Читать книгу "Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25) - Alban Rüttenauer - Страница 7

2. Einführung in die Thematik

Оглавление

Im Buch des Propheten Ezechiel kommen immer wieder die Adressaten seiner prophetischen Botschaft - sei es das ganze Volk, einzelne Volksgruppen oder gar fremde Völker - selbst zu Wort, mit einzelnen Aussprüchen oder sprichwortartigen Wendungen. Oft finden sich diese Redensarten, wie sie hier genannt sein sollen, in größeren Einheiten, die als Disputationsworte bezeichnet werden, weil die betreffende Redensart zur kritischen Auseinandersetzung über ein bestimmtes Thema das Stichwort liefert. Sie kommen aber auch in anderen Zusammenhängen vor, die sich nicht als Disputationsworte im strengen Sinn bezeichnen lassen, wo sie Zimmerli als illustrierende Zitate und Fragen der Leute von den Disputationsworten streng unterscheidet.1 In vorliegender Arbeit sollen die Disputationsworte und illustrierenden Zitate unter dem Oberbegriff repräsentative Redensarten zusammengefaßt werden.

In seiner Dissertation über die Zitate im Ezechielbuch führt Clark die Bezeichnung repräsentatives Zitat ein, um einen Mittelbegriff zwischen den sog. authentischen und fiktiven Zitaten zu finden, in der Annahme, daß es rein authentische Zitate im Ezechielbuch wahrscheinlich nicht geben wird.2 Hier wird von einem etwas weiter gefaßten Verständnis des Begriffes ausgegangen, der einige Zitate darunter zu subsumieren erlaubt, die Clark nicht dazugezählt hat. So konnte er sich z.B. nicht vorstellen, daß auch in den FVS befindliche Redensarten repräsentativen Charakter haben. Einem Hinweis Fechters folgend, darf dennoch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß sie etwas von Eigenart und Selbstverständnis der verschiedenen Fremdvölker erkennen lassen, wenn auch aus einem besonderen Blickwinkel heraus.3 Vielleicht dürfen die Bildungs- und Informationsmöglichkeiten, die der Aufenthalt in einem Weltreich, wie dem damaligen Babylon, bot, nicht zu gering veranschlagt werden.4 Clarks Unterscheidung wird jedoch dankbar angenommen, um Stellen wie 26,17-18 und 27,32b-36 aus der Betrachtung auszuklammern, die auschließlich der poetischen Gattung eines Klageliedes entsprechen, ohne geschichtlich reelle Gestalten zu Sprechern zu haben.

Repräsentative Redensarten sind solche, die repräsentativ für die jeweiligen Sprecher stehen, ihren Charakter, ihre Einstellung, ihre Rolle. Repräsentation kann dabei auch den Gedanken der Stellvertretung mit einschließen. Die Redensarten repräsentieren Personen, die nicht unmittelbar anwesend sein müssen oder können. Für die Exilierten stellen sie die Jerusalemer bzw. die Fremdvölker dar. Sie können aber ihrerseits die Exilierten, ihre Stimmungen und Spannungen für das in späteren Zeiten wiederzuvereinende Volk lebendig erhalten wollen. Zukünftige Gestalten wie Gog werden so in die Gegenwart hereingeholt. Vielleicht ist dies der heimliche Grund dafür, daß die Babylonier mit Redensarten erstaunlich unterrepräsentiert sind. Sie waren für die damalige Zeit so allgegenwärtig, daß sie nicht eigens in Szene gebracht werden mußten (vgl. aber Ez 36,20 eine Redensart von den Völkern, zu denen die Israeliten gebracht wurden, ohne Namensnennung). Repräsentation stellt damit eine besondere Form der Verlebendigung dar. Es ist aber nicht so sehr die Verlebendigung einer Szene, als die von Personen und den mit ihnen verbundenen typischen Denk- und Verhaltensmustern. Repräsentative Redensarten, so wie sie hier verstanden werden, umfassen all die Zitate, die nach einer anderen Einteilung Clarks antithetischen oder explanatorischen Charakter tragen. Einen solchen explanatorischen Charakter haben die Verständnisfragen der Leute.5 Ursprünglich war für die gegenwärtige Untersuchung eine Beschränkung auf die antithetischen Redensarten im Sinne Clarks geplant, doch hat sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit die kompositionelle Verknüpfung mit den Fragen der Leute zu sehr aufgedrängt, um sie übergehen zu können.

