Читать книгу Anonyme Alkoholiker (Das Blaue Buch) - Alcoholics Anonymous World Services Inc. - Страница 10
AUS DER SICHT DES ARZTES
ОглавлениеWir Anonymen Alkoholiker glauben, dass der Leser interessiert sein wird zu erfahren, wie die Medizin den Genesungsplan einschätzt, der in diesem Buch dargestellt wird. Ganz gewiss muss eine überzeugende Beurteilung vonseiten jener Ärzte kommen, die ihre Erfahrung mit den Leiden unserer Mitglieder gemacht und deren Rückkehr zu einem gesunden Leben beobachtet haben. Ein wohlbekannter Arzt, Direktor an einem in Amerika weithin bekannten Krankenhaus, das sich auf Alkohol- und Rauschgiftsüchtige spezialisiert, richtete an die Anonymen Alkoholiker den folgenden Brief:
„An jeden, den es betrifft:
Seit vielen Jahren habe ich mich auf die Behandlung des Alkoholismus spezialisiert.
Gegen Ende 1934 behandelte ich einen Patienten, der zwar einst ein erfolgreicher Geschäftsmann mit hoher Erwerbskraft gewesen, aber den ich als hoffnungslos zu betrachten pflegte.
Im Verlauf seiner dritten Behandlung machte er sich gewisse Vorstellungen davon, durch welche Mittel man möglicherweise zur Genesung gelangen könnte. Es war ein Teil seiner eigenen Wiederherstellung, dass er damit begann, seine Auffassung anderen Alkoholikern mitzuteilen und ihnen einprägte, sie müssten dies genauso wieder mit anderen machen. Daraus ist das Fundament einer rapide wachsenden Gemeinschaft zwischen diesen Männern und ihren Familien geworden. Es sieht so aus, als ob dieser Mann und mehr als hundert andere wirklich genesen sind.
Ich persönlich weiß um eine große Zahl von Fällen dieser Art, bei der andere Methoden völlig versagt hatten.
Diese Tatsachen scheinen mir für die Medizin äußerst wichtig zu sein. Wegen der außerordentlichen Möglichkeiten zu einem raschen Wachsen, die in dieser Gruppe liegen, könnte sie eine neue Epoche in den Annalen des Alkoholismus bedeuten. Es könnte sehr wohl sein, dass diese Leute einen Weg zur Genesung für Tausende besitzen, die sich in der gleichen Situation befinden.
Man kann sich absolut auf all das verlassen, was sie über sich selbst aussagen.“
Ihr ergebener
William D. Silkworth, M. D.
Der Arzt, der uns auf unsere Bitten diesen Brief gab, hatte die Freundlichkeit, seine Absichten in einem anderen Dokument weiter auszuführen, das hier folgt. Er bestätigte in dieser Darstellung, dass wir, die unter den Qualen des Alkoholismus gelitten haben, davon überzeugt sein müssen, dass die körperliche Verfassung des Alkoholikers genauso anomal ist wie seine geistige. Wir waren damit nicht zufrieden, dass man uns sagte, wir könnten deshalb unser Trinken nicht beherrschen, weil wir uns nicht richtig an unsere Lebensverhältnisse anpassen könnten, dass wir immer auf der Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens seien oder dass wir an ausgesprochenen seelischen Defekten litten. Diese Dinge waren bis zu einem gewissen Grad – tatsächlich sogar bis zu einem beträchtlichen Grad – bei manchen von uns wahr. Wir waren aber auch davon überzeugt, dass unser Körper von der Krankheit gleichfalls betroffen war. Nach unserer Überzeugung ist jede Darstellung des Alkoholikers, die diesen körperlichen Aspekt außer Acht lässt, unvollständig.
Die Theorie des Arztes, dass wir an einer Allergie gegenüber dem Alkohol leiden, interessiert uns. Da wir Laien sind, mag unsere Auffassung von der Richtigkeit dieser Theorie natürlich wenig Bedeutung haben. Als ehemalige Problemtrinker können wir aber sagen, dass diese Erklärung uns sinnvoll erscheint. Sie gibt uns für viele Dinge eine Deutung, für die wir anders keine Begründung finden könnten.
Obwohl unsere Lösung auf der Ebene des Spirituellen und der Uneigennützigkeit liegt, sind wir doch dafür, dass der Alkoholiker, der noch zittrig und verwirrt ist, in ein Krankenhaus aufgenommen wird. In den allermeisten Fällen ist es notwendig, dass das Gehirn eines Menschen erst wieder klar gemacht wird, bevor man sich ihm nähern kann. Die Aussichten, dass er versteht und annimmt, was wir ihm anbieten, sind dann viel größer.
