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Jean-Paul Sartre
Vorwort

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Nur der Südstaatler ist befugt, sich über Sklaverei zu äußern: er kennt den Neger*; die Leute im Norden, abstrakt denkende Puritaner, kennen nur den Menschen an sich. Dies schöne Argument erfüllt stets noch seinen Zweck: in Houston, in der Presse von New Orleans und endlich – immer ist man irgend jemandes Nordstaatler – im »französischen« Algerien; da werden die Zeitungen nicht müde, uns zu versichern, dass einzig der Kolonisator qualifiziert sei, über die Kolonie zu sprechen: wir, die Bewohner des Mutterlandes, verfügen nicht über seine Erfahrung; wir müssen Afrikas brennende Erde durch seine Augen sehen, oder wir sehen dort nichts als Flammen.

Leuten, die sich von solcher Erpressung einschüchtern lassen, empfehle ich, das Buch Der Kolonisator und der Kolonisierte zu lesen. Hier steht Erfahrung gegen Erfahrung: der Autor, ein Tunesier, hat in La Statue de sel (dt. Die Salzsäule) seine harte Jugend erzählt. Was ist er nun in Wahrheit? Kolonisator oder Kolonisierter? Er selbst würde sagen: weder das eine noch das andere; Sie vielleicht: sowohl das eine wie das andere; im Grunde kommt es auf dasselbe hinaus. Er gehört einer jener eingeborenen, aber nicht islamischen Gruppen an, die, »mehr oder minder begünstigt im Verhältnis zu den kolonisierten Massen … sich ausgeschlossen sehen … von der kolonisierenden Gruppe«, die ihren Bemühungen, sich in die europäische Gesellschaft zu integrieren, immerhin »nicht ablehnend gegenübersteht«. De facto mit dem Subproletariat solidarisch, durch magere Privilegien von ihm getrennt, befinden sich jene Individuen in einer permanenten Malaise. Memmi hat diese doppelte Solidarität und diese doppelte Zurückweisung erfahren: die Spannung, die die Kolonisatoren den Kolonisierten und die »sich selbst verneinenden Kolonisatoren« den »sich selbst bejahenden Kolonisatoren« entgegenstellt. Er hat sie so gut verstanden, weil er sie zuerst als seinen eigenen Widerspruch erfahren hat. Er zeigt in seinem Buch vortrefflich, dass diese seelischen Zerrissenheiten, bloße Verinnerlichungen der sozialen Konflikte, einen nicht zum Handeln disponieren. Derjenige aber, der darunter leidet, kann, wenn er sich seiner selbst bewusst wird, wenn er sein Komplizentum, seine Versuchungen und seine Ausgeschlossenheit erkennt, andere aufklären, indem er von sich selbst spricht: als »belangloser Faktor innerhalb der Konfrontierung« repräsentiert dieser Verdächtige niemanden; da er aber zugleich ist, was alle sind, spricht er als zuverlässiger Zeuge.

Aber Memmis Buch erzählt nicht; wenn es sich von Erinnerungen nährt, so hat es sie ganz assimiliert; es ist formgewordene Erfahrung; zwischen der rassistischen Usurpation der Kolonisatoren und der künftigen Nation, die die Kolonisierten schaffen werden und von der »er vermutet, dass er in ihr keinen Platz haben wird«, versucht er, seine Partikularität zu leben, indem er sie in Richtung auf das Universale überschreitet. Nicht auf den Menschen, der noch nicht existiert, sondern auf eine strenge Vernunft hin, die sich für alle als zwingend erweist. Dieses nüchterne und klare Werk reiht sich ein unter die »leidenschaftlichen Geometrien«; seine ruhige Objektivität ist überwundenes Leiden und Aufbegehren.

