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Zurück zur Schule

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Anfang September besuchte unerwartet Nadine mit ihrem Mann aus Südfrankreich ihren Vater André. Den Grund ihrer Reise sah André ohne weitere Erklärung: Nadine war schwanger. Im Oktober würde er Pépère eines Enkels werden. Sie hatten mit Absicht nichts davon geschrieben und waren über Paris gereist, um auch Miriam damit zu überraschen. Sie blieben nur drei Tage, kaum genug, um etwas Richtiges zu unternehmen.

Vielmehr wollte sie wissen, was er denn hier tue von Tag zu Tag, es müsse doch schrecklich langweilig sein, hier zu leben.

Und wirklich, er tat sich schwer, sein Leben hier nach etwas aussehen zu lassen. Er hatte jetzt im Haus aufgeräumt, den Garten etwas diszipliniert, machte Spaziergänge am See und im Wald und hatte auch schon einige Kontakte geknüpft und Leute kennen gelernt. Erstaunlicherweise war ihm kaum jemand aus seiner Schulzeit begegnet. Das hatte er sich anders vorgestellt, doch allzu neugierig war er nicht, seine ehemaligen Mitschüler zu treffen.

Bei seinem nächsten Besuch auf der Gemeindeverwaltung kam er auf das Thema zu sprechen. In den letzten 40 Jahren habe sich eben doch sehr viel verändert. Das Dorf sei um rund 500 Einwohner gewachsen, aber dies sei nur ein Aspekt, die grössten Veränderungen seien durch Fluktuation entstanden. Es könne durchaus sein, dass nur noch wenige seiner Mitschüler hier lebten. Es gab eine Liste der 60-Jährigen, weil die Gemeinde all diesen Einwohnern zum Geburtstag einen Glückwunschbrief schrieb. Mit 70 und 75 wurden die Glücklichen zu einem kleinen Ausflug mit Mittagessen eingeladen. Natürlich dürfe er diese Liste haben, mehr als im Telefonbuch stehe nicht drin.

Etwas zu jovial schlug ihm der Gemeindeschreiber vor, ein Schiff zu kaufen, segeln zu lernen und dem Club beizutreten. Da lerne er gute Leute kennen, hätte einen wunderbaren Zeitvertreib auf dem See und mit dem richtigen Ausweis dürfe er sogar frische Barsche und Felchen aus dem Wasser fischen. Als halber Franzose sei er doch bestimmt ein guter Koch und Feinschmecker. Dieser Rat imponierte André mehr als er zeigte und er ging immer wieder zum Bootssteg und machte seine Absicht bekannt.

Allen, denen er begegnete, waren freundliche Leute, vielleicht ein bisschen spiessig, auf äusserliche Kleinigkeiten bedacht, blauer Blazer, weisse Hosen, Bügelfalten, weisse Schuhe, Detailpflege am Schiff …

Jedoch benahmen sie sich nicht überheblich oder gar elitär, wie er eigentlich befürchtet hatte. Einige von ihnen mochten Unternehmer, Handwerker, Krämer oder gut verdienende Kaderleute sein. Doch bisher hatte er weder sich affektiert aufspielende noch arrogant brüskierende Schiffseigner getroffen, wie er sie unter Franzosen ab und zu, zugegeben in anderen Gruppen, erlebt hatte.

Man half sich am Steg, sprach über das Wetter, tauschte Witzchen, ihm gefiel die Atmosphäre, auch die Idee, ein Schiff zu haben und dazuzugehören, inzwischen kam er auch mit seinen Mitteln klar, irgendwie würde er es schon schaffen.

Seiner Tochter erzählte er, um zu zeigen, dass er durchaus Pläne hatte und um seine Verlegenheit etwas zu kaschieren, von der Idee. Sie reagierte sehr verblüfft und erinnerte ihn an die Geschichte, die er einst an der Yonne als Mahnung immer wieder erzählt hatte, von dem Mann, der auf diesem kleinen See im Sturm zusammen mit seinem Sohn ums Leben gekommen war. Er hatte nicht mehr daran gedacht oder die Geschichte verdrängt.