Der Arzt schreibt:
Das Thema, das in diesem Buch dargestellt wird, scheint mir für die, welche unter der Alkoholsucht leiden, von allerhöchster Bedeutung zu sein.
Ich sage das nach einer vieljährigen Erfahrung als medizinischer Direktor eines der ältesten Krankenhäuser des Landes, das Alkohol- und Drogenabhängigkeit behandelt.
Ich empfand darum eine wirkliche Genugtuung, als ich gebeten wurde, einige Worte über einen Gegenstand beizufügen, der in so meisterhafter und eingehender Weise auf diesen Seiten behandelt wird.
Wir Ärzte haben schon seit langer Zeit erkannt, dass eine Art Moralpsychologie für die Alkoholiker von drängender Wichtigkeit war. Diese Anwendung brachte aber Schwierigkeiten mit sich, die zu überwinden weit über unser Vermögen ging. Mit unseren ultramodernen Ausrüstungen und unserer wissenschaftlichen Einstellung allem gegenüber sind wir vielleicht nicht gut genug ausgerüstet, die Mächte des Guten anzuwenden, die außerhalb erlernter Erkenntnisse liegen.
Vor vielen Jahren kam einer der maßgeblichen Mitverfasser dieses Buches in dieses Krankenhaus und in unsere Behandlung. Während der Zeit, da er hier war, gewann er einige Auffassungen, die er dann sofort praktisch zur Anwendung brachte.
Später bat er dann um die Erlaubnis, dass er hier anderen Patienten seine Geschichte erzählen durfte. Trotz einiger Bedenken haben wir unsere Zustimmung dazu gegeben. Die Fälle, die wir dann weiterverfolgt haben, waren außerordentlich interessant. Viele von ihnen waren tatsächlich erstaunlich. Für jemand, der so lang und mühsam auf dem Gebiet des Alkoholismus gearbeitet hat, sind dies wahrhaft begeisternde Dinge: die Selbstlosigkeit dieser Männer, die wir dabei beobachten konnten, das völlige Fehlen eines eigennützigen Beweggrundes und ihr Gemeinschaftsgeist. Sie glauben an ihre Sache, mehr aber noch an jene Macht, die einen chronischen Alkoholiker von den Pforten des Todes zurückreißen kann.
Natürlich muss man einen Alkoholiker zuerst von seiner körperlichen Sucht nach dem berauschenden Getränk befreien. Das erfordert oft eine systematische Krankenhausbehandlung, ehe er von psychologischen Maßnahmen den größtmöglichen Nutzen haben kann.
Wir glauben – und wir haben dies auch vor einigen Jahren als eine Vermutung vorgetragen –, dass die Wirkung des Alkohols bei diesen chronischen Alkoholikern eine Allergie auslöst; denn die Erscheinungsform des süchtigen Verlangens ist auf diese Gruppe begrenzt und kommt beim durchschnittlichen, maßvollen Trinker nie vor. Diese allergischen Typen können niemals mehr Alkohol in irgendeiner Form ohne Gefahr zu sich nehmen. Wenn sich die Gewohnheit bei ihnen erst einmal herausgebildet hat und wenn offenbar geworden ist, dass sie nicht aufhören können, wenn sie ihr Vertrauen zu sich und den Mitmenschen verloren haben, dann häufen sich die Probleme und werden in erschreckendem Maße immer unlösbarer.
Wortreiche, aber inhaltsarme Appelle richten da selten etwas aus. Die Botschaft, die das Interesse dieser Alkoholiker wecken und wachhalten soll, muss Tiefe und Gewicht haben. Wenn sie ihr Leben erneuern wollen, müssen ihre Ideale in fast jedem Fall auf eine Macht gegründet sein, die größer ist als sie selbst.
Sollte jemand das Gefühl haben, dass wir Psychiater, die ein Krankenhaus für Alkoholiker zu leiten haben, mit einer solchen Äußerung sentimental erscheinen, dann möge er einmal eine Zeit lang mit uns vorn an der Front stehen, sich die Tragödien, die verzweifelten Frauen und die kleinen Kinder anschauen. Die Überwindung dieser Nöte sollte für ihn zum Teil seiner täglichen Arbeit werden und ihm auch in der Nacht noch seinen Schlaf rauben. Dann wird sich auch der zynischste Kritiker nicht mehr darüber wundern, dass wir diese Gemeinschaft angenommen und ermutigt haben. Langjährige Erfahrung bestärkt uns in der Ansicht, dass nichts zur Rehabilitation dieser Männer in höherem Maße beigetragen hat als die selbstlose Bewegung, die jetzt unter ihnen selbst im Wachsen begriffen ist.
