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1. Gibt es den Kolonialisten? Der Sinn des Aufbruchs in die Kolonien

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Hier und da wird der Kolonisator gern noch als ein hochgewachsener Mann mit sonnengebräunter Haut, in Stiefeln und auf eine Schaufel gestützt dargestellt – denn er verschmäht es keineswegs, selbst Hand anzulegen, während sein Blick in die Ferne auf den Horizont seiner Ländereien gerichtet ist; inmitten zweier Handlungen gegen die Natur kümmert er sich um die Menschen, pflegt die Kranken und verbreitet die Kultur, kurz, ein edler Abenteurer, ein Pionier.

Ich weiß nicht, ob diesem naiven Klischee jemals eine gewisse Realität entsprochen hat oder ob es nur als Bildchen auf den kolonialen Banknoten vorkommt. Die wirtschaftlichen Motive des Kolonialunternehmens werden heute von allen Geschichtsschreibern des Kolonialismus ins Licht gerückt, kein Mensch glaubt mehr an die kulturelle und moralische Mission des Kolonisators, nicht einmal in den historischen Anfängen. Jedenfalls ist in unseren Tagen der Aufbruch in die Kolonie nicht die Entscheidung für einen ungewissen Kampf, der gerade um seiner Gefahren willen gesucht wird, es ist nicht die Versuchung des Abenteuers, sondern die der Bequemlichkeit.

Man braucht übrigens nur den Europäer über die Kolonien zu befragen: was hat ihn dazu bewogen, das Heimatland zu verlassen und vor allem, was hat ihn veranlasst, im Exil auszuharren? Zuweilen spricht er auch von Abenteuer, vom Pittoresken und Fremdartigen. Aber warum hat er dies nicht in Arabien oder einfach in Zentraleuropa gesucht, wo man nicht seine eigene Sprache spricht, wo er nicht auf eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe seiner Landsleute trifft, auf eine Verwaltung, die ihm dient und eine Armee, die ihn schützt? Ein solches Abenteuer hätte mehr an Unvorhergesehenem bereitgehalten; aber dieses Fremdartige wäre für ihn dort zwar sicherer und echter, doch von zweifelhaftem Gewinn gewesen: das Fremdartige an der Kolonie, sofern es das für ihn überhaupt gibt, muss sich in allererster Linie rentieren. Unbefangen und präziser als die Sprachakrobaten wird unser Reisender uns die beste Definition anbieten, die es für »Kolonie« gibt: man verdient dort mehr und gibt weniger aus. Man begibt sich in die Kolonie, weil die Situationen dort gesichert, die Gehälter höher, die Karrieren steiler und die Geschäfte einträglicher sind. Dem frischgebackenen Universitätsabsolventen hat man eine Stelle angeboten, dem Beamten die Einstufung in eine höhere Besoldungsgruppe, dem Geschäftsmann beträchtliche Steuererleichterungen und dem Industriellen Rohstoffe und Arbeitskräfte zu ungewöhnlich niedrigen Löhnen.

Aber nehmen wir einmal an, dass es diesen naiven Reisenden wirklich gibt, der genauso zufällig in der Kolonie landet, wie er auch in Toulouse oder Colmar hätte ankommen können.

Wird er sehr lange brauchen, um die Vorteile seiner neuen Situation zu sehen? Auch wenn er erst im Nachhinein entdeckt wird, so drängt sich der ökonomische Sinn des Aufbruchs in die Kolonien kaum weniger stark oder schnell auf. Der Europäer in den Kolonien mag sicherlich auch die neue Landschaft lieben und das Malerische ihrer Gebräuche genießen. Wenn ihn jedoch das Klima abschrecken würde, wenn er sich inmitten dieser fremdartig gekleideten Menschenmassen unbehaglich fühlen und seiner Heimat nachtrauern würde, dann stellte sich das Problem, ob diese Widrigkeiten und Unannehmlichkeiten für die Vorteile der Kolonie in Kauf genommen werden sollen oder nicht.

