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Andere Mystifizierte der Kolonisation

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Und es ist abermals ihre konkrete, ökonomische, psychologische Situation innerhalb des kolonialen Komplexes, einerseits gegenüber den Kolonisierten, andererseits den Kolonisatoren, die etwas über den Charakter der anderen Bevölkerungsgruppen aussagt, über jene, die weder Kolonisatoren noch Kolonisierte sind: die Staatsangehörigen der anderen Mächte (Italiener und Malteser in Tunesien), die Anwärter auf eine Assimilierung (die Mehrheit der Juden) und die in neuerer Zeit Assimilierten (Korsen in Tunesien, Spanier in Algerien). Man könnte noch die Behördenangestellten hinzufügen, die aus den Kolonisierten selbst rekrutiert worden sind.

Die Armut der Italiener oder der Malteser ist so groß, dass es lächerlich scheinen mag, bei ihnen von Privilegien zu sprechen. Aber wenn sie auch oft genug schlimm dran sind, so tragen doch die wenigen Brosamen, die man ihnen achtlos hinwirft, dazu bei, sie aufzuspalten und tatsächlich von den Kolonisierten zu trennen. Mehr oder weniger im Vorteil gegenüber den kolonisierten Massen, zeigen sie eine Tendenz, ihnen gegenüber ähnliche Beziehungen herzustellen, wie sie zwischen Kolonisator und Kolonisiertem bestehen. Zugleich sind sie keineswegs identisch mit der Gruppe der Kolonisatoren, haben in dem kolonialen Komplex nicht dieselben Funktionen und unterscheiden sich von dieser Gruppe auf je spezifische Weise.

All diese Nuancen werden unmittelbar deutlich, sobald man das Verhältnis dieser Personen zur kolonialen Situation untersucht. Wenn die Italiener in Tunesien die Franzosen auch immer um ihre Privilegien in Justiz und Verwaltung beneidet haben, so sind sie dennoch in einer besseren Lage als die Kolonisierten. Sie stehen unter dem Schutz internationaler Gesetze und eines durchaus aktiven Konsulats, ständig unter den wachsamen Augen der Metropole. Vom Kolonisator alles andere als ablehnend behandelt, sind oft sie es, die sich lange Zeit nicht entscheiden können zwischen der Assimilierung und der Treue zu ihrem Heimatland. Schließlich sind es dieselbe europäische Herkunft, eine gemeinsame Religion und zumeist dieselben Sitten, die sie gefühlsmäßig dem Kolonisator näherbringen. Aus all dem resultieren am Ende gewisse Vorteile, die der Kolonisierte zweifellos nicht genießt: eine erleichterte Stellensuche, eine weniger große Ungesichertheit gegenüber Not und Krankheit und eine weniger ungewisse Schulbildung für die Kinder; schließlich auch bestimmte Rücksichten von Seiten des Kolonisators, eine weitgehend respektierte Menschenwürde. Man wird verstehen, dass sie – obwohl theoretisch ebenfalls benachteiligt – gegenüber dem Kolonisierten bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen, die sie mit dem Kolonisator gemein haben.

Gegenbeweis: die Italiener, die aufgrund ihrer Verwandtschaft zweiten Grades mit dem Kolonisator von der Kolonisation nur aus zweiter Hand profitieren, stehen den Kolonisierten sicherlich näher als den Franzosen. Sie unterhalten mit ihnen nicht diese gezwungenen, förmlichen Beziehungen, sie haben nicht diesen Ton an sich, aus dem immer der Herr herausklingt, der sich an seine Sklaven wendet, ein Ton, von dem sich der Franzose überhaupt nicht freimachen kann. Im Gegensatz zu den Franzosen sprechen die Italiener fast alle die Sprache des Kolonisierten, pflegen mit ihnen dauerhafte Freundschaften, und, ein besonders aufschlussreiches Merkmal, sie gehen auch Mischehen mit ihnen ein. Kurz gesagt, die Italiener, die darin keinen besonderen Vorteil zu sehen vermögen, halten nicht auf große Distanz zwischen sich und den Kolonisierten. Dasselbe Resultat würde sich, um nur einige Nuancen verschoben, auch bei den Maltesern ergeben.

