soll, sich ein eigenes Urteil zu bilden, wird hier besonders deutlich. Denn mit dem Trost, mit dem sich die schon Exilierten über die Zerstörung Jerusalems hinweghelfen, ist die Einsicht in Sinn und Berechtigung dieser als Gericht zu verstehenden Katastrophe mitgedacht. Die Gotteserkenntnis wäre die höchste Stufe in diesem Verstehensprozeß, der gemäß der ez Theologie vom Sehen den Ausgangspunkt nimmt.
Im 18. Kap. wird das „Sehen“ zum Anlaß einer Verhaltensänderung innerhalb einer kasuistisch wirkenden Beispielreihe. Bei diesem Generationenvergleich zu Beginn des Kapitels, der deutlich macht, daß die Eingebundenheit in eine Familie die eigene freie Willlensentscheidung nicht behindern muß, leitet ein solches „Sehen“ bei dem „guten“ Sohn in V. 14 die Entscheidung ein, sich nicht an das trügerische Beispiel des „schlechten“ Vaters zu halten:
„Und siehe, er zeugt einen Sohn und der sieht alle Sünden seines Vaters, die er tut, er sieht sie und tut nicht ihnen entsprechend.“
Damit ist auch hier das Sehen kein gleichgültiges, neutrales Beobachten, sondern die Voraussetzung für ein geistiges Urteil, dem eine persönliche Entscheidung für das eigene Handeln folgt.
In 18,28 verhält es sich ganz ähnlich, nur daß hier der einsichtige Sünder die eigenen Taten sieht, wie trotz fehlender ausdrücklicher Benennung des Objekts anzunehmen ist, und dadurch zu einer Kehrtwende in seinem Leben bewogen wird.
Im 23. Kap. hat, im Gegensatz zum 18., wo das „Sehen“ des Schlechten Anlaß zu Besinnung und Umkehr wird, dieses „Sehen“ bei der Jerusalem verkörpernden Oholiba den umgekehrten Erfolg. Von ihr heißt es in V. 11:
- „da sah Oholiba ihre Schwester“, das heißt wohl, sie sieht sowohl die Taten, als auch das Schicksal ihrer Samaria verkörpernden Schwester Ohola. Dennoch treibt sie es noch schlimmer. Das Sehen führt also nicht automatisch zu einer Sinnesänderung, sondern stellt nur vor die bewußte Entscheidung. Damit erhöht sich die Schuldhaftigkeit des Verhaltens, wenn die Chance, aus dem Beispiel der Schwester zu lernen, nicht ergriffen wird. Dies Beispiel macht auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam: das Sehen ist zwar notwendig zu einem Sinneswandel, für sich allein genügt es aber noch nicht. Es muß immer noch die freie Willensentscheidung hinzukommen. Diese vier entscheidenden Stellen: 14,22; 18,14; 18,28; 23,11 sind alles Stellen, an denen das Sehen eine moralische Bewertung herausfordert, die ihrerseits den, der sieht, vor die Notwendigkeit einer eigenen Entscheidung stellt.
Von dem zu Sehenden geht oft eine Warnung aus, wie sie in 33,1-9 der Prophet als Wächter vermitteln soll. Es stellt den Menschen vor eine Wahl und macht dem Einzelnen sowohl die Freiheit zu wählen, als auch die mit einer getroffenen Wahl verbundenen Konsequenzen bewußt. Man möchte bei Verwarnung zunächt an Worte denken, die zu hören waren. Aber ein Prophet wie Ezechiel hat auch viel durch Symbolhandlungen gewirkt, bei denen es zunächst, bevor eine Erklärung folgte, nur etwas zu sehen gab (Vgl. z.B. 12,1-7; 37,15-17). Aber auch viele seiner Reden bedienen sich der Bildworte, wie sie sich an eine sinnenfrohe Phantasie wenden. Der ganze Abschnitt 33,1-9 kann in gewisser Hinsicht als paradigmatisch für das Verhältnis von Sehen und Hören aufgefaßt werden: das anrückende Schwert wird gesehen; die weitergegebene Warnung davor wird gehört. Damit erhält das prophetische Sehen eine größere Exklusivität gegenüber dem Hören. Denn weit sehen vermag hiernach nur der auf einen besonderen Posten gestellte Wächter, der Prophet, während das Zuhören für alle gilt.
