Читать книгу Der Kolonisator und der Kolonisierte - Albert Memmi - Страница 7

Vorwort des Autors zur französischen Ausgabe von 1966

Оглавление

Diese Neuauflage widme ich meinen

franko-kanadischen Freunden, weil sie

sowohl Kanadier als auch Franzosen

sein wollen.

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, mir sei die ganze Bedeutung dieses Buches von Anfang an klar gewesen. Ich hatte einen ersten Roman geschrieben, La Statue de sel, die Lebensgeschichte einer Modellfigur, um zu versuchen, mich in meinem eigenen Leben zurechtzufinden. Aber die Unmöglichkeit eines menschenwürdigen Lebens im zeitgenössischen Nordafrika, die mir stattdessen klar wurde, bewog mich zu dem Versuch, den Ausweg in einer Mischehe zu suchen. Daraus wurde der Roman Agar, der mit einem erneuten Fehlschlag endete. Damals setzte ich große Hoffnungen auf das Paar, das für mich noch immer einen der dauerhaftesten Glückszustände des Menschen darstellt; vielleicht die einzig wirkliche Aufhebung der Einsamkeit. Aber am Ende entdeckte ich, dass auch das Paar keine isolierte Gemeinschaft ist, keine Oase der Erneuerung und des Vergessens inmitten der Welt; vielmehr enthielt es die ganze Welt in sich. Nun war dies für meine unglücklichen Helden die Welt der Kolonisation, und wenn ich das Scheitern ihres Abenteuers verstehen wollte, das eines gemischtrassischen Paares in einer Kolonie, musste ich den Kolonisator und den Kolonisierten verstehen, möglicherweise sogar das gesamte koloniale Verhältnis und die koloniale Situation. All das entfernte mich sehr weit von mir selbst und von meinen Lebensschwierigkeiten, aber die Auseinandersetzung kam immer wieder auf mich zu, und noch ohne zu wissen, wohin ich gelangen würde, und ohne den Anspruch, einen so komplexen Zustand ganz zu erfassen, musste ich zumindest ein Ende für meine Angst finden.

Ich müsste also gleichfalls lügen, wenn ich behaupten wollte, dieses »Porträt«, das ich schließlich von einem der bedeutendsten Unterdrückungsverhältnisse unserer Tage entworfen habe, sei von der Absicht geleitet worden, zunächst den Unterdrückten schlechthin zu zeichnen. Sicherlich werde ich eines Tages dieses allgemeine Bild des Unterdrückten liefern. Aber um genau zu sein, es müsste ein wirklich allgemeines Bild daraus werden, d.h. ein Porträt der Synthese, durch Überlagerung mehrerer Einzelzüge, mehrerer konkreter Porträts von verschiedenen Unterdrückten. Ein Bild des Unterdrückten schlechthin setzt meiner Meinung nach all diese Unterdrückten voraus, statt sie vorwegzunehmen, wie dies bestimmte Philosophen glauben, die ihre Konstruktion für ideale Schöpfungen ihres Geistes halten, mit denen sie dann die Wirklichkeit beherrschen möchten; dabei sind dies in den meisten Fällen Stilisierungen, denen keine Wirklichkeit entspricht. Jedenfalls hatte ich damals nicht die Absicht, alle Unterdrückten darzustellen, nicht einmal alle Kolonisierten. Ich war Tunesier und somit Kolonisierter. Ich entdeckte, dass es nur wenige Aspekte meines Lebens und meiner Person gab, auf die dieser Umstand keinen Einfluss hatte. Nicht nur mein Denken, meine persönlichen Vorlieben und mein Verhalten, sondern auch das Verhalten derer, mit denen ich zu tun hatte, war davon betroffen. Als ich als junger Student erstmals die Sorbonne besuchte, gab es Gerüchte, die mich beunruhigten. Hatte ich als Tunesier das Recht, meine »agrégation« in Philosophie einzureichen?* Ich fragte den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses. »Ein Recht ist es nicht«, erklärte er mir, »es ist eine Gunst.« Er zögerte und suchte als Jurist nach den exakten Begriffen. »Nehmen wir an, es sei eine koloniale Gunst.« Ich habe bis heute nicht verstanden, was das eigentlich bedeutete, aber ich konnte aus ihm nichts weiter herausbekommen, und man kann sich vorstellen, mit welcher Seelenruhe ich in der Folgezeit arbeitete. Kurz gesagt, ich habe diese Bestandsaufnahme der Lage des Kolonisierten vor allem deshalb unternommen, um mich selbst zu verstehen und meinen Platz unter den anderen Menschen zu finden. Es waren meine Dozenten – keineswegs alles Tunesier –, die mich später davon überzeugten, dass dieses Bild zugleich das ihre war. Es waren die Reisen, die Gespräche, die Auseinandersetzungen und die Lektüre zahlreicher Bücher, die mir im Verlauf meiner Arbeit immer mehr bestätigten, dass das, was ich geschildert hatte, das Los vieler Menschen überall auf der Welt ist.