Bald verhehlt er es nicht länger, überall kann man ihn vernehmlich träumen hören: noch ein paar Jahre, und er wird sich ein Haus im Mutterland kaufen … alles in allem eine Art Fegefeuer, aber eines, das sich auszahlt. Von jetzt an reicht es ihm zwar, das Exotische hat er satt, und manchmal wird er krank, aber er klammert sich an dieses Land – er steckt in der Falle bis zur Pensionierung oder sogar bis zu seinem Tod. Warum sollte er ins Mutterland zurückgehen, wo er seinen Lebensstandard auf die Hälfte reduzieren müsste? Wieder zurück in die Metropole, wo es mit den Beförderungen so quälend lange dauert? …

Als in den letzten Jahren die Geschichte in Bewegung geraten war und das Leben für die Kolonisatoren schwieriger und oft gefährlich wurde, da war es diese einfache, keinen Einwand duldende Rechnung, die sie zurückgehalten hat. Selbst diejenigen, die in der Kolonie als Zugvögel bezeichnet werden, haben keine übertriebene Eile an den Tag gelegt, abzureisen. Einige, die eine Rückkehr erwogen, fürchteten plötzlich überraschend eine neue Fremdartigkeit: sich in ihrer ursprünglichen Heimat wiederzufinden. Man kann ihnen ein Stück weit glauben; sie haben ihr Land vor so langer Zeit verlassen, dass mit ihm keine freundschaftlichen Verbindungen mehr bestehen, ihre Kinder sind in der Kolonie geboren, und dort haben sie auch ihre Toten begraben. Aber sie übertreiben ihren Trennungsschmerz. Sie haben sich zwar mit ihren täglichen Gewohnheiten innerhalb der Kolonialbevölkerung eingerichtet, aber sie haben ihr auch die Sitten des Mutterlandes mitgebracht und auferlegt, jenes Mutterlandes, in dem sie regelmäßig die Ferien verbringen, aus dem sie ihre verwaltungstechnischen, politischen und kulturellen Anregungen beziehen und auf das ihre Augen unverändert gerichtet bleiben. Im Grunde genommen ist ihr Gefühl des Fremdseins wirtschaftlicher Art, nämlich das des Neureichen, der Gefahr läuft, zu verarmen.

Deshalb werden sie so lange wie möglich ausharren, denn je mehr Zeit vergeht, um so länger dauern die Vorteile, die wohl einige Beunruhigungen wert sind und die man in jedem Fall zu früh verlieren wird. Aber erst wenn eines Tages die Wirtschaft betroffen ist, wenn die »Lage«, wie man sagt, wirklich gefährlich wird, erst dann fühlt sich der Kolonisator bedroht und denkt daran, diesmal ernsthaft, in die Metropole zurückzukehren.

Auf der kollektiven Ebene liegt die Angelegenheit noch klarer. Die kolonialen Unternehmungen haben nie einen anderen erklärten Sinn gehabt. Während der französisch-tunesischen Verhandlungen haben sich einige Unbedarfte über den relativ guten Willen der französischen Regierung insbesondere im kulturellen Bereich gewundert, aber auch über die insgesamt schnelle Nachgiebigkeit der Herren der Kolonie. Die klugen Köpfe der Bourgeoisie und der Kolonie hatten eben erkannt, dass das wesentliche an der Kolonisation weder das Prestige einer Fahne ist noch die kulturelle Expansion, ja nicht einmal die Leitung der Verwaltung oder das Wohlergehen eines Beamtenkörpers. Die Naiven wundern sich darüber, dass man in allem Zugeständnisse machen konnte, solange die Basis, d.h. die ökonomischen Vorteile, erhalten blieb. Und wenn Herr Mèndes-France seine berühmte Blitzreise unternehmen konnte, so geschah dies mit ihrem Segen und unter dem Schutz eines der ihren. Genau das war sein Programm und der wichtigste Inhalt der Abkommen.

Der Kolonisator und der Kolonisierte

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