Im Unterschied zu Clark wird hier Ez 16,44 noch zu den antithetischen Redensarten hinzugezählt. Die Redensart scheint mit dem abschätzigen Wort der als Liebhaber vorgestellten Nachbarvölker nur das Urteil über die Braut Jerusalem ergänzen und bestärken zu sollen, der Vergleich mit anderen Redensarten wie 18,2; 20,32 und 25,8 zeigt aber, daß auch sie indirekt zum Widerspruch reizen will, um zu verhindern, daß verwandtschaftliche Beziehung oder unmittelbare Umgebung Freiheit und Berufung der Menschen, die zum erwählten Volk gehören, behindern. 36,35 enthält die einzige aus den mit Clark als citations with supplemental message einzustufenden Redensarten, die hier auch als repräsentative behandelt wird. Sie repäsentiert zukünftige Nachbarvölker, deren Verhalten gegenüber dem Land Israel eine entscheidende Wandlung erfährt. Antithetisch ist daher auch sie, wenn man sie im Vergleich zum früheren Verhalten derselben Völker sieht.

In einem Exkurs seiner den Fremdvölkersprüchen Ezechiels gewidmeten Untersuchung befaßt sich auch Fechter mit der Problematik der Zitate im Ezechielbuch und listet sie unter der Überschrift Zitate von Anderen auf. Ihnen stellt er Zitate von Jahweworten und Zitate von Worten des Propheten gegenüber.6 Der etwas seltsam klingenden Bezeichnung Zitate von Anderen spürt man die Schwierigkeit an, diese Anderen als Urheber der Zitate näher zu bestimmen. Offenbar läßt sich nicht mehr Gemeinsames unter ihnen feststellen, als dies, daß sie von JHWH und dem Propheten gleichermaßen verschieden sind, indem sie als dritte Größe zu ihnen hinzutreten. Diese Schwierigkeit macht auf die Problematik aufmerksam, die Zitate ausschließlich über die Sprecher definieren zu wollen. Deshalb soll hier der andere Weg beschritten werden, sie auch über eine inhaltliche Bestimmung abzugrenzen. Neben dem schon erwähnten repräsentativen Charakter fällt nämlich auch ein gewisser redensartlicher Zug an ihnen auf, Redensart im weitesten Sinne verstanden. Ein völlig adäquates Wort ist auch im Deutschen nicht leicht zu finden. Neben Alternativen, wie Sprichwort oder Redewendung, ist die Entscheidung zuletzt aus vorwiegend pragmatischen Gründen für Redensart gefallen. Diese Bezeichnung läßt viele Unterarten zu und schließt doch zugleich den Zitatcharakter indirekt mit ein. Als Redensart wird hier die typische Deutung einer Situation betrachtet, wie sie von mehreren Personen in unterschiedlichen Situationen gebraucht werden kann. Deshalb hat sie einen verallgemeinernden, mehrdeutigen Charakter, der sie zwar von einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit ausgehen, diese aber auch ab einem entscheidenden Punkt bei überzogener Verallgemeinerung verfehlen läßt. In diesem Sinn sind solche Redensarten Äußerungen, wie sie von vornherein nicht im Munde JHWHs oder des wahren Propheten (im Unterschied zu den falschen) zu erwarten sind.

Es werden aus diesem Grunde nur solche Zitate behandelt, die bereits eine Deutung der jeweiligen geschichtlichen Situation enthalten, und nicht bloß eine passive Reaktion darauf. Ausgeschieden wird daher, neben den genannten Zitaten, auch das Zitat in Ez 33,21: Hier übermittelt der Flüchtling nur die geschichtliche Tatsache vom Fall Jerusalems.