Zugleich machte ich die Entdeckung, dass sich alle Kolonisierten im Grunde ähnlich waren; ich musste in der Folgezeit feststellen, dass überhaupt alle Unterdrückten bis zu einem bestimmten Punkt Ähnlichkeiten aufweisen. So weit war ich anfangs noch nicht, und teils aus Vorsicht, teils weil ich andere Sorgen im Kopf hatte, sparte ich mir diese Erkenntnis lieber auf, die ich heute für unleugbar halte. Doch in diesem Bild erkannten sich so viele unterschiedliche Menschen wieder, dass ich die Vorstellung aufgeben musste, es sei nur das meinige oder das des kolonisierten Tunesiers oder sogar Nordafrikaners allein. Man hat mir gesagt, die Kolonialpolizisten hätten dieses Buch fast überall in den Räumen der militanten Kolonisierten beschlagnahmt. Ich bin überzeugt, dass ich ihnen nichts anderes gegeben habe, als was sie bereits waren, was sie bereits gelebt haben. Aber indem sie ihre eigenen Gefühlsregungen, ihr Aufbegehren und ihre Forderungen wiedererkannten, gewannen diese in ihren Augen, so nehme ich an, eine neue Legitimität. Und so getreu auch die Beschreibung unserer gemeinsamen Erfahrungen sein mochte – die Leser waren davon vielleicht doch weniger betroffen als von deren innerem Zusammenhang, den ich ihnen gezeigt hatte. Als der Algerienkrieg kurz bevorstand und schließlich ausbrach, prophezeite ich für mich die zu erwartende Dynamik der Ereignisse und wagte es schließlich auch, sie öffentlich anzukündigen. Das koloniale Verhältnis, das ich darlegen wollte, kettete den Kolonisierten wie den Kolonisator in einer Art erbarmungsloser Abhängigkeit aneinander, formte ihre Charakterzüge und diktierte ihr Verhalten. Ebenso wie es eine deutliche Logik im wechselseitigen Verhalten der beiden Partner der Kolonisation gab, musste meiner Meinung nach ein zweiter Mechanismus, der sich aus dem ersten ergab, unerbittlich die Auflösung dieser Abhängigkeit vorantreiben. Insgesamt bestätigten die Ereignisse in Algerien dieses Muster, das ich in der Folgezeit so oft in der Sprengung anderer kolonialer Situationen wiedergefunden habe.