In 16,6 ist es Gott selbst, der bei seinem Vorübergang das Findelkind sieht:
- „da sah ich dich zappelnd in deinem Blut.“ Das Sehen läßt hier vordergründig die Not und Hilflosigkeit der als Findelkind angeredeten zukünftigen Braut erkennen. Damit wird das „Sehen“ hier ebenfalls zum Anlaß für eine Entscheidung, ein bestimmtes Handeln. Nur daß hier, wo es sich um die Gottheit selber als Subjekt des Sehens handelt, kein Entscheidungszwang vorliegen kann, sondern reine Entscheidung in Freiheit. Was Gott dabei an-“sieht“ ist hier noch nicht Sünde oder verkehrtes Verhalten, sondern das Elend und die Verlassenheit. Vielleicht sieht er aber auch in seinem erwählten Geschöpf etwas von den innerlich angelegten Möglichkeiten. Das An-Sehen wird dabei zum Anlaß einer Berufung. Gott beobachtet mit seinem Sehen die weitere Entwicklung in V. 8:
- „da ging ich an dir vorüber und sah dich, und siehe deine Zeit, die Zeit der Liebe.“ Gott sieht erneut die durch die Metapher „Liebe“ angedeuteten Möglichkeiten, die dem Entwicklungsstadium der jungen Frau entsprechen. In Ez 23,13 geschieht es ihm mit Oholiba, der Schwester von Ohola:
-“da sah ich, daß sie sich verunreinigte“. Ein Sehen, das den wahren Zustand und die dadurch zerstörte Beziehung offenbart und damit die Ankündigung und Rechtfertigung des Gerichts vorbereitet.
Eine scheinbar neutrale Stelle findet sich in 19,11. Von dem Weinstock, der unmittelbar vorher mit der wahrscheinlich das Königshaus Juda vorstellenden Löwenmutter identifiziert wurde, heißt es hier:
- „da wurde er gesehen bei seiner Höhe und bei der Menge seiner Zweige.“ Gleich im Anschluß wird V. 12 ohne weitere Begründung das Gericht an diesem gut gediehenen Weinstock vollzogen. Da der Umschlag von Aufstieg und Fall so abrupt erfolgt, schwingt auch hier in der Bedeutung nachträglich so etwas wie das Sichtbar-Werden von Hochmut mit. Gesehen-Werden hat etwas mit Preisgabe, Sich-Aussetzen, Risikobereitschaft zu tun. Wie das aktive Sehen eine Entscheidung ermöglicht und herausfordert, so fordert das Sich-Zeigen, Sich-Sehen-Lassen das Schicksal heraus.
Unter den Vergleichsstellen im Ezechielbuch sind es folgende Stellen, an denen das Sehen das Wahrnehmen und Erkennen von etwas Schlechtem, Sündhaftem beschreibt. Die erste Stelle in 12,3 ist etwas zweifelhaft und daher nicht in die Tabelle mit aufgenommen worden. Der Prophet wird aufgefordert, das noch einem Teil der Verbliebenen bevorstehende Schicksal der Verbannung in einer Symbolhandlung vorzuführen.
- gewöhnlich übersetzt als „vielleicht sehen sie, denn sie sind ein widerspenstiges Haus“. „Sehen“ bezöge sich dann vordergründig auf die Symbolhandlung als Objekt. Die Betonung der Widerspenstigkeit des Volkes wäre eine Einschränkung, die das „vielleicht“ zu Beginn rechtfertigt. Im Sinne von: „Vielleicht sind sie so widerspenstig, daß sie nicht einmal …“ Man könnte das hier aber auch als Einleitung eines Objektsatzes verstehen und dann übersetzen: „Vielleicht sehen sie, daß sie ein widerspenstiges Volk sind.“ Dann würde hier die Form von ein Sehen bedeuten, das ein Einsehen, ein Erkennen auf dem Weg zur richtigen Selbsterkenntnis ist. Parallelen zu ähnlichen Stellen wie Ez 4,27 möchten die Ursache sein, warum diese Stelle wahrscheinlich von noch keiner Übersetzung als Objektsatz aufgefaßt wurde.
