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Der Eingeborene und der Privilegierte

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Wenn der Kolonisator – durch Zufall oder Zielstrebigkeit – einmal den Profit entdeckt hat, fehlt ihm allerdings noch die bewusste Einsicht in die historische Rolle, die ihm zugedacht ist. Zur Erkenntnis der neuen Situation bedarf es noch eines Schrittes: er muss zugleich den Ursprung und die Bedeutung dieses Profits verstehen. Freilich braucht man darauf nicht lange zu warten. Wie könnte er über längere Zeit hinweg das Elend des Kolonisierten und den Zusammenhang zwischen diesem Elend und seinem eigenen Wohlergehen übersehen? Es wird für ihn deutlich, dass dieser leichte Gewinn nur darum so leicht ist, weil er anderen entrissen wird. Kurz gesagt, er macht zwei Entdeckungen auf einmal: er entdeckt die Existenz des Kolonisierten und damit sein eigenes Privileg.

Zweifellos wusste er, dass die Kolonie nicht ausschließlich von Kolonisten oder Kolonisatoren bewohnt war. Er hatte sogar eine bestimmte Vorstellung von den Kolonisierten, die er der Lektüre von Büchern aus seiner Kindheit verdankte; im Kino hatte er diesen oder jenen Dokumentarfilm über einige ihrer Gebräuche gesehen, die meistens wegen ihrer Fremdartigkeit ausgesucht worden waren. Aber diese Menschen gehörten eben den Regionen der Phantasie, der Bücher oder der Kinovorstellungen an. Sie betrafen ihn nicht oder kaum, nur auf dem Umweg über die Vermittlung von Bildern, die seiner gesamten Nation gemeinsam waren, militärische Heldenepen, unbestimmte strategische Überlegungen. Das hatte ihn ein wenig beunruhigt, als er für sich den Entschluss fasste, selbst in die Kolonie zu gehen, aber nicht anders, als ihn das möglicherweise ungünstige Klima beunruhigt hatte oder das Wasser, das dort zu kalkhaltig sein sollte. Und auf einmal sind diese Menschen kein simples Zubehör einer geographischen oder historischen Kulisse mehr, sondern treten real in sein Leben ein.

Er kann sich nicht einmal dafür entscheiden, ihnen aus dem Weg zu gehen, er muss in beständiger Beziehung mit ihnen leben, denn gerade diese Beziehung ist es, die ihm dieses Leben ermöglicht, das er in der Kolonie freiwillig gesucht hat, diese Beziehung ist es, die so einträglich ist und die das Privileg schafft. Er befindet sich auf der einen Schale einer Waage, deren andere den Kolonisierten trägt. Ist sein Lebensstandard hoch, so deshalb, weil der des Kolonisierten niedrig ist; wenn er von Arbeitskräften profitieren kann, von einer zahlreichen und anspruchslosen Dienerschaft, so deshalb, weil der Kolonisierte nach Belieben ausgebeutet werden kann und von den Gesetzen der Kolonie nicht geschützt wird; wenn er so leicht einen Posten in der Verwaltung erhält, so darum, weil diese Stellen für ihn reserviert werden und der Kolonisierte von ihnen ausgeschlossen ist; je freier er atmet, um so mehr schnürt es dem Kolonisierten die Kehle zu.

Es ist unmöglich für ihn, das alles nicht zu entdecken. Er ist es nicht, den die öffentlichen Reden vielleicht überzeugen werden, denn diese Reden hat er selbst, sein Vetter oder sein Freund verfasst; die Gesetze, die seine weitgehenden Rechte und die Pflichten der Kolonisierten festhalten, sie sind von ihm gemacht, die kaum verhüllten Anweisungen zur Diskriminierung, die Quoten bei den Ausscheidungsprüfungen und Stellenvergaben; er ist zwangsläufig in das Geheimnis ihrer Anwendung eingeweiht, da er nun einmal damit betraut ist. Selbst wenn er sich gegenüber dem Funktionieren des gesamten Apparates blind und taub stellen wollte – es genügt, dass er dessen Früchte empfängt: der Nutznießer des gesamten Unternehmens ist eben er.

Der Kolonisator und der Kolonisierte

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