Jedenfalls fügte sich die Vielfalt von Ereignissen, die ich von Kindheit an erlebt hatte und die in ihrer äußeren Erscheinung oft unzusammenhängend und widersprüchlich waren, auf diese Weise zu dynamischen Konstellationen zusammen. Wie konnte der Kolonisator seine Arbeiter anständig behandeln und zugleich von Zeit zu Zeit in eine Menge von Kolonisierten schießen lassen? Wie konnte der Kolonisierte sich selbst so unerbittlich verneinen und zugleich in so maßloser Weise das Recht auf sich selbst fordern? Wie konnte er den Kolonisator verabscheuen und zugleich leidenschaftlich bewundern (jene Bewunderung, die ich trotz allem auch in mir verspürte)? Das war es, was ich vor allem für mich selbst brauchte: meine Gefühle und Gedanken in eine Ordnung und mein Verhalten mit ihnen vielleicht in Einklang zu bringen. Aufgrund meines Charakters und meiner Erziehung musste ich dies freilich mit aller Strenge tun und den Konsequenzen so weit wie möglich folgen. Wäre ich auf halbem Wege stehengeblieben, hätte ich nicht alle Tatsachen berücksichtigt, hätte ich nicht versucht, all diesem Material einen inneren Zusammenhang zu verleihen und daraus so lange Bilder zu rekonstruieren, bis sie zueinander passten, so wäre es mir wohl kaum gelungen, mich zu überzeugen, und ich wäre vor allem mit mir selbst unzufrieden geblieben. Aber zur gleichen Zeit begann ich zu ahnen, welche Hilfe für die Menschen im Kampf die einfache, aber genaue und systematische Beschreibung ihrer Nöte, ihrer Demütigung und ihres objektiven Zustands der Unterdrückung sein konnte. Ich begann zu ahnen, wie explosiv die Enthüllung einer ihrem Wesen nach explosiven Situation für das ungetrübte Bewusstsein des Kolonisierten wie des Kolonisators sein konnte. Als ob die Enthüllung einer gewissen Zwangsläufigkeit in ihren jeweiligen Marschrouten den Kampf immer notwendiger und jeden Versuch, den anderen aufzuhalten, immer verzweifelter machte. Kurz, das Buch war meinen Händen entglitten.

Darf ich gestehen, dass mich das etwas beunruhigt hat? Nach den eigentlichen Kolonisierten, den Algeriern, Marokkanern oder Schwarzafrikanern wurde es allmählich von anderen anerkannt, in Anspruch genommen und genutzt, die in anderer Weise beherrscht werden, wie manche südamerikanische Länder, die Japaner oder die Neger in den Vereinigten Staaten. Die letzten in dieser Reihe waren die Kanadier französischer Abstammung, die mir die Ehre erwiesen, dass sie glaubten, zahlreiche Muster ihrer eigenen Entfremdung darin wiederzufinden. Ich konnte das Leben dieses Buches nur mit Erstaunen beobachten, so wie ein Vater mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis seinen Sohn beobachtet, der dabei ist, sich einen Ruf zu erwerben, bei dem sich Beifall und Entrüstung mischen. Tatsächlich hatte dies nicht nur Vorteile, denn ein solcher Wirbel hat gerade dazu geführt, dass etliche Passagen übersehen wurden, die mir sehr am Herzen lagen. Dazu gehören die Ausführungen über das, was ich als Nero-Komplex bezeichnet habe; die Beschreibung des kolonialen Verhältnisses als objektiver Zustand, dem beide Partner der Kolonisation unterworfen sind; oder der Versuch einer Definition des Rassismus im Zusammenhang mit der Herrschaft einer Gruppe über eine andere; oder auch die Analyse des Scheiterns der europäischen Linken, insbesondere der kommunistischen Parteien, weil sie den nationalen Aspekt der kolonialen Befreiungsbewegungen unterschätzt hatten; und vor allem außer einem Porträt, das ich so abgeklärt wie nur möglich wollte, die Bedeutung und der unersetzliche Reichtum der gelebten Erfahrung.

Denn trotz allem denke ich immer noch, dass zumindest in meinen Augen der Wert dieses Unterfangens in seiner ursprünglichen Bescheidenheit und Besonderheit liegt, so dass nichts in diesem Buch auf Erfindungen und Spekulationen oder sogar auf willkürlichen Extrapolationen beruht. Es handelt sich an jeder Stelle um eine Erfahrung, die zwar stilisiert und in eine Form gebracht, aber hinter jedem einzelnen Satz verborgen ist. Und wenn ich schließlich einverstanden war mit diesem allgemeinen Gang, den das Unternehmen am Ende angenommen hat, so eben deshalb, weil ich weiß, dass ich für jede Zeile, jedes Wort zahlreiche und völlig konkrete Tatsachen beibringen könnte.