Sehr merkwürdig ist die Stelle in 21,29. Als Begründung für das angedrohte Gericht heißt es dort:
„Daher, so spricht der Herr, JHWH, weil ihr denken laßt an eure Fehler, wenn eure Übertretungen offenbar werden, so daß die Sünden an all euren Taten gesehen werden, weil eurer gedacht wird, werdet ihr handgreiflich gefaßt werden.“
Es genügt offensichtlich nicht, nur vom Gesehenwerden der Handlungen zu sprechen, es muß noch eine besondere Qualität an diesen Handlungen unterschieden werden, die sie erst zu Sünden macht und für die es darum eine tiefergehende Wahrnehmung braucht. Das Gericht wird durch den König von Babylon vollstreckt, der eine Leberschau vornehmend vorgestellt wird, die ihm den nächsten Zielpunkt für sein Heer zeigen soll. Das judäische Königshaus schien sich darauf zu verlassen, daß ein heidnischer Herrscher wie der König von Babylon nur ein falsches Orakel bei einer solchen Leberschau erhalten könnte. Doch auch ein solches kann Gott dazu dienen, die Sünden des eigenen Volkes zu offenbaren und damit zu strafen.
An den Stellen 19,11 und 21,29 ist das Subjekt des Sehens anonym. Man darf zwar annehmen, daß es letztlich Gott ist, der sieht, daß aber zugleich an eine unbestimmte Öffentlichkeit gedacht ist, die er als Zeuge für die Notwendigkeit eines Gerichtes in Anspruch nimmt, wie solches bei Gerichtsworten in ausdrücklicher Form - etwa als Anrufung der Berge, des Himmels, oder anderer stummer Zeugen der Natur - nicht selten ist.
In 23,14 ist es ein bestimmtes Sehen, das Oholiba zur Versuchung wird:
- „da sah sie Männer geritzt auf die Wand, Bilder der Chaldäer“. Die Formulierung erinnert mit den geritzten Bildern an die Tempelvision in Kap. 8.
Ez 20,28 ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie bei Ezechiel das Sehen oft einer in freier Entscheidung gewählten Handlung vorangeht: - „da sahen sie jeden erhöhten Hügel und jeden belaubten Baum und opferten dort ihr Opfer.“ Dabei könnte es sich um einen Rückbezug auf Dtn 12,13 handeln, wo das Opfern verboten wird - „an jeder Stätte, die du siehst“. Doch hier ist das Sehen nur in einem angehängten Relativsatz enthalten und bräuchte nicht unbedingt ursächlich für das falsche Handeln zu sein. Anders dagegen bei Ez 20,28, wo ähnlich, wie in den Beispielreihen von Kap. 8, das Sehen im Hauptsatz den nachfolgenden Handlungen bewußt vorangestellt wird, um so deutlich zu machen, daß es für sie zum Anlaß wird.107 Daß die Stelle also, auch wenn sie wirklich auf Dtn 12,13 zurückweisen sollte, im Sinne des im Ezechielbuch herrschenden Verständnisses vom Sehen umgeformt worden ist, scheint offensichtlich.
Nach Hahn und Bergsma könnte auch eine bewußte Anlehnung an deuteronomischen Sprachgebrauch vorliegen, um so den Gegensatz zur Gesetzgebung des Dtn fühlbarer werden zu lassen. Mit den „unguten Gesetzen“ in V. 25 würde dann gerade auf diese Gesetzgebung angespielt, die sich aufgrund des laxeren Verhältnisses zum Kult vom Heiligkeitsgesetz unterscheidet. Der Gebrauch des Lokaladverbs „dort“ diene dazu, Beziehung und Gegensatz deutlich zu machen.108
Allen genannten Vorkommen ist gemeinsam, daß das „Sehen“ einer persönlichen Entscheidung vorausgeht, einer Entscheidung, die immer eine Entscheidung für oder gegen etwas oder Jemanden ist. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten ausgeschöpft. Es kann die Entscheidung Gottes sein, mit seinem Volk einen Bund zu schließen, es kann die Entscheidung zur Fällung oder Aussetzung eines Gerichtsurteils sein, es kann auf Seiten der Gläubigen die Entscheidung für oder gegen schlechte oder gute Beispiele sein. Gott selbst bleibt als der allsehende, immer zugleich der Unsichtbare, der nicht gesehen werden kann, von dem man sich kein Bild machen kann. Daran ändert auch die großartige Vision der Gottesherrlichkeit nichts, die dem Propheten geschenkt wird, aber nie Gott selbst unmittelbar sehen läßt. Die Beziehung zu ihm wird daher nie durch das rein natürliche Sehen als solches hergestellt oder erhalten, wohl aber durch ein kontrolliertes Sehen, das nicht allen Eindrücken nachgibt und Raum läßt für jene Wirklichkeit, die über das Sichtbare hinausgeht. Das ist allerdings ein Sehen, das an tiefere, verborgene Schichten dieser Wirklichkeit teilhaben läßt. Ein Sehen, das von der äußeren Tatsächlichkeit getroffener Entscheidungen „ab“-sieht und statt dessen „hin“-sieht auf jenen geistig sittlichen Bereich der Freiheit, in dem Entscheidungen erst getroffen werden müssen.