Das war im Sommer geschehen, bevor er als Student nach Bern gezogen war. Niemand hatte ein solches Unglück mit einem so grossen Schiff auf diesem kleinen See für möglich gehalten. Als André dazu anhob, die Sache erneut zu erzählen und zu erklären, dass er niemals in diese Wetterfalle geraten würde, bat Nadine darum, das Thema zu wechseln. Sie wollte unbedingt, dass ihre Kinder ihren Großvater erleben dürften und er sich nicht unsinnigen Gefahren aussetzte. Offenbar neigte die Schwangere zur Hysterie, dachte er sich, versprach jedoch, sich die Sache nochmals zu überlegen.

Sie fragte ihn, warum er sich nicht um die hiesige Schule kümmere. Er könnte sich doch als Aushilfe anbieten, stundenweise oder so.

Er hatte Mühe, sich damit anzufreunden. Ihm selbst wäre das nicht eingefallen. Ein Lehrer hier galt früher als Schulmeister, als Pauker, auch in der Sekundarschule. Der Gedanke erinnerte ihn zu stark an seine Kindheit in der genormten Dorfschulbank mit dem klappbaren Pultdeckel.

Andererseits konnte er sich hier nützlich machen, auch so neue Kontakte knüpfen, mit dem kulturellen Leben in der Region in Verbindung kommen. Lehrer sein war doch sein Beruf und so ziemlich das Einzige, das er sich in seiner Situation wirklich zutraute.

Einen, an den er sich bei der Durchsicht seiner Namensliste auf Anhieb erinnerte, war Isidor Locker. Schon seines Namens wegen war er bemerkenswert gewesen. Der Sohn eines Lehrers und ehemalige Musterschüler war jetzt Rektor der Sekundarschule. Vielleicht machte es durchaus Sinn, sich als Aushilfslehrer für Französisch oder Geschichte anzubieten, für ein paar Stunden pro Woche oder gar ein kleines reguläres Pensum. Er ging hin. Isidor war da, im alten Schulhaus, in dem sie beide einst in der Schulbank gesessen hatten.

André war überrascht, da gab es keine Bänke mehr mit Klapppulten. Das Klassenzimmer, in das ihn Isidor führte, war hell und die Wände voller fröhlicher Bilder. Zwar gab es an der Frontwand noch immer eine riesige Tafel, doch davor hing eine aufwindbare Leinwand. Das einstige Lehrerpult war verschwunden. Die Arbeitstische der Schüler mit den modernen Stühlen standen im Halbkreis um den Tisch des Lehrers.

Das Gespräch war erfolgreich. André kam kurz vor den Herbstferien genau zur richtigen Zeit, sagte Isidor.

Auch er war jetzt 60 und etwas schulmüde, aber es falle ihm schwer, aufzuhören. Er wollte gern Leiter der Schule bleiben, doch nicht mehr vor den Klassen stehen. Mindestens bis zum grossen Fest, der Einweihung der neuen regionalen Schulanlage in genau viereinhalb Jahren, kurz vor seiner Pensionierung wollte er dabei bleiben.

Isidor war noch immer ehrgeizig, dachte André, das war er schon immer gewesen, auch damals als Mitschüler in der gleichen Klasse.