Aus diesem Grund hat man mir vorgeworfen, dass meine Porträts nicht gänzlich auf einen ökonomischen Unterbau gestellt sind, obwohl ich es oft genug wiederholt habe, dass der Begriff des Privilegs im Zentrum des Kolonialverhältnisses steht, ohne Zweifel ein ökonomisches Privileg. Und ich benutze die Gelegenheit, nochmals nachdrücklich zu bestätigen: für mich ist der wirtschaftliche Aspekt der Kolonisation grundlegend. Geht aus diesem Buch nicht die Anprangerung einer vorgeblich moralischen und kulturellen Mission der Kolonisation und der Nachweis hervor, dass in ihr der Begriff des Profits eine wesentliche Rolle spielt?* Habe ich nicht immer wieder betont, dass zahlreiche Formen der Verarmung des Kolonisierten das nahezu unmittelbare Resultat der Vorteile sind, die der Kolonisator dort vorfindet? Sehen wir nicht auch heute noch, wie die Entkolonisierung in bestimmten Ländern deshalb so mühselig vor sich geht, weil der Ex-Kolonisator auf seine Privilegien nicht wirklich verzichtet hat und hinterlistig versucht, sie wiederzugewinnen? Aber das koloniale Privileg ist nicht ausschließlich wirtschaftlicher Natur. Wenn man das Leben von Kolonisator und Kolonisiertem betrachtet, so entdeckt man rasch, dass die tägliche Erniedrigung des Kolonisierten und seine objektive Vernichtung nicht allein ökonomischer Art sind. Der permanente Triumph des Kolonisators liegt nicht nur in der Ökonomie. Der kleine, der armselige Kolonisator hielt sich nichtsdestoweniger für etwas Höheres als der Kolonisierte, und in gewissem Sinne war er das auch wirklich – objektiv und nicht nur in seiner Phantasie. Und das machte ebenso einen Teil des kolonialen Privilegs aus. Die Marxsche Entdeckung von der Bedeutung der Ökonomie innerhalb jedes Unterdrückungsverhältnisses steht außer Frage. Aber dieses Verhältnis enthält noch andere Eigenschaften, die sich meiner Ansicht nach im Kolonialverhältnis auffinden lassen.

Aber, so wird man erneut einwenden, laufen all diese Erscheinungen in letzter Instanz nicht auf einen mehr oder weniger verborgenen ökonomischen Aspekt hinaus? Oder anders: ist der ökonomische Aspekt nicht der primäre Faktor, der Motor der Kolonisation? Möglicherweise, aber das ist noch nicht einmal sicher. Im Grunde genommen wissen wir überhaupt nicht, was der Mensch letztlich ist, was für ihn das Wesentliche ist, das Geld, der Sex oder der Stolz, ob die Psychoanalyse gegenüber dem Marxismus recht behält oder ob das von den einzelnen Individuen und Gesellschaften abhängt. Bevor ich hierüber zu dieser letzten Instanz gelangte, wollte ich jedenfalls die ganze Komplexität jener Wirklichkeit darstellen, die vom Kolonisierten wie vom Kolonisator gelebt wird. Weder die Psychoanalyse noch der Marxismus können unter dem Vorwand, die Triebkraft oder eine der grundlegenden Triebkräfte des menschlichen Verhaltens entdeckt zu haben, das gesamte menschliche Erleben, alle Gefühle, alles Leiden, alle verborgenen Ursprünge des Verhaltens einfach hinwegfegen, um darin lediglich das Profitstreben oder den Ödipuskomplex zu sehen.