Keine Berücksichtigung finden hier auch einzeln stehende Interjektionen, wie das „Ha!“ der Heidenvölker in 25,3, das keine richtige Aussage, sondern nur eine Stimmung wiedergibt.

Viele der hiermit ausgegrenzten Zitate werden dennoch indirekt miteinbezogen werden, da sie oft mit wirklichen Redensarten in kontextueller oder stichwortartiger Verbindung stehen (Vgl. z.B. 25,3 mit 25,8). Nur eine eigene sprachliche Analyse sollen sie nicht erhalten.

Eine einheitliche Bezeichnung für diese Redensarten kann man vom Ezechielbuch selber nicht erwarten. An drei Stellen, 12,22.23 und 18,2, trifft man auf die Bezeichnung - der Maschal - „das Sprichwort“, jeweils auf einen Volksspruch bezogen. Im weiteren Sinn begegnet man dem Ausdruck noch in 14,8; 17,2; 18,2; 21,5 und 24,3. Das entsprechende Verb „sprichworten“ taucht dann noch in 12,23; 16,44; 17,2; 18,2.3; 21,5 (Piel!) und 24,3 auf. Die Verwendung dieses Wortes ist bei Ezechiel so vielfältig wie sonst in der hebräischen Bibel, man könnte aber den Eindruck erwecken, daß eine gewisse negative Bedeutung, etwa im Sinne von Spottvers, vorherrscht. In 12,22-23 und 18,2-3 ist es Gott selbst, der sich jeweils einen Maschal von seiten des Volkes verbittet. In 16,44 liegt ein fingierter Spottvers gegen die Braut Jerusalem vor. In 21,5 ist es umgekehrt das Volk, das sich über den nur in Meschalim redenden Propheten beschwert. Es bleibt dabei offen, ob der Ausdruck sich auf die Schwerverständlichkeit der Bilder bezieht oder vielleicht doch auch auf den drohenden Charakter der Gerichtsbotschaften. Tatsächlich werden einige Prophetenworte mit Drohwortcharakter als Maschal eingeleitet, so in 17,2 und in 24,3. 14,8 läßt Gott Menschen, die, ohne sich warnen und bekehren zu lassen, zum Propheten gehen, um ihn zu befragen, selbst zu Meschalim werden. Dagegen werden die Zeichenhandlungen des Propheten Ez 4,3 als und der Prophet Ezechiel selbst 12,6; 24,24 als (beides = „Zeichen“) und eben nicht als bezeichnet.

Zu den entscheidenden Stilmerkmalen, anhand derer die Redensarten erkenntlich sind, gehört die Einleitung, die ihr jeweils vorausgeht und sie als Zitat kenntlich macht. Sie liefert Informationen zu den Sprechern, zu deren Verhalten und Absichten, aber auch zum allgemeinen Verständnis der Redensarten. Die Urheber der von uns gesuchten Redensarten tragen zumeist kollektiven Charakter, da es zur Natur dieser Redensarten gehört, keine einmaligen Sprachschöpfungen zu sein, sondern von ähnlich gesinnten Personen in vergleichbaren Situationen wiederholt zu werden. Redensarten von Einzelpersonen, bei denen man immer noch einen repräsentativen Charakter heraushört, findet man unter den Fremdvölkersprüchen. Diese Einzelpersonen werden als zuständige Könige, Fürsten o.ä. angesprochen, die für ein zugehöriges Volk verantwortlich sind.