Mit Andrés Einstieg machte Isidor den ersten Schritt zu einem reduzierten Pensum. Beinahe alle Lehrer strebten jetzt aus vielen Gründen solche Erleichterungen an. Direkt nach den Herbstferien stand André wöchentlich dreimal vor einer zweiten Klasse der Sekundarschule, einem Knäuel Halbwüchsiger, der sich als Ganzes nicht viel aus Französisch machte. Es gab jede Variante von Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit bis zur offenen Obstruktion. Schon in der zweiten Woche fühlte er sich unfähig, mit diesen Schülern arbeiten zu können. Dabei hatte er sich mit Fleiss vorbereitet, sich über die Lehr- oder Lernziele schlau gemacht, den Stand der Schüler soweit wie möglich auch in anderen Fächern abgeklärt, die verfügbaren Mittel geprüft und einen groben Zeitplan aufgestellt. Diese Schwierigkeiten waren für ihn eine grosse Enttäuschung. 30 Jahre lang hatte er erfolgreich unzähligen beinahe erwachsenen Frauen und Männern, angehenden Ingenieuren und Doktoren, als Nebenfach Deutsch vermittelt und jetzt schien er an diesen Rotznasen zu scheitern!

Nach vier Wochen wollte er aufgeben.

Isidor kannte die Probleme mit diesen und ähnlichen Klassen. Französisch war nicht mehr populär im Gegensatz zu Englisch. Französisch war nicht cool, sondern kompliziert, langweilig. Er redete André zu, nicht aufzugeben, einen Weg zu suchen, um die Schüler abzuholen, sei es durch Methode, Thema oder Spiel. André hatte Mühe mit solchen Spielereien. Nach wie vor galten in Frankreich andere Werte: Disziplin, Leistung, strenge Noten, Sanktionen. Nicht der Lehrer war der Geprüfte, sondern die Schüler. Das wusste er von seinen einstigen Kollegen und auch von den eigenen Kindern. Aber er suchte nach einem Ausweg, vielleicht gab es eine Lösung.

Er erbat sich eine Auszeit von einer Woche, denn inzwischen war er Grossvater, Pépère, geworden. Er nutzte eine Woche im November, um via Paris zu seiner Tochter nach Toulouse zu fahren. Er wollte seinen neugeborenen kleinen Enkel sehen. Zu seinem Erstaunen war auch Miriam da, die Grandmaman. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Für sie war immer alles so einfach, denn sie freute sich offensichtlich nicht nur über den kleinen Jacques, sondern auch über ihn, den Grosspapi. «C’est merveilleux que tu est venue le voir. Ca va lui faire du bien. Et comme il te ressemble.» Sie war einfach umwerfend im Aussteuern von jeder Art von dümmlichem Hader, ohne dabei ihre Haltung oder Entscheidung in Frage zu stellen. Als sie ihn fragte, was er denn so mache, erzählte er ihr von seiner ungezügelten Klasse.

«Sag doch den Biestern einfach, dass nicht du auf sie, sondern sie auf dich angewiesen sind. Du kannst jederzeit gehen, sie nicht. Wenn sie das begriffen haben, werden sie sich besinnen.»

Auf der Heimfahrt zurück in die kleine Welt von Schmauchtal hatte er genügend Zeit, um über ihren Rat, seine Arbeit und die Schulklasse nachzudenken.

In der Lektion am folgenden Montag sagte er seinen Schülern, sie bräuchten vorläufig ihre Unterlagen und Hefte nicht auszupacken. Er eröffnete ihnen seine Erwägung, die Klasse aufzugeben. Doch zuvor wolle er ihnen erzählen, wie er nach Frankreich gekommen war, dort Lehrer wurde, was er dabei erlebt hatte und wie schwierig es gewesen sei, eine Sprache zu vermitteln, die die Älteren in Frankreich hassten und verachteten, weil sie von einem Feind kam, dem in den grossen Kriegen Hunderttausende zum Opfer gefallen waren. Er sprach darüber, wie er sich über diese jungen Menschen gefreut hatte, die bereit gewesen waren, alle Vorurteile über Bord zu werfen und zu erleben, was die fremde Sprache in sich hatte. Wie sie in kleinen Schritten erfuhren, wie vieles in einer anderen Sprache einen anderen oder neuen Wert und oft grossen Reiz erhielt und wie sich aus diesen Entdeckungen eine Freundschaft zu dieser fremden Sprache und die dahinter stehende Kultur und Welt entwickeln konnte.