Ich möchte noch ein Beispiel anführen, das wahrscheinlich gegen mich sprechen wird. (Aber so verstehe ich meine Rolle als Schriftsteller: sie kann sich sogar gegen meine eigene Person kehren.) Diesem Porträt des Kolonisierten, das nun einmal so sehr das meinige ist, geht ein Porträt des Kolonisators voraus. Wie kann ich es mir erlauben, mit einer derart bedrückenden Lebensgeschichte in gleicher Weise auch das Bild meines Gegners zu zeichnen? An dieser Stelle muss ich ein spätes Eingeständnis machen: in Wahrheit kannte ich den Kolonisator fast ebenso gut und aus dem Inneren heraus. Das muss ich erklären. Ich sagte bereits, dass ich Tunesier bin. Wie alle Tunesier wurde ich demnach als Bürger zweiter Klasse behandelt, bestimmter politischer Rechte beraubt, hatte keinen Zugang zu den meisten Verwaltungspositionen, war zweisprachig aufgewachsen, meine Ausbildung lag lange Zeit im Ungewissen usw…., man wird all das in meinem Porträt des Kolonisierten lesen. Aber ich war kein Moslem. In einem Land, in dem so viele Gruppen von Menschen nebeneinander lebten, aber jede ängstlich darauf bedacht war, ihre Eigenart zu wahren, hatte das eine wesentliche Bedeutung. Vereinfacht ausgedrückt können wir sagen, dass der Jude ebenso viel mit dem Kolonisator wie mit dem Kolonisierten gemeinsam hatte. War er einerseits unleugbar Eingeborener, wie man damals sagte, dem Moslem denkbar nahe durch das unerträgliche Elend seiner Armen, durch seine Muttersprache (meine eigene Mutter sprach in ihrem ganzen Leben kein Wort Französisch), durch Gemüt und Gebräuche, die Vorliebe für dieselbe Musik und dieselben Wohlgerüche und eine fast identische Küche, versuchte er andererseits, sich hingebungsvoll mit dem Franzosen zu identifizieren. Mit einer großen, schwungvollen Bewegung, die ihn zum Okzident hin entriss, der ihm als Inbegriff aller eigentlichen Zivilisation und Bildung erschien, kehrte er dem Orient leichten Herzens den Rücken, wählte unwiderruflich die französische Sprache, kleidete sich nach italienischer Mode und übernahm höchst bereitwillig sogar die Ticks der Europäer. (Womit er übrigens versuchte, einer der Ambitionen eines jeden Kolonisierten zu folgen, der sich noch nicht für die Revolte entschieden hat.) Noch besser – oder schlechter, wie man will –, in dieser Pyramide kleiner Tyrannen, wie ich sie zu beschreiben versucht habe und die das Gerippe jeder Kolonialgesellschaft darstellt, fand sich der Jude um genau einen Rang höher als sein mohammedanischer Mitbürger. Sein Privileg war lächerlich, aber es reichte aus, ihm einigen Dünkel zu verleihen und in ihm die Hoffnung zu wecken, er stehe nicht auf derselben Stufe wie die Masse der muselmanischen Kolonisierten, die die unterste Ebene der Pyramide bildeten. Es genügte zugleich, dass er sich seit dem Tag bedroht fühlte, an dem das Gebäude zum ersten Mal wankte. Man hat das recht gut bei den Barrikadenkämpfen in Algier beobachten können, wo zahlreiche Juden Seite an Seite mit den »Piedsnoirs«* ihre Schüsse abfeuerten. Nebenbei gesagt ist auch mein Verhältnis zu meinen Glaubensgenossen nicht gerade erleichtert worden, als ich mich entschlossen hatte, die Kolonisierten zu unterstützen. Kurz, wenn ich es auch für unumgänglich hielt, die Kolonisation anzuprangern, obwohl sie für die meisten weniger drückend gewesen ist, habe ich doch diese widersprüchlichen Regungen gekannt, die ihre Gemüter bewegten. Schlug denn nicht auch mein eigenes Herz beim Anblick der kleinen blau-weiß-roten Fahne auf den Schiffen der »Compagnie Générale Transatlantique«, die den Hafen von Tunis mit Marseille verband?