Zitate anderer Menschen sind in Prophetenbüchern oft Zitate von Gegnern der Propheten.7 Die Redensarten im Ezechielbuch könnten auch als Zitate von Gegnern angesprochen werden8, aber mit einem gewissen Unterschied. Die Redensarten liefern zwar Stoff zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, die von schroffer Ablehnung bis zu sanft mahnender Zurechtweisung reichen, die persönliche Betroffenheit des Propheten tritt jedoch meistens stark hinter seinem Eifer für den gekränkten Gott zurück. Man ahnt, daß den Propheten an den Sprechern mehr das Typische als das Individuell-Historische interessiert. Dadurch erhalten die Redensarten einen Charakter besonderer Art. Sie lassen eine einmalige historische Gelegenheit, bei der sie ursprünglich wahrscheinlich gebraucht wurden, noch eben erkennen und erhalten doch zugleich einen erzählerischen Rahmen, der sie in den Gesamtzusammenhang des Buches einbaut. Dennoch scheint es der Prophet darauf angelegt zu haben, sie als etwas nicht völlig Unbekanntes den Hörer bzw. Leser wiedererkennen zu lassen.

Die Kennzeichnung als Zitat geschieht bei Ezechiel fast immer in der etwas formelhaften Weise über die Wurzel - „sagen“. Das In-Szene-Setzen der Redensarten kann auf unterschiedliche Weise geschehen, je nachdem, ob die Wurzel im Perfekt oder perfectum consecutivum gebraucht wird oder als Partizip auftritt. Zu schematisch erschiene es aber vielleicht, darin nur den Unterschied zwischen Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit ausgedrückt zu sehen.9 Verba dicendi können ohnehin auch im Perfekt die Gleichzeitigkeit bezeichnen.10 Gleichzeitigkeit scheint jedoch aus inhaltlichen Gründen der vorherrschende Fall bei den im Ezechielbuch zitierten Redensarten zu sein, da mit ihnen die gerade herrschenden Stimmungen und Ansichten wiedergegeben werden. Die Redensarten zeichnet ihre relative Kürze aus, die mit Einleitung meist nur einen Vers umspannt. Im Wesentlichen zielen sie auf eine bestimmte Aussage ab, die durch Vergleiche oder Gegensätze hervorgehoben wird.

Daß eine gegenwärtige geschichtliche Situation durch die Redensarten eine volkstümliche Deutung erfährt, macht ihre charakteristische Eigenschaft aus. Eine solche Deutung schließt auch die inneren Gedanken, Gefühle und Stimmungen mit ein, die die Sprecher in bezug auf die zugrundeliegenden Situationen haben.

Schwierig wird es sein, einen allgemeinen Sitz im Leben für diese Redensarten zu rekonstruieren. Am Ende bleibt nichts übrig, als die Exilszeit selbst als diesen Sitz anzunehmen. Die Exilszeit ist nicht bloß eine einmalige historische Situation, sondern besitzt auch, wie für einen Sitz im Leben gefordert, allgemeine typische Eigenschaften, wie sie sich in vergleichbaren Krisensituationen wiederholen und das bis auf den heutigen Tag. Zu diesen Eigenschaften dürfte auch die besondere Hellhörigkeit der Exulanten gezählt werden, die in dem Maß, wie sie selbst zur Untätigkeit verdammt sind, auf umgehende Meinungen und Ansichten vermehrt achtgeben, um daran die Zukunft des aufgegebenen Heimatlandes abzulesen.11 Hinzu kommt der leicht verständliche, leidenschaftliche Versuch, auch über Räume hinweg mit dem Heimatland oder anderswohin verstreuten Volksgenossen in Kontakt zu bleiben.