Die Wirkung, die der Alkohol hervorruft, ist für Männer und Frauen der wesentliche Grund zum Trinken. Obwohl sie zugeben, dass sie sich schaden, ist die vom Alkohol beeinflusste Wahrnehmung so vage, dass nach einer gewissen Zeit Wahres von Falschem nicht mehr unterschieden werden kann. Für diese Männer und Frauen erscheint dann ihr alkoholisches Leben allein als das normale. Sie sind ruhelos, reizbar, unzufrieden, bis sie erneut das Gefühl von Erleichterung und Behaglichkeit bekommen, das sofort nach einigen Gläsern Alkohol über sie kommt – Alkohol, den sie andere Menschen völlig ungestraft zu sich nehmen sehen. Nachdem sie aber wieder, wie so viele, ihrer Gier erlegen sind – und sich die Erscheinungsform des süchtigen Verlangens abzeichnet –, gehen sie durch die bekannten Stadien einer Sauftour hindurch, aus der sie dann voller Reue wieder auftauchen mit dem festen Entschluss, nie wieder zu trinken. Das wiederholt sich nun immer und immer wieder. Und wenn ein solcher Mensch dann nicht die Erfahrung einer völligen psychischen Veränderung machen kann, besteht sehr wenig Hoffnung darauf, dass er zur Genesung kommt.
Andererseits findet sich genau derselbe Mensch, der völlig verloren zu sein schien und der so viele Probleme hatte, dass er daran verzweifelte, nach einer solchen psychischen Veränderung plötzlich ganz leicht dazu imstande, sein Verlangen nach Alkohol zu beherrschen. Dieser Vorgang wird denen seltsam erscheinen, die ihn nicht verstehen, aber die einzig erforderliche Anstrengung besteht darin, dass dieser Mensch einige einfache Regeln befolgt.
Männer haben mich mit ebenso ehrlichem wie verzweifeltem Flehen bedrängt: ‚Doktor, ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich besitze alles, was das Leben wertvoll macht. Ich muss mit dem Trinken aufhören, aber ich bringe es nicht fertig. Sie müssen mir helfen‘.
Wenn ein Arzt diesem Problem gegenübersteht und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich ist, wie sehr muss er da so oft seine eigene Unzulänglichkeit fühlen. Und wenn er auch alles hergibt, was er in sich hat, so ist es doch oft nicht genug. Da merkt man, dass man etwas mehr als nur die menschliche Kraft braucht, um die entscheidende psychische Veränderung zustande zu bringen. Obwohl die Gesamtsumme der Genesungen, die durch psychiatrisches Bemühen bewirkt wird, beträchtlich ist, müssen wir Ärzte doch zugeben, dass wir auf das Problem als Ganzes doch nur einen geringen Einfluss ausgeübt haben. Viele Typen von Alkoholikern sprechen auf die übliche psychologische Methode nicht an.
Ich stehe nicht auf der Seite derer, die glauben, dass der Alkoholismus ganz und gar ein Problem der verstandesmäßigen Kontrolle ist. Ich habe viele Patienten gehabt, die zum Beispiel eine ganze Reihe von Monaten an der Lösung eines bestimmten Problems oder an einem geschäftlichen Unternehmen gearbeitet hatten, das bis zu einem gewissen, ihnen günstigem Datum in Ordnung gebracht werden musste. Sie tranken etwa einen Tag vor diesem Datum ein Glas – und ihr süchtiges Verlangen trat wieder so sehr in den Vordergrund und verdrängte alle anderen Interessen, dass sie die wichtige Verabredung nicht einhalten konnten. Diese Leute tranken wirklich nicht, um zu fliehen; sie tranken, um die Gier zu überwinden, die sie mit ihrer verstandesmäßigen Kontrolle nicht beherrschen konnten.
Das süchtige Verlangen bringt Menschen in Situationen, in denen sie bereit sind, eher alles zu opfern, als weiter zu kämpfen.
Die Einteilung der Alkoholiker in bestimmte Klassen scheint höchst schwierig zu sein und liegt im Einzelnen auch außerhalb der Absicht dieses Buches. Unter Alkoholikern gibt es natürlich die Psychopathen, die in ihrem Gefühlsleben labil sind. Dieser Typ ist uns allen bekannt. Sie schwören ständig dem Alkohol auf ewig ab und quälen sich mit Schuldgefühlen. Sie fassen viele Entschließungen, sie treffen aber nie eine Entscheidung.
Dann gibt es den Typ des Menschen, der einfach nicht zugeben will, dass er kein Glas vertragen kann. Er plant immer neue Trinkmethoden. Er verändert seine Alkoholsorte oder seine Umgebung. Dann gibt es den Typ, der immer noch meint, er könne ohne Gefahr wieder trinken, nachdem er eine gewisse Zeit völlig frei vom Alkohol gewesen war. Und es gibt den manisch depressiven Typ, der von seinen Freunden vielleicht am wenigsten verstanden wird und über den ein ganzes Kapitel geschrieben werden könnte.