All dies, um zu sagen, dass dieses Porträt des Kolonisators zum Teil auch das meinige war; nehmen wir an, ein Bild in geometrischer Projektion. Insbesondere bei der Schilderung des wohlwollenden Kolonisators habe ich mich von einer Gruppe von Philosophiedozenten in Tunis anregen lassen, meinen Kollegen und Freunden, deren Großherzigkeit außer Zweifel steht, leider aber auch ihre Ohnmacht, ihre Unfähigkeit, sich für das Gehör zu verschaffen, was in den Kolonien vor sich ging. Nun habe ich mich gerade unter ihnen am wohlsten gefühlt. Als ich mühsam daran arbeitete, die von der Kolonisation aufgerichteten Mythen zu zerstören, konnte ich da gegenüber den in der Brust des Kolonisierten entstandenen Gegenmythen nachsichtig sein? Gleich meinen Freunden musste ich über seine freilich unsichere Behauptung unwillkürlich lächeln, die andalusische Musik sei die schönste der Welt oder darüber, dass der Europäer durch und durch hartherzig und bösartig sei, man brauche nur zu beobachten, wie grob er mit seinen Kindern umgehe. Aber trotz ihres beträchtlichen guten Willens in den Augen des Kolonisierten und obwohl sie bereits von der übrigen französischen Kolonie geächtet waren, brachte ihnen das letztlich nur den Argwohn des Kolonisierten ein. Nun war mir all dies nur zu sehr vertraut; ihre Schwierigkeiten, ihr notwendiger Zwiespalt und die damit verbundene Isolierung und, was am schwersten wog, ihr Zaudern vor der Aktion, all das war zu einem großen Teil auch mein Schicksal. (Ich wurde eines Tages heftig beschimpft, weil ich es für sinnlos und gefährlich gehalten hatte, ein Gerücht weiterzugeben, das sich der Medina* bemächtigt hatte, wonach der diplomatische Vertreter Frankreichs wahnsinnig geworden sei.) Würde ich weiter gehen als sie? Im Grunde genommen verstand ich selbst den »Piednoir« mit seinen höchst einfachen Gefühlen und Gedanken, wenngleich ich sein Verhalten missbilligte. Ein Mensch ist das, was seine objektive Lage aus ihm macht, das habe ich oft genug wiederholt. Ich habe mich gefragt, ob es mir wirklich gelungen wäre, die Kolonisation ebenso nachdrücklich zu verurteilen, wenn ich mehr von ihr profitiert hätte. Ich würde mir das natürlich wünschen; aber allein schon deshalb, weil ich unter ihr kaum weniger gelitten habe als die anderen, habe ich einen genaueren Begriff von ihr bekommen. Kurz gesagt, noch der eingefleischteste und bornierteste »Piednoir« war im Grunde von Geburt aus mein Bruder. Das Leben hat uns unterschiedlich behandelt: er wurde als legitimer Sohn des Mutterlandes anerkannt, als Erbe des Privilegs, das er dann um jeden Preis verteidigte, selbst um den schändlichsten; ich war eine Art Mischling der Kolonisation, der jedermann verstand, weil er niemandem gänzlich zugehörte.