Deshalb wohl auch kann man ihm einen Anflug von Idealismus zum Vorwurf machen: gewiss wird alles gesagt, doch kann man die Reihenfolge bekritteln. So wäre es vielleicht besser gewesen, zu zeigen, wie der Kolonialist und sein Opfer gleichermaßen im Räderwerk des kolonialen Apparats stecken, jener schweren Maschine, die gegen Ende des Zweiten Kaiserreichs und in der Dritten Republik konstruiert wurde und sich nun, nachdem sie die Kolonialherren voll zufriedengestellt hat, gegen sie kehrt und sie zu zermalmen droht. Tatsächlich ist der Rassismus dem System immanent: die Kolonie verkauft Lebensmittel und Rohstoffe billig ans Mutterland und kauft dafür teure Fertigprodukte. Dieser sonderbare Handel ist nur dann für beide Teile profitabel, wenn der Eingeborene für nichts oder fast nichts arbeitet. Das ländliche Subproletariat kann nicht einmal auf die Benachteiligtesten unter den Europäern als Verbündete zählen: alle leben von ihm, selbst noch die »kleinen Kolonisatoren«, die, obwohl von den Großgrundbesitzern ausgebeutet, im Vergleich zu den Algeriern noch Privilegierte sind: das Durchschnittseinkommen der Algerienfranzosen ist zehnmal so groß wie das der Araber. Daher die Spannung. Damit Löhne und Lebenshaltungskosten möglichst niedrig bleiben, bedarf es einer heftigen Konkurrenz der eingeborenen Arbeiter untereinander, also einer Steigerung der Geburtenrate; da aber die Ressourcen des Landes durch die koloniale Usurpation begrenzt sind, sinkt bei gleichbleibenden Löhnen der Lebensstandard des Moslems unablässig, und die Bevölkerung lebt im Zustand permanenter Unterernährung. Die Eroberung geschah durch Gewalt; die Überausbeutung und die Unterdrückung erfordern die Aufrechterhaltung der Gewalt, also die Anwesenheit der Armee. Nun gäbe es da keinen Widerspruch, wenn überall auf der Welt der Terror herrschte: aber der Kolonisator erfreut sich drüben im Mutterland der demokratischen Rechte, die das Kolonialsystem den Kolonisierten verweigert: tatsächlich ist es das System, das das Anwachsen der Bevölkerung begünstigt, um den Preis der Arbeitskraft zu senken, und das System ist es auch, das die Assimilierung der Eingeborenen verbietet: hätten sie das Wahlrecht, würde ihre zahlenmäßige Überlegenheit das System augenblicklich sprengen. Der Kolonialismus verweigert die Menschenrechte Menschen, die er gewaltsam in Elend und Unwissenheit, also, wie Marx sagen würde, im Zustande des »Untermenschentums« hält. Den Fakten selbst, den Institutionen, der Art des Tausches und der Produktion ist der Rassismus immanent; der politische und der soziale Status stärken einander wechselseitig: da der Eingeborene ein Untermensch ist, betrifft die Erklärung der Menschenrechte ihn nicht; umgekehrt ist er, da er die Rechte nicht hat, schutzlos den unmenschlichen Kräften der Natur ausgesetzt, den »ehernen Gesetzen« der Wirtschaft. Der Rassismus ist bereits da, getragen von der kolonialistischen Praxis, in jedem Augenblick erzeugt durch den kolonialen Apparat und unterhalten durch Produktionsverhältnisse, die zwei Arten von Individuen unterscheiden: für die einen bilden das Privileg und das Menschsein eine Einheit; sie werden Menschen durch den freien Gebrauch ihrer Rechte; bei den anderen wird durch die Rechtlosigkeit ihr Elend, ihr chronischer Hunger, ihre Unwissenheit, kurz, das Untermenschentum sanktioniert. Ich habe immer gedacht, dass die Ideen sich in den Dingen abzeichnen und dass sie schon im Menschen sind, wenn er ihnen Form gibt, um sich seine Situation zu erklären. Der »Konservatismus« des Kolonisators, sein »Rassismus«, die ambivalenten Beziehungen zum Mutterland, all das ist im Voraus gegeben, schon ehe es sich im »Nero-Komplex« manifestiert. Memmi würde mir wahrscheinlich erwidern, er sage nichts anderes – das weiß ich*; im übrigen ist möglicherweise er es, der recht hat: indem er seine Ideen in der Reihenfolge ihrer Entdeckung, das heißt ausgehend von menschlichen Intentionen und gelebten Beziehungen darstellt, gewährleistet er die Authentizität seiner Erfahrungen: er hat zuerst in seinen Beziehungen zu den anderen, in seinen Beziehungen zu sich selbst gelitten; er ist, indem er den Widerspruch, der ihn zerriss, vertiefte, auf die objektive Struktur gestoßen; und er liefert sie uns ohne Zutaten, roh, noch ganz durchdrungen von seiner Subjektivität.

