Читать книгу Schweizer Tobak - Albert T. Fischer - Страница 12
Wirrwil
ОглавлениеDas Dorf war seit den Zeiten der Reformation und der Glaubenskriege die grösste Gemeinde der Region und beherbergte schon Anfang des 20. Jahrhunderts Dutzende grösserer und kleinerer Fabriken, in denen Zigarren gewickelt wurden. Daneben etablierten sich andere Industrien verschiedenster Branchen, die sich teilweise zu beachtlicher Grösse entwickelten. Auch hier waren die Löhne, besonders in den Anfängen, zwar bescheiden, doch leicht höher als in der Tabakbranche, denn diese Firmen beschäftigten mehrheitlich eine zwar nicht besonders ausgebildete, der schwereren körperlichen Arbeit wegen aber vorwiegend männliche Arbeiterschaft.
Somit lebte der Grossteil der Bevölkerung auch in diesem an sich industriefreundlichen Dorf überwiegend in sehr bescheidenen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen, in denen bis ins 20. Jahrhundert Kinderarbeit zum Alltag gehörte. Letzterer galt die Aufmerksamkeit der Doktorandin Clara Wirth aus Sankt Gallen, deren Dissertation die Kinderarbeit in der gesamten Region zum Thema hatte. Ihr hätte der Name Schmauchtal mit Sicherheit gefallen, doch leider hatte sie die Erfindung der Studenten von Achstadt nicht erlebt.
Nicht zuletzt auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und ihren Kindern war eine sehr einflussreiche, wenn nicht mächtige Kaste von Fabrikanten entstanden, die in prachtvollen Villen residierten, deren Damen sich von Mägden bedienen und von Stallknechten in Chaisen und später von Chauffeuren in Automobilen herumfahren liessen. Trotzdem konnte von feudalen Verhältnissen nicht die Rede sein. Im Gegenteil, der liberale Glaube an den Fortschritt und der weltoffene Geist der reformierten Unternehmer begründeten für ein ganzes Jahrhundert den Weg zu Prosperität nicht nur der Gemeinde, sondern der ganzen Region. Sie förderten den frühen Bau einer Eisenbahn und damit den Anschluss ans Verkehrsnetz des Landes.
Immer wieder war der soziale Frieden gefährdet, waren Streiks und Aussperrungen keine Seltenheit. Doch im Ganzen gesehen veränderte sich die Gesellschaft zum Guten. Selbst die von vielen angefeindete Doktorandin konnte nicht übersehen, dass die Gemeinde noch vor dem Ersten Weltkrieg ein neues grosses Schulhaus mit einer grosszügigen Turnhalle – in jenen Jahren keine Selbstverständlichkeit – gebaut und eine Berufsschule für die meisten handwerklichen Berufe gegründet hatte. Allerdings blieb ihr auch nicht verborgen, dass die Kinder der Kleinverdiener damals kaum die Sekundarschule schafften und die jungen Männer in den meisten Fällen als Hilfsarbeiter und die Frauen bestenfalls als angelernte Zigarrenmacherinnen endeten.
Die Schüler der höheren Klassen waren in aller Regel Söhne und Töchter der Krämer, Handwerker, Fabrikaufseher und Vorarbeiter, der Büroangestellten und selbstverständlich der Fabrikanten. Nur Einzelne dieser mehr oder weniger durch ihre Herkunft privilegierten Gruppe schafften danach den Eintritt in die Mittelschule in Achstadt.
Um die Wende zum 21. Jahrhundert war das graue Vergangenheit. Es gab mit zwei Ausnahmen, nämlich je einer in Wirrwil und Kreuzach, in der gesamten Region keine Zigarrenfabriken mehr. Auch viele der übrigen grösseren Industriebetriebe waren in den letzten Jahrzehnten verkümmert oder eingegangen. In Wirrwil allein gingen Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. An ihre Stelle waren neue, vorwiegend kleine Betriebe für Spezialitäten und Dienstleistungen getreten. Ein Grossteil der arbeitenden Bevölkerung fuhr inzwischen als Pendler jeden Morgen mit der modernisierten schnellen Strassenbahn oder im eigenen Auto zur Arbeit in und um Achstadt oder zu noch weiter entfernteren Stellen.
Erstaunlicherweise hatte die Zahl der Einwohner trotzdem leicht zugenommen. Das Dorf hatte sich zu einer Gemeinde mit guter Infrastruktur, modernen Einkaufsmöglichkeiten, Sportanlagen, Kinos und einem Saal für kulturelle Anlässe gemausert. In den 80er Jahren wurde an der Dorfgrenze zu Kreuzach ein erstaunlich grosszügiges, der gesamten Region offenstehendes Wohnheim für Rentner gebaut.
Dank der Nähe zum Dorf hatte sich an dem Bau ausnahmsweise auch die katholische Gemeinde Kreuzach beteiligt. Das war übrigens nicht die einzige Ausnahme. Auch bei der Wasserversorgung, der gemeinsamen Feuerwehr und bei der Erschliessung von Bauland durch Eindeckung des Kreuzbaches konnte man sich einigen. Letzteres hatte sich vor allem durch den Anschluss des Dorfes an die regionale Abwasserreinigungsanlage aufgedrängt und war ein Projekt, das alle Gemeinden rund um den See einschloss. Nur so wurde es möglich, den See als Ganzes zu sanieren.
Als Nächstes wurde der Bau einer regionalen Schulanlage insbesondere für die höheren Klassen geplant. Eine Beteiligung Kreuzachs war bei der katholischen Bevölkerung sehr umstritten. Reformierte Lehrer waren der Mehrheit im Dorf trotz aller in den letzten hundert Jahren eingeübten Toleranz noch immer suspekt. Nur wenige Einwohner erinnerten an frühere Zeiten, in denen Mama Brand und ihre Söhne noch Einfluss hatten. Niemand hätte damals daran gedacht, sich von diesem grossen Unternehmen fernzuhalten und die Sekundarschüler per Bus ins bedeutend weiter entfernte Pfaffwil zu schicken.