Die Situation der Juden – ewig schwankende und erfolglose Anwärter auf eine Assimilierung – lässt sich unter einem ähnlichen Aspekt sehen. Ihr beständiger und nur zu berechtigter Ehrgeiz dient dem Ziel, ihrer Lage als Kolonisierte zu entrinnen, eine zusätzliche Last in einer ohnehin drückenden Situation. Deshalb bemühen sie sich, dem Kolonisator zu gleichen, in der offen geäußerten Hoffnung, dass er in ihnen nicht länger etwas anderes als sich selbst sehen möge. Daher ihre Versuche, die Vergangenheit zu vergessen und gemeinsame Gewohnheiten abzulegen, daher ihre enthusiastische Übernahme der Sprache, der Kultur und der Sitten des Okzidents. Der Kolonisator weist zwar diese Aspiranten auf einen Platz unter seinesgleichen nicht immer offen zurück, aber er hat ihnen auch noch nie gestattet, einen solchen Platz zu erobern. So leben sie in einem schmerzlichen und beständigen Zwiespalt. Vom Kolonisator nicht angenommen, teilen sie manches von der konkreten Situation des Kolonisierten und sind mit ihm tatsächlich in vieler Hinsicht solidarisch, aber im Übrigen lehnen sie die Werte des Kolonisierten ab, als gehöre dieser einer untergehenden Welt an, der sie mit der Zeit zu entrinnen hoffen.

Die seit kurzem Assimilierten sind im Allgemeinen weitab vom durchschnittlichen Kolonisator anzusiedeln. Jeder von ihnen möchte den anderen als Kolonisator übertrumpfen; sie tragen eine stolze Verachtung des Kolonisierten zur Schau und kehren beständig ihren erborgten Adel heraus, was häufig ihre bürgerliche Rohheit und ihre Gier kaschieren soll. Noch zu unsicher im Umgang mit ihren Privilegien, können sie diese nur in Angst genießen und verteidigen sie besonders erbittert. Und wenn die Kolonisation einmal in Gefahr gerät, so stellen sie deren tatkräftigste Verteidiger, ihre Stoßtruppen und hier und da auch ihre Provokateure. Jene Kolonisierten, die eine Position unter den Behördenangestellten, Führungskräften, Polizisten oder als Kaid* usw. erlangt haben, bilden eine Gruppe, die das Ziel verfolgt, ihrer politischen und gesellschaftlichen Situation zu entfliehen. Indem sie sich jedoch entscheiden, zu diesem Zweck in den Dienst des Kolonialherren zu treten und ausschließlich seine Interessen zu verteidigen, übernehmen sie am Ende auch seine Ideologie, sogar den eigenen Leuten und sich selbst gegenüber.

Sie alle schließlich, die mehr oder weniger mystifiziert, mehr oder weniger Nutznießer sind, sie werden so weit missbraucht, dass sie das ungerechte System akzeptieren (indem sie es verteidigen oder sich damit abfinden), das so schwer auf dem Kolonisierten lastet. Ihre Verachtung kann nur eine Entschädigung sein für ihr Elend, so wie auch der europäische Antisemitismus nur allzu oft eine bequeme Ablenkung ist. Das also ist das Prinzip der Pyramide der kleinen Tyrannen: jeder wird von einem Mächtigeren gesellschaftlich unterdrückt und findet immer einen weniger Mächtigen, auf den er sich stützen und dem gegenüber er selbst Tyrann sein kann. Welche Genugtuung und welcher Stolz für einen kleinen Schreiner, der nicht kolonisiert ist, neben einem arabischen Hilfsarbeiter einherzugehen, der auf dem Kopf eine Bretterdiele und ein paar Nägel trägt! Für alle existiert zumindest jene tiefe Befriedigung, im Schlechten besser dazustehen als der Kolonisierte: sie sind niemals so ganz und gar in jene Erniedrigung verstrickt, in die sie durch die koloniale Tatsache gedrängt werden.

Der Kolonisator und der Kolonisierte

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