Doch lassen wir die Krittelei. Das Werk etabliert einige zwingende Wahrheiten. Zunächst die, dass es weder gute noch böse Kolonisatoren gibt: es gibt Kolonisatoren. Einige von ihnen verneinen ihre objektive Realität: durch den kolonialen Apparat trainiert, führen sie täglich in der Tat aus, was sie im Traum verdammen, und jede ihrer Handlungen trägt dazu bei, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten; sie werden nichts ändern, niemandem nutzen und in der Malaise moralischen Trost finden, das ist alles.

Die anderen – und das ist die Mehrzahl – beginnen oder enden damit, sich selbst zu bejahen.

Memmi hat die Folge der Schritte, die zur »Selbst-Absolution« führen, hervorragend beschrieben. Der Konservatismus hat die Auslese der Mittelmäßigen zur Folge. Wie kann sie ihre Privilegien begründen, diese ihrer Mittelmäßigkeit bewusste Elite von Usurpatoren? Einziges Mittel: den Kolonisierten erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen; den Eingeborenen den Status von Menschen absprechen, sie als bloße Privationen definieren. Das wird nicht schwerfallen, da ja gerade das System ihnen alles vorenthält; die kolonialistische Praxis hat die koloniale Idee den Dingen selbst aufgeprägt; es ist der Lauf der Dinge, der zugleich den Kolonisator und den Kolonisierten hervorbringt. So rechtfertigt sich die Unterdrückung durch sich selbst: die Unterdrücker schaffen und erhalten mit Gewalt die Übel, die in ihren Augen den Unterdrückten mehr und mehr zu dem machen, was er sein müsste, um sein Schicksal zu verdienen. Der Kolonisator kann sich die Absolution nur erteilen, wenn er systematisch die «Entmenschlichung« des Kolonisierten betreibt, das heißt, wenn er sich jeden Tag etwas mehr mit dem Kolonialapparat identifiziert. Der Terror und die Ausbeutung entmenschlichen, und der Ausbeuter ermächtigt sich selbst zu dieser Entmenschlichung, um weiter ausbeuten zu können. Die Maschine dreht sich im Kreis; unmöglich, die Idee von der Praxis und die Praxis von der objektiven Notwendigkeit zu unterscheiden. Diese Momente des Kolonialismus bedingen sich bald gegenseitig, bald gehen sie ineinander auf. Die Unterdrückung, das ist zunächst der Hass des Unterdrückers gegen den Unterdrückten. Nur eins steht dessen leibhaftiger Vernichtung im Wege: der Kolonialismus selbst. Hier stößt der Kolonisator auf seine eigene Widersprüchlichkeit: mit dem Kolonisierten würde die Kolonialherrschaft verschwinden, der Kolonisator inbegriffen. Wo es kein Subproletariat mehr gibt, da gibt es keine Überausbeutung mehr: man würde in die gewöhnlichen Formen der kapitalistischen Ausbeutung zurücksinken; die Löhne und Preise würden sich nach denen des Mutterlandes richten: es wäre der Ruin. Das System erfordert gleichzeitig den Tod und die Vermehrung seiner Opfer; jede Veränderung träfe es tödlich: ob man die Eingeborenen assimiliert oder massakriert, der Preis der Arbeitskraft wird fortwährend ansteigen. Die schwerfällige Maschine hält diejenigen, die gezwungen werden, sie in Gang zu halten, zwischen Leben und Tod – immer näher am Tod als am Leben; eine versteinerte Ideologie bemüht sich, Menschen als sprechende Tiere zu betrachten. Vergeblich: um ihnen Befehle geben zu können, und seien sie noch so hart, noch so beleidigend, muss man sie zuvor anerkennen; und da man sie nicht ununterbrochen bewachen kann, muss man sich wohl oder übel entschließen, ihnen zu vertrauen: niemand kann einen Menschen »wie einen Hund« behandeln, wenn er ihn nicht zuvor als Menschen anerkannt hat. Die unmögliche Entmenschlichung des Unterdrückten verkehrt sich in die Selbstentfremdung des Unterdrückers: er ist es, er selbst, der durch seine geringste Geste das Menschsein wieder hervorruft, das er zerstören möchte; und da er es bei den anderen verneint, muss er sich selbst versteinern, muss die Trägheit und Undurchdringlichkeit eines Felsblocks annehmen, muss, kurzum, sich seinerseits »entmenschlichen«.