Weitet man den Blick über das Ezechielbuch hinaus, so bietet sich der weisheitliche Gebrauch der Wurzel bei Kohelet als Parallele an. Bei ihm ist sie die umfassende Wahrnehmungsart, mit der der Weise zu seinen Lebenserfahrungen kommt, um sie zu sammeln und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Am programmatischen Vers 1,14 läßt sich diese Tendenz ablesen: - „Ich sah alle Taten, so unter der Sonne getan wurden. Und siehe: Das alles ist Windhauch und Weben der Luft.“ Auch hier bereitet das Sehen den Boden für etwas anderes. Nur daß dieses Andere keine freudige Entscheidung zur Tat ist, sondern ein resignierter Weisheitsschluß.
Man könnte vier Stufen unterscheiden in dem durch das Sehen ermöglichten Wandlungsprozeß nach Ez:
1. Das Sehen, das ein bestimmtes Urteil unumgänglich macht.
2. Reflexion über Behinderung oder Erleichterung eines rechten Sehens.
3. Die Veränderung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung, die das Urteil herausfordert.
4. Die rechte Gotteserkenntnis als höchstes Ziel.
In 8,12 ist von einem Nicht-Sehen die Rede: Gott sieht nicht die Sprechenden. Der Grund ist seine fehlende Gegenwart im Land. Diese macht sein Sehen unmöglich. Er kann nach Meinung der Sprechenden nicht sehen. Dieses Sehen bzw. Nicht-Sehen-Können ist im Verständnis der Sprechenden ein äußerlicher Vorgang, der die unmittelbare Gegenwart voraussetzt. Als Antwort auf diese Meinung der Sprecher kehren sich im Ezechielbuch im Gefolge die vermeinten Verhältnisse in ihr Gegenteil um. Nun ist es Gott, der alles sieht, weil er alles durchschaut, und im ez Sinne alles versteht. Das Nicht-Sehen in 12,6 drückt symbolisch die Blindheit des Fürsten und mittelbar auch des ganzen Volkes aus. Das Volk sieht nicht, weil es nicht versteht, und, wenn man Odell folgt, in gewisser Weise auch nicht gegenwärtig ist, indem es sich hinter Ersatzriten zurückzieht, um auch einer persönlichen Entscheidung auszuweichen, wie sie aus einem richtigen Sehen erfolgen müßte.
Das Interessante hierbei ist, daß Sehen und Verstehen in eine besondere Beziehung zum Land gesetzt werden. Für die Sprecher der Redensart in 8,12 ist die Gegenwart Gottes im Land Bedingung und Voraussetzung für das Sehen und Wahrnehmen des religiösen Kultes. Durch die prophetische Antwort wird auch dieses Verhältnis umgekehrt: Das Sehen und Begreifen der eigenen Schuld, sowie die Einsicht in das einzig wahre Gottesverhältnis wird zur Voraussetzung für die Rückkehr ins Land und den wesentlichen - nicht bloß zufälligen - von Gott gewährten Besitz des Landes. Was erst Voraussetzung war - die Gegenwart im Land - wird selbst, auch für das Volk, infrage gestellt, und muß seinerseits erst Ziel und Gegenstand einer Neu-Vergewisserung werden, die durch neu erlerntes Sehen und Verstehen ermöglicht wird.