Er beendete seine Erinnerungen mit dem Appell: «30 Jahre habe ich dort gelehrt und Respekt erfahren. Ich habe nicht die Absicht, jetzt meine Zeit mit einer Klasse zu vergeuden, die bei minimaler Leistung und mieser Aufführung nur darauf wartet, das Zimmer so schnell wie möglich verlassen zu können. Ich komme hierher, um mit euch zu arbeiten, und ihr solltet herkommen, um euren Teil beizutragen. Ich erwarte von euch Aufmerksamkeit und Leistung. Andernfalls trennen wir uns. Ihr werdet aus eurer Pflicht nicht befreit sein, ich aber schon. Jetzt könnt ihr zehn Minuten darüber nachdenken. Wer nicht mit mir weiterarbeiten will, soll in diesen zehn Minuten das Zimmer verlassen.»

André spürte, wie sich in der Klasse eine Art von Ratlosigkeit verbreitete. Er wusste, dass sich das Spiel auf beide Seiten wenden konnte, aber er würde die Konsequenzen ziehen, selbst auf die Gefahr hin, mit der Schulleitung oder der Schulpflege in Schwierigkeiten zu geraten.

Niemand verliess das Zimmer.

Damit war nicht alles gelöst, es gab weiterhin Störenfriede und Faulenzer, aber die Klasse entwickelte und organisierte sich jetzt zu ihrem und seinem Vorteil. Querulanten wurden durch die Mitschüler nicht mehr nachgeäfft oder gar bewundert, sondern angefeindet. Allerdings hatte sich auch André in die Zange genommen und den vorgeschriebenen Stoff etwas lockerer ausgelegt. Er begann, in leichter Sprache aus Frankreichs Alltag, Geschichte und von seinen Schönheiten zu erzählen, und er startete nicht mit Victor Hugo und Nôtre-Dame, sondern mit Disney-World. Das erlebten die Kinder als «cool», ein Wort, das ihn ärgerte, aber von dem er wusste, dass es auch die Kinder der Franzosen erreicht hatte. Der Wandel in der Klasse war unübersehbar und Isidor mindestens so glücklich wie André. Er bot ihm an, im nächsten Jahr ein weiteres Pensum zu übernehmen. Das wollte sich André überlegen.

In der Zwischenzeit war eine Schule für Erwachsenenbildung auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn eingeladen, in der Stadt die Führung von Abendkursen für Französisch zu übernehmen. Er wollte jedoch keinesfalls mit Anfängergruppen arbeiten, das machte er zur Bedingung. Noch vor Weihnachten reiste er zweimal pro Woche nach Achstadt. Das war zwar ein grosser Aufwand und er investierte viel Zeit in die Vorarbeit der Stunden, doch die Leute in den Gruppen waren erwachsen, sie wollten lernen und waren darüber hinaus in ihrer Mehrzahl vielseitig interessiert. Zudem lernte er eine Menge Leute aus vielen Schichten und Berufen, in der Mehrzahl Frauen, kennen.

Trotz vieler Nachteile behielt er die Pensa an der Sekundarschule. Es gelang ihm immer besser, mit diesen teilweise noch kindlichen und zugleich pubertierenden Jugendlichen umzugehen. Es gab durchaus Zugänge, etwa die Texte französischer Schlager oder die enorme Vielfalt und Bedeutung der «Bandes Dessinés» bei der französischen Jugend. Die Schüler waren verblüfft, sie hatten von dieser geradezu dominierenden Rolle französischer Bildgeschichten noch nie etwas gehört. Zwar kannten beinahe alle die Geschichten von Asterix und Obelix, doch das war›s auch schon gewesen. Einzelne Schüler begannen die Stunden mit André geradezu zu lieben.

Schweizer Tobak

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