Man braucht nur auf die jüngere deutsche Geschichte zu schauen und wird um Parallelen nicht verlegen sein. Die politische Emigration zur Zeit des dritten Reiches hat ähnliche Erscheinungsformen hervorgebracht. Die Situation war natürlich in manchem eine andere, insofern Deutschland zunächst nicht von außen erobert wurde, sondern eine selbstverschuldete Diktatur heraufbeschwor. Die Verhaltensweisen der emigrierten Intellektuellen lassen aber manchen unmittelbaren Vergleich zu. Neben der fiebrigen Suche nach Informationen über die Entwicklung im Heimatland gab es auch Entfremdungen zu denen, die als Regimegegner im Land geblieben waren. Selbst nach der Rückkehr mit Beendigung des Krieges schwelte der Streit weiter. Die Rückkehrer aus dem Exil beschuldigten die Daheimgebliebenen automatisch der Kollaboration mit der überwundenen Diktatur. Die Schriftsteller wiederum, die nicht emigriert waren, sprachen den Heimkehrern jedes Recht zu urteilen ab, weil sie die schwierige Situation im Lande nicht kennengelernt hätten. Aus einer etwas abgeklärteren und weniger parteiischen Perspektive versucht der Dichter Bergengruen den Konflikt zu schildern und läßt doch gerade dadurch ahnen, wie tiefgreifend er gewesen sein muß.12 C. Zuckmayer vertrat eine ähnlich abgeklärte Position aus Sicht der Emigranten.13 Daß diese Haltung jedoch alles andere als selbstverständlich war, bezeugt der heftige Briefwechsel zwischen K. Mann und G. Benn. Er hat so nachhaltig gewirkt, daß Günter Grass ausdrücklich auf ihn Bezug nahm, als er Anna Seghers in einem öffentlichen Brief dafür rügte, nicht gegen den Mauerbau in Berlin Protest einzulegen.14 Dieser Mauerbau erzeugte kein Exil im buchstäblichen Sinn, aber doch die erzwungene Trennung eines kulturell zusammengewachsenen Volkes mit tiefgreifenden Folgen für die Zukunft. Auch zwei Jahrzehnte nach der sog. Wiedervereinigung zeigt sich, daß sich auf rein organisatorische Art und Weise nicht jene innere Einheit eines Volkes herbeizwingen läßt, wie sie Ez 37,15-28 als eine durch Gottes Wirken zustandezukommende beschwört. Gegen die Voreiligkeit von Politikern haben es Schriftsteller und Propheten gewöhnlich nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen.

Neben dieser jüngeren Entwicklung des deutschen Staates würde auch das Migrationsschicksal so vieler Menschengruppen in Gegenwart und jüngerer Geschichte vielleicht interessante Parallelen bieten können, je nachdem wie sich das jeweilige Verhältnis zur neuen Umgebung und zur alten Heimat darstellt.

Das auffallend häufige Aufgreifen von volkstümlichen Redensarten an thematisch wichtigen Stellen bei Ezechiel ist schon immer aufgefallen. Für Zimmerli zeugt es vom seelsorgerlichen Ansatz des Propheten,15 für Keel von seiner Volksnähe.16

Sehr ausführlich geht Sedlmeier in der Einleitung zu seinem Kommentar auf die Verwendung dieser Redensarten ein. Er nennt sie geflügelte Worte17, bei denen ihn nicht nur der Umgang des Propheten damit interessiert, sondern auch das Volk selbst, das in ihnen mit seinen Stimmungen und Erfahrungen zu Wort kommt.18 Nach kurzen Besprechungen der wichtigsten Beispiele benennt er zum Abschluß auch die geistig-religiöse Landschaft der Zeit Ezechiels, die in ihnen ausgedrückt werde.19 Hiermit ist ein zusätzlicher Aspekt umrissen, der zu den Stimmungen und Lebenserfahrungen hinzukommt. Die in den Redensarten ausgesprochenen Lebenserfahrungen haben unmittelbaren Einfluß auf die wichtigsten Glaubensfragen, und das dürfte wohl der entscheidende Grund dafür sein, warum sich ein Prophet wie Ezechiel so sehr durch sie herausgefordert fühlt. In einem Artikel unterscheidet Sedlmeier als Haltungen und Strategien zur Krisenbewältigung, wie sie in den Redensarten vorkommen: Naiver Optimismus (Ez 33,24); Verharmlosen und Harmonisieren (Ez 11,3; 12,22; 12,27); Nutznießung der Krise (Ez 11,15); Resignation (Ez 33,10; 37,11); Lust nach Sensation und Erleben (Ez 33, 30-32); Bitterkeit und Zynismus (Ez 18,2; 20,32).20 Auch in anderen Prophetenbüchern kommen vereinzelt Redensarten des Volkes vor, die dann aber eher als Bericht spontaner und nicht so sehr typischer Reaktionen erscheinen. Sehr nahe kommen den ez Redensarten allerdings Stellen wie Jes 40,27 und 49,14 beim sog. Deuterojesaja,21 ebenfalls einem Exilspropheten. So hier wie bei Ez geben die Redensarten Einblick in die Ansichten des Volkes, das sich angesichts des Zusammenbruchs des Staates seine eigenen Gedanken zu machen anfängt, statt immer nur passiv zu reagieren.