Eine unerbittliche Wechselseitigkeit fesselt den Kolonisator an den Kolonisierten, sein Produkt und sein Los. Memmi hat das deutlich herausgestellt; wir entdecken mit ihm, dass das Kolonialsystem eine gegen die vorige Jahrhundertmitte entstandene Bewegung ist, die ihre eigene Zerstörung von selbst bewerkstelligen wird: lange schon kostet sie die Mutterländer mehr als sie ihnen einbringt: Frankreich wird erdrückt von der Last Algerien, und wir wissen jetzt, dass wir den Krieg aufgeben werden, ohne Sieg oder Niederlage, wenn wir zu arm sein werden, um ihn zu bezahlen. Aber vor allem anderen ist es die mechanische Starre des Apparats, die im Begriff ist, diesen zu zerstören: die alten Gesellschaftsstrukturen sind pulverisiert, die Eingeborenen »atomisiert«, und die koloniale Gesellschaft kann sie nicht integrieren, ohne sich selbst zu zerstören; sie werden also ihre Einheit gegen sie wiedergewinnen müssen. Diese Ausgeschlossenen werden ihren Ausschluss im Namen des nationalen Selbstbewusstseins fordern: es ist der Kolonialismus, der den Patriotismus der Kolonisierten hervorbringt. Diesen von einem Unterdrückungssystem auf dem Niveau von Tieren gehaltenen Menschen gewährt man keinerlei Recht, nicht einmal das Recht zu leben, und ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich mit jedem Tag: wenn einem Volk nichts mehr bleibt als die Wahl seiner Todesart, wenn es von seinen Unterdrückern nur ein einziges Geschenk bekommen hat, die Verzweiflung –was hat es dann noch zu verlieren? Gerade aus seinem Unglück wird ihm sein Mut kommen; die ewige Zurückweisung, die die Kolonisation ihm entgegensetzt, wird es mit der absoluten Zurückweisung der Kolonialherrschaft erwidern. Das Geheimnis des Proletariats, hat Marx einmal gesagt, liegt darin, dass es die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft in sich birgt. Man muss Memmi dankbar sein, dass er uns daran erinnert hat: auch der Kolonisierte hat sein Geheimnis, und wir wohnen dem gräulichen Todeskampf des Kolonialismus bei.

*Sartre benutzt hier die Sprache des Kolonisators. Diese zu ändern, wäre eine Verfälschung. Auch insgesamt folgt der Text der dt. Erstausgabe. (A.d.Verl.)

*Schreibt er nicht: »Die koloniale Situation erzeugt ebenso Kolonialisten, wie sie Kolonisierte hervorbringt«? Der ganze Unterschied zwischen uns liegt vielleicht darin, dass er eine Situation sieht, wo ich ein System sehe.

Der Kolonisator und der Kolonisierte

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