* * *

Noch ein Wort zum Schluss dieses neuen Vorworts, das schon zu lang geraten ist. Dieses Buch hat bei seinem Erscheinen ebenso viel Unruhe und Wut wie Begeisterung hervorgerufen. Einerseits hat man darin eine unverschämte Provokation gesehen, andererseits ein Wegzeichen. Alle Welt war sich darin einig, das Buch als eine Waffe, als ein Werkzeug im Kampf gegen die Kolonisation zu kennzeichnen; das ist es allerdings geworden. Aber nichts scheint mir lächerlicher, als sich mit einem geborgten Mut und mit Heldentaten zu brüsten, die man nie begangen hat: ich habe diesen Text ziemlich unbefangen abgefasst, ich wollte einfach zunächst das koloniale Verhältnis verstehen, in das ich so fest verstrickt war. Nicht dass ich diese Philosophie nie gehabt hätte, die meiner Untersuchung zugrunde liegt und in gewisser Weise meinem Leben Farbe gibt. Ich bin bedingungslos gegen jede Form von Unterdrückung; ich sehe in ihr die Hauptgeißel der Menschheit, die die besten Kräfte des Menschen in eine falsche Richtung lenkt und verdirbt, überdies nicht nur die des Unterdrückten, sondern auch des Unterdrückers, denn man wird beides erleben: ebenso wie die Kolonisation den Kolonisierten zerstört, so zersetzt sie auch den Kolonisator. Aber das war eigentlich nicht die Absicht meines Buches. Die Wirkung dieses Textes hat sich in gewisser Weise während seines Entstehens eingestellt, und zwar allein durch die Tugend der Wahrheit. Das heißt, dass es wahrscheinlich genügt hat, möglichst genau das Kolonialverhältnis, die Art und Weise, wie der Kolonisator notwendig handeln musste, und die allmähliche und unerbittliche Zerstörung des Kolonisierten zu beschreiben, um die absolute Ungerechtigkeit der Kolonisation ans Licht zu bringen und zugleich ihre fundamentale Instabilität zu enthüllen und ihr Ende vorauszusagen.

Das einzige Verdienst, das ich mir demnach zurechne, besteht darin, dass ich versucht habe, jenseits meines eigenen Unglücks Rechenschaft abzulegen über einen Aspekt der menschlichen Wirklichkeit, der unerträglich und deshalb unannehmbar ist und der zwangsläufig immer neue Erschütterungen auslöst, unter denen alle bis ins Innerste zu leiden haben. Ich wünschte, dieses Buch würde nicht länger als Ärgernis angesehen, sondern es würden ruhige Überlegungen angestellt, warum diese Schlussfolgerungen, die sich mir aufgedrängt haben, weiterhin von so vielen Menschen spontan nachvollzogen werden, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Liegt das nicht einfach daran, dass diese beiden Porträts, die ich versuchsweise entworfen habe, schlicht ihre Modelle getreu wiedergeben, die meines vorgehaltenen Spiegels nicht bedürfen, um sich wiederzuerkennen, um ganz von sich aus den richtigen Weg in ihrem elenden Leben zu entdecken? Die hartnäckige Verwechslung zwischen dem Künstler und seinem Gegenstand ist bekannt (was wohl eines der Anzeichen für unsere fortwährende Barbarei, unser verzweifelt magisches Denken ist). Statt sich über die Äußerungen der Schriftsteller aufzuregen und ihnen vorzuwerfen, dass sie eine Unordnung schaffen wollen, die von ihnen lediglich beschrieben und prophezeit wird, täte man besser daran, ihnen aufmerksamer zuzuhören und ihre warnenden Hinweise ernster zu nehmen. Bin ich denn am Ende nicht im Recht, wenn ich jetzt, nach so vielen verheerenden und vergeblichen Kolonialkriegen und da sich Frankreich heute zum Vorkämpfer der Entkolonialisierung auf der Welt macht, meine, dass dieses Buch für den Kolonisator ebenso nützlich hätte sein können wie für den Kolonisierten?

Albert Memmi

Paris, Februar 1966

*Prüfung zur Erlangung der Lehrbefähigung an Schulen und/oder Universitäten in Frankreich (A. d. Ü.).

*»Die Kolonisation, das ist vor allem eine ökonomisch-politische Ausbeutung.« S. 125

*Die in Algerien geborenen und aufgewachsenen Franzosen (A.d.Ü.)

*Mohammedanischer Teil der Stadt (A.d.Ü.)

Der Kolonisator und der Kolonisierte

Подняться наверх