Zusammenfassend lassen sich die Redensarten also folgendermaßen charakterisieren. Durch die Einleitung werden sie zu Zitaten von konkreten Sprechern bestimmt, für deren Einstellung und Wesensart sie einen repräsentativen Charakter haben. Sie gehen über eine bestimmte, sie veranlassende Situation hinaus, indem sie eine allgemeine Deutung derselben bringen, durch die sie einer grundsätzlichen Lebensauffassung dienen sollen. Eine solche Deutung fordert entsprechende Stimmungen, Ansprüche und Selbsteinschätzungen heraus, soweit nicht schon vorausgesetzt, und hat damit zu guter Letzt auch Einfluß auf die religiöse Einstellung.

1 W. Zimmerli, Ezechiel, 55*: „Die rein illustrierenden Zitate, die in 8 12 9 9 27 32b. 34a 33 30 36 20. 35 38 11. 13 zu finden sind, gehören ebensowenig zu der hier besprochenen Redeform wie die schon früher erwähnten Zitate der Leute (in 12 9 18 19 21 12 24 19 37 18, auch 21 5).“ Für die statt dessen angesprochene Redeform findet sich bei Zimmerli sowohl der Ausdruck „Disputationswort“ (S. 54*) als auch der synonyme „Diskussionsworte“ (S. 55*).

2 Mit Beziehung auf Wolff, „Zitat“, bemerkt D.R. Clark, Citations, 16: „Most of those he labels genuine ‘represent’, rather than reproduce precisely or authentically the attitudes of the speakers.“

3 F. Fechter, Bewältigung, 142, äußert in bezug auf 28,2 mit der darin befindlichen Redensart: „Es ist […] kaum von der Hand zu weisen, daß hier tyrisches ‘Lokalkolorit’ im Hintergrund steht[…].“ Möglichen Zweifeln gegenüber macht er das gesellschaftliche Milieu Ezechiels für ein solches Wissen verantwortlich, 142 Anm. 129: „immerhin aber ist mit gewisser Detailkenntnis über religiöse Praktiken bei den Nachbarn Israels gerade in priesterlichen Kreisen zu rechnen.“

4 O. Keel, „Zeichensysteme“, vergleicht die unterschiedliche Symbolsprache Jeremias und Ezechiels. Während Jeremia seine Vergleiche aus der palästinischen Alltagswelt bezieht, holt sie Ezechiel aus der mesopotamischen und ägyptischen Bildwelt. So kommt er, 46, zu dem Schluß: „Ezechiel scheint […] [im Gegensatz zu Jeremia, A.R.] der obersten Schicht der Jerusalemer Priesterschaft angehört zu haben, die sich auf Zadok zurückführte (Ez 40,46; 43,19; 44,15; 48,11). […] In Babylon scheint er mit gelehrten Kreisen Kontakt gehabt zu haben. Zumindest würde das sein detailliertes Wissen über diese Welt erklären.[…]

5 Vgl. die Einteilung bei D.R. Clark, Citations, 60. Clark unterscheidet außerdem noch Zitate zur Ergänzung eines Prophetenwortes. Die übrigen beiden Arten, die prophetischen wie die göttlichen Selbstzitate, haben bei der somit fünf Gruppen umfassenden Einteilung für diesen Gegenstand keine Bedeutung.