Und dann gibt es wieder jene Typen, die eigentlich in jeder Beziehung normal sind, wenn man von der Wirkung absieht, die der Alkohol auf sie ausübt. Oft sind sie fähige, intelligente und liebenswürdige Menschen.
Sie alle – und noch viele andere – haben ein einziges Symptom miteinander gemeinsam: Sie können nicht anfangen zu trinken, ohne dass sie die Erscheinungsform des süchtigen Verlangens entwickeln. Wir haben die Vermutung ausgesprochen, dass diese Erscheinung auf eine Allergie hinweist, welche diese Leute von den anderen Menschen unterscheidet und sie zu einer gesonderten Gruppe macht. Noch nie ist diese Veranlagung durch irgendeine Behandlungsart, die mir bekannt geworden ist, auf die Dauer beseitigt worden. Als die einzige Abhilfe können wir nur zur vollkommenen Enthaltung vom Alkohol raten.
Aber diese Feststellung stürzt uns sofort in einen brodelnden Kessel der Diskussionen. Viel ist für und wider geschrieben worden. Unter den Ärzten scheint sich jedoch als die allgemeine Meinung durchgesetzt zu haben, dass der chronische Alkoholismus unheilbar ist.
Wo aber gibt es eine Lösung? Vielleicht kann ich diese Frage am besten beantworten, indem ich über eine meiner Erfahrungen berichte.
Etwa ein Jahr, bevor ich diese Erfahrung machte, wurde uns ein Mann eingeliefert, den wir wegen seines chronischen Alkoholismus behandeln sollten. Er hatte sich nur teilweise von einem Magenbluten erholt und schien überdies ein Fall von pathologischem, geistigen Zerfall zu sein. Er hatte alles verloren, was das Leben lebenswert macht – und er lebte sozusagen nur noch, um zu trinken. Er gab das freimütig zu und glaubte auch selbst, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Nachdem man ihm den Alkohol entzogen hatte, fand man, dass keine dauernde Schädigung des Gehirns vorlag. Er nahm den Lebensplan auf sich, der in diesem Buch dargestellt wird. Ein Jahr später rief er mich an und kündigte seinen Besuch an. Und da hatte ich ein ganz eigenartiges Erlebnis. Ich erinnerte mich an den Namen des Mannes und erkannte auch einigermaßen seine Gesichtszüge wieder. Aber damit hörte auch alle Ähnlichkeit auf. Aus jenem zitternden, verzweifelten, nervösen Wrack war ein neuer Mensch geworden, der nur so überströmte von Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Ich sprach eine Zeit lang mit ihm. Ich konnte aber einfach in mir das Gefühl nicht mehr wachrufen, dass ich ihn früher gekannt hatte. Für mich war er ein Fremder – und als ein solcher verließ er mich auch. Eine lange Zeit ohne Alkohol lag zwischen unseren Begegnungen.
Wenn ich eine geistige Aufmunterung brauche, dann denke ich oft an einen anderen Fall, der uns von einem in New York sehr bekannten Arzt überwiesen worden war. Der Patient hatte sich seine eigene Diagnose gestellt. Weil er von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage überzeugt war, hatte er sich in einem verlassenen Schuppen versteckt und war entschlossen, dort zu sterben. Einige Leute, die nach ihm fahndeten, hatten ihn gerettet und in einem entsetzlichen Zustand zu mir gebracht. Nachdem er körperlich wieder hergestellt war, hatte er ein Gespräch mit mir, in dem er freiheraus sagte, jede Behandlung sei nur eine Kraftvergeudung, wenn ich ihm nicht die Versicherung geben könne – was noch nie jemand habe tun können –, dass er in Zukunft die Willenskraft besitzen werde, seinem Drang zum Trinken zu widerstehen.
Sein Alkoholproblem war so vielschichtig und seine Depression war so tief, dass wir fühlten, seine einzige Hoffnung läge nur noch in dem, was wir damals eine ‚moralische Psychologie‘ nannten; wir zweifelten aber daran, dass selbst dies eine Wirkung auf ihn ausüben würde.
Immerhin ließ er sich völlig von den Gedanken überzeugen, die in diesem Buch enthalten sind. Seit einer langen Reihe von Jahren hat er kein einziges Glas mehr getrunken. Dann und wann sehe ich ihn; er ist ein Mensch von so feiner Art geworden, wie man sie immer gern sehen möchte.
So rate ich jedem Alkoholiker ernstlich, dieses Buch durchzulesen. Er mag als Spötter mit dem Lesen anfangen, vielleicht endet er mit einem Gebet.“
William D. Silkworth, M. D