6 Vgl. F. Fechter, Bewältigung, 41-48, hier bes. 42-43 Anm. 112.

7 H.W. Wolff, „Das Zitat“, 48: „Es fällt auf, wie selten innerhalb der prophetischen Rede eine Stimme angeführt wird, die das prophetische Zeugnis bekräftigt. Jahwe selbst steht für sein Wort ein. […] Die Zitate feindlicher Stimmen stehen dem wie die Regel der Ausnahme gegenüber.“

8 Vor allem entspricht dem der kollektive Charakter der Sprecher. Vgl. H.W. Wolff, „Zitat“, 48: „Wer kommt als Gegner zu Worte? Kaum sind es einzelne Personen, vielmehr treten meist Gruppen auf, die als solche Jahwes und darum seines Boten Gegnerschaft sind.“

9 Auf diese Unterschiede im Zeitbezug macht besonders F. Fechter, Bewältigung, 42 Anm. 112, aufmerksam. Einleitung durch Partizip oder Infinitiv werden von ihm durch Gedankenstrich als fehlender Zeitbezug eingestuft. Fechter gibt, 42, jedoch zu bedenken, daß „sich auch Texte finden lassen, in welchen ein solcher Zeitbezug nicht gegeben ist. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn ein unbestimmtes Redesubjekt im Blick ist (‘man’, ‘Haus Israel’) und/oder im allgemeinen Sprachgebrauch häufig wiederkehrt. Klassische Beispiele dieser Gruppe sind Sprichworte oder Redensarten (z.B. 18,2).“ Da in dieser Arbeit besonders der redensartliche Charakter der Zitate hervorgehoben wird, versteht es sich, daß der absolute Zeitbezug gegenüber den Aspekten eine geringere Rolle spielen wird.

10 P. Joüon, Grammaire, § 112f: „Le qatal s’emploie pour une action instantanée qui, s’accomplissant à l’instant même de la parole, est censée appartenir au passé […]. Les exemples sont surtout fréquents avec les verba dicendi et leurs équivalents …“.

11 W. Zimmerli, Ezechiel, 251 : „Es ist wohl nicht zufällig einer der im Osten von der Heimat Getrennten, der für diese anderen [von Jeremia nicht wahrgenommenen, A.R.] Stimmen besonders hellhörig ist.“

12 W. Bergengruen, Dichtergehäuse, 157: „In der Schweiz habe ich manche Beispiele erlebt, daß von seiten der Emigranten die Forderung erhoben wurde, jeder Nichtemigrierte habe sich wegen seines Verbleibens in Deutschland zu verantworten und zu rechtfertigen. […] Ich habe es mir nie herausgenommen, den Fortgang eines Mannes zu kritisieren, der Grund hatte, sich vom ersten Tage der nationalsozialistischen Machtergreifung an unmittelbar bedroht zu fühlen, und für den auch keine Möglichkeit gegeben schien, seine geistige Arbeit in Deutschland fortzusetzen. Ich habe seine Motive und Entschlüsse respektiert, und ich kann sagen, daß ich in vielen schwachen Stunden die Emigranten, und mochten sie noch so jämmerlich daran sein, beneidet habe. Allein wie übergroß auch die Sehnsucht nach einem Aufatmenkönnen jenseits unserer Zuchthausmauern war, ich hätte es, in meinem Falle, doch nicht für richtig gehalten, fortzugehen und damit eine geistige Position, und sei sie noch so bescheiden gewesen, solange sie sich irgend halten ließ, meinen Todfeinden zu überlassen. So etwas wurde also zuletzt als Kollaborationismus bezeichnet. Unsere naive Vorstellung, es werde eine freundschaftliche, ja herzliche Wiederbegegnung zwischen lange Getrenntgewesenen geben, war ad absurdum geführt.“

13 C. Zuckmayer, Geheimreport, 21: „Suhrkamp lehnte den Gedanken an Auswanderung ab: vor allem weil er, wie Viele, die Überzeugung hatte, dass man die besseren Kräfte in Deutschland nicht einfach allein lassen könne und dürfe, dass Leute da bleiben müssten um etwas Vorhandenes zu verteidigen und durch die Zerstörungszeit zu retten, und daß für solche, die nicht fliehen mussten, der verantwortliche Platz in Deutschland sei. Dieser Standpunkt ist bei Vielen der in Deutschland Gebliebenen […] durchaus ehrlich und m.E. auch richtig gewesen.“

14 Nachzulesen bei G. Grass, Werkausgabe, Bd. IX, 33-34: „Ich bin nicht Klaus Mann, und Ihr Geist ist dem Geist des Faschisten Gottfried Benn gegengesetzt, trotzdem berufe ich mich mit der Anmaßung meiner Generation auf jenen Brief, den Klaus Mann am 9. Mai 1933 an Gottfried Benn richtete. Für Sie und für mich mache ich aus dem 9. Mai der beiden toten Männer einen lebendigen 14. August 1961: Es darf nicht sein, daß Sie, die Sie bis heute vielen Menschen der Begriff aller Auflehnung gegen die Gewalt sind, dem Irrationalismus eines Gottfried Benn verfallen und die Gewalttätigkeit einer Diktatur verkennen, die sich mit Ihrem Traum vom Sozialismus und Kommunismus, den ich nicht träume, aber wie jeden Traum respektiere, notdürftig und dennoch geschickt verkleidet hat.“

15 W. Zimmerli, Ezechiel 1-24, 103*: „ Man möchte hier in besonderer Weise geneigt sein, von einem seelsorgerlichen Ansatz der Antwort des Propheten zu reden.“ Mit diesem seelsorgerlichen Ansatz versuche der Prophet eine Antwort auf die Frage zu geben: „Was sollen wir denn heute tun?“ (102*). Die Charakterisierung Ezechiels als Seelsorger ist allerdings schon älteren Ursprungs: vgl. C.H. Cornill, Der israelitische Prophetismus, 120: „Ist die religiöse Persönlichkeit das wahre Subjekt der Religion, so ergiebt sich daraus der unendliche Werth einer jeden einzelnen Menschenseele: hier muß der Hebel angesetzt werden, und so gestaltet sich in Ezechiel die Prophetie zur Seelsorge um.“

16 O. Keel, „Zeichensysteme“, 45: „Die Disputationsworte zeigen, daß er dem Volk aufs Maul schauen konnte. Diese Disputationsworte knüpfen an sprichwortähnliche Redensarten an, mit denen sich sein Publikum gegenüber seiner Botschaft zu immunisieren versucht hat. […] So kommt auch im Ezechielbuch nicht nur seine Bildungs-, sondern auch seine Alltagswelt zum Zug.“

17 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Im Ezechielbuch findet sich eine Reihe von geflügelten Worten, die während der Exilszeit im Umlauf waren, sei es unter den Exilierten in Babylon, sei es in der judäischen Heimat.“

18 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Diese Redewendungen geben Einblick in die Art und Weise, wie Ezechiels Zeitgenossen mit dem allmählichen Zusammenbruch ihrer Hoffnungen zurechtzukommen suchten.“

19 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 28: „Diese vielfältigen Stimmen, die im Ezechielbuch laut werden, geben einen Einblick in die geistig-religiöse Landschaft der Zeit Ezechiels.“

20 Fr. Sedlmeier, „Füchse“, 298-300.

21 Jes 40,27: „Wozu sagt Jakob und spricht Israel, verborgen ist mein Weg vor JHWH, an meinem Gott zieht mein Recht vorbei?“ Jes 49,14: „Es sagt Zion, verlassen hat mich JHWH, der Herr hat mich vergessen.“ Man achte auf die chiastische Struktur in bezug auf die Stellung der Gottesbezeichnungen, die auch bei ez Redensarten nicht selten ist. Zum Unterschied ist bei Deuterojesaja die stärkere Subjektivierung feststellbar. Bei Ez findet sich allenfalls die 1. P. Pl. (wenn von Redensarten unter den Fremdvölkersprüchen abgesehen wird, die zuweilen einem einzelnen Fürsten in den Mund gelegt werden). Unterschiedlich ist auch der Umgang, insofern Deuterojesaja nur den Klagecharakter heraushebt, um ihn zum Anlaß für ein Trostwort zu nehmen